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Anke Hassel, Christof Schiller: Der Fall Hartz IV

Rezensiert von Dipl. Politologe Christian Schröder, 26.09.2011

Cover Anke Hassel, Christof Schiller: Der Fall Hartz IV ISBN 978-3-593-39336-0

Anke Hassel, Christof Schiller: Der Fall Hartz IV. Wie es zur Agenda 2010 kam und wie es weitergeht. Campus Verlag (Frankfurt) 2010. 348 Seiten. ISBN 978-3-593-39336-0. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 41,90 sFr.

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Autorin und Autor

Anke Hassel ist Professorin für Public Policy an der Hertie School of Governance in Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Arbeits- und Industriebeziehungen sowie Arbeitsmarktpolitik. 2003/2004 absolvierte sie einen Forschungs- und Arbeitsaufenthalt in der Leitungs- und Planungsabteilung des damaligen Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit (BMWA) und erlebte die Konzeption und Durchsetzung der Reform nach eigenen Angaben aus nächster Nähe. Christof Schiller ist Politik- und Verwaltungswissenschaftler und arbeitet an der Hertie School of Governance zu Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sowie Verwaltungs- und Föderalismusforschung.

Thematischer Hintergrund

Auch fünf Jahre nach Einführung von Hartz IV wird um die Deutungshoheit über die Arbeitsmarkteffekte und sozialen Auswirkungen der größten Arbeitsmarkt- und Sozialreform seit Bestehen der Bundesrepublik gerungen. Während BefürworterInnen meinen, die Hartz-Reformen hätten „Verkrustungen“ am deutschen Arbeitsmarkt aufgebrochen und eine Trendwende bei der Arbeitslosigkeit eingeleitet, verweisen KritikerInnen auf die Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit sowie zunehmende Prekarisierung und Armut durch die massive Ausweitung des Niedriglohnsektors. Das vorliegende Buch will einen Beitrag zur Bewertung von Hartz IV liefern. Die AutorInnen positionieren sich zu Beginn auf Seiten der ReformbefürworterInnen. Die Hartz-Gesetze seien „deutlich besser als ihr Ruf“ (15).

Aufbau und Inhalt

Mit ihrer Studie wollen Anke Hassel und Christof Schiller die „Ursprünge der Hartz-IV-Reform“ (21) verfolgen und eine „lückenlose Analyse des Prozesses und der Faktoren, die zur Hartz-IV-Reform geführt haben“ (20) vorlegen (Kapitel 1). Ihre Recherche basiert auf rund 50 Interviews mit „Schlüsselakteuren der deutschen Politik“ (21) in Ministerien, Verbänden, Wissenschaft, Politik und Parlament. Sie identifizieren „drei zentrale Triebkräfte des Reformprozesses“ (19): erstens eine veränderte sozioökonomische Basis der Sozialpolitik, verursacht durch den Schock der deutschen Einheit, Deindustrialisierung, Globalisierung; zweitens eine neue Dynamik im Parteienwettbewerb und drittens die akute Finanzkrise der Kommunen und der Haushalte der Sozialversicherungen.

Im zweiten Kapitel „Hartz IV: Eine Bestandsaufnahme“ ziehen die AutorInnen eine knappe Zwischenbilanz fünf Jahren Hartz IV. Dabei vergleichen sie Hartz IV mit Arbeitsmarkt- und Sozialhilfereformen in anderen europäischen Ländern wie Norwegen, den Niederlanden und Großbritannien. In ihrer Bewertung einiger Argumente von ReformkritikerInnen (Entwicklung der Arbeitslosigkeit, Armutseffekte) weisen sie diese als „empirisch nicht nachweisbar“ (43) ab. SozialhilfebezieherInnen hätten seit Hartz IV einen erweiterten Zugang zur neuen Grundsicherungsleistung und „zu den gleichen aktiven arbeitsmarktpolitischen Instrumenten der Arbeitsämter wie Arbeitslosengeldbezieher“ (45). Zugleich weisen sie auf den rapide ausgeweiteten Niedriglohnsektor als „Kehrseite der gestiegenen Dynamik am Arbeitsmarkt“ (39) hin.

Im dritten Kapitel „Das Ende der Vollbeschäftigung“ skizzieren die AutorInnen das institutionelle Arrangement, wie es seit den 1970er Jahren dominiert habe. Frühverrentung und aktive Arbeitsmarktpolitik hätten zu eine „arbeitsmarktpolitischen Stilllegung“ geführt. Diese „Wohlfahrt ohne Arbeit“ (Gøsta Esping-Andersen) sei die tradierte Antwort des deutschen „konservativen“ Wohlfahrtstaats auf den rapiden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wandel gewesen. Es habe sich auf einen breiten Konsens unter PolitikerInnen und Sozialpartnern stützen können, da ArbeiterInnen, Gewerkschaften und ArbeitgeberInnen gleichermaßen davon profitiert hätten. Diese Politik habe allerdings negative finanzielle Folgeeffekte für die Kommunen gehabt.

Den Beginn der Reformdebatte (Kapitel 4) machen Anke Hassel und Christof Schiller in den 1990er Jahren aus, als die „Stilllegungspolitik“ durch die arbeitsmarkt- und finanzpolitische Folgen der Einigung und Löcher in den Haushaltskassen an ihre Grenzen gestoßen sei. Der breite sozialpolitische Konsens sei aufgebrochen und Reformforderungen seien lauter geworden.

Im fünften Kapitel (Die Transformation der Deutschland AG) analysieren die AutorInnen die Interessen von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften in der Arbeitsmarkt- und Sozialhilfepolitik. Sie zeigen das Aufbrechen von internen Konflikten im Arbeitgeber- und Gewerkschaftslager und das Aufkündigen des sozialpolitischen Konsenses.

Die Ausdifferenzierung des deutschen Parteiensystems durch die Wahlerfolge von Grünen und PDS in den 1980er und 1990er Jahren sowie die Krise der Sozialdemokratie hätten, so Hassel und Schiller, zu einem Umbruch im Parteiensystem (Kapitel 6) geführt. Infolge hätten die „Modernisierer“ innerhalb der SPD zunehmend an Macht und Einfluss gewonnen. Dieser Flügel wollte die SPD im Sinne des „Dritten Weges“ umbauen und positionierte sich zunehmend weiter in der „gesellschaftlichen Mitte“ positioniert habe. Schließlich avancierte die SPD zum parteipolitischen Träger der Hartz-Reformen.

Herzstück der Studie ist das siebte Kapitel zum deutschen Fiskalföderalismus. Hier versuchen die AutorInnen ihre These zu belegen, dass die Wurzeln der Hartz-IV-Reform in der „Haushaltskrise der westdeutschen Städte und Kommunen“ (172) lägen, die in den 1980er Jahren, insbesondere im sozialdemokratischen Stammland Nordrhein-Westfalen, begonnen hätte. Die Kommunen hätten finanziell zunehmend unter den stetig wachsenden Kosten für die Sozialhilfe gelitten. Der Bundesgesetzgeber verschärfte diese Situation, indem er einerseits die Kosten der Arbeitslosigkeit zunehmend in die Kommunen verlagerte - etwa durch die zahlreiche Einschnitte bei der zentralstaatlich finanzierten Arbeitslosenhilfe -, und andererseits durch Steuerreformen die Einnahmeseite der Kommunen beschnitt.

Die AutorInnen zeichnen ausführlich die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte von Hartz IV im Detail (Kapitel 8) nach - von den ersten Reformvorschlägen über die Konzeption der Reform (Kapitel 9) bis hin zur parlamentarischen Entscheidung (Kapitel 10). Sie charakterisieren Hartz IV als eine „typisch deutsche Reform“ (293), weil im deutschen Fiskalföderalismus „eine fachpolitisch motivierte Reformagenda durch finanzpolitische Sonderinteressen im Zusammenspiel von Bund und Ländern nicht nur maßgeblich verformt, sondern auch erheblich verteuert wurde“ (304).

Abschließend geben Anke Hassel und Christof Schiller einen Ausblick auf die deutsche Arbeitsmarktpolitik, skizzieren Reformbedarf und geben Politikempfehlungen. Dabei plädierten sie für die Senkung der Abgabenlast im Niedriglohnsektor sowie für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und geben der Politik Sparvorschläge wie etwa die Pauschalierung der Wohnkosten und Regelsätze sowie die Abschaffung des Elterngeldes für Hartz-IV-BezieherInnen.

Diskussion

Die AutorInnen geben einen guten Überblick über die arbeitsmarkt- und sozialhilfepolitische Debatte in Politik und Verwaltung seit den 1990er Jahren. Sie zeichnen detailliert die einzelnen Stationen im Vorfeld und im politischen Aushandlungsprozess von Hartz IV nach. Die Studie dokumentiert, wie das Gesetz einen arbeitsmarktpolitischen Leitbildwechsel abschloss, der viel früher eingeleitet worden war. Sehr anschaulich wird, wie lange die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf der Wunschliste von Sozial- und FinanzpolitikerInnen, VerwaltungsbeamtInnen und vermeintlichen ReformerInnen stand. Dabei wird auch die politische „Salamitaktik“ von Leistungskürzungen und Pauschalierung im Vorfeld von Hartz IV deutlich.

Ihre einleitende Auseinandersetzung mit einigen Argumenten der ReformkritikerInnen bleibt oberflächlich und kann nicht überzeugen. Zugleich setzen die AutorInnen die politische Mythenbildung fort, dass durch Hartz IV das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium für Sozialhilfeberechtigte geöffnet worden sei. Dieses zentrale politische Reformversprechen wurde jedoch nie verwirklicht. Mit der Aufsplitterung der Arbeitsmarktpolitik auf zwei Rechtskreise und der Ökonomisierung der Arbeitsverwaltung haben sich frühzeitig ein Zwei-Klassen-System und ein spezifisches Muster der Arbeitsförderung herausgebildet: Arbeitslose im SGB II werden seltener qualifiziert sowie weitergebildet und erhalten seltener Lohnkostenzuschüsse als Arbeitslose im SGB III.

Fazit

Anke Hassel und Christof Schiller analysieren den politischen Entscheidungsprozess zu Hartz IV aus einer Elitenperspektive. Doch Hartz IV als politisches Projekt ist auf eine breite Ablehnung in der Bevölkerung gestoßen, hat massive Proteste von Arbeitslosen, Sozialinitiativen und Gewerkschaften hervorgerufen und die parteipolitische Landschaft in Deutschland noch einmal nachhaltig verändert. Aus der Perspektive der Autoren auf die Entscheidungszirkel wird aber der Konflikt auf einen zwischen gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Eliten verkürzt und auf finanzpolitische Interessen im politischen Aushandlungsprozess verengt.

Rezension von
Dipl. Politologe Christian Schröder
Evangelische Sozialberatung Bottrop (ESB)
Website

Es gibt 17 Rezensionen von Christian Schröder.

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Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 26.09.2011 zu: Anke Hassel, Christof Schiller: Der Fall Hartz IV. Wie es zur Agenda 2010 kam und wie es weitergeht. Campus Verlag (Frankfurt) 2010. ISBN 978-3-593-39336-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10372.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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