Stephan Marks: Die Würde des Menschen oder Der blinde Fleck [...]
Rezensiert von Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller, 18.03.2011
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Stephan Marks: Die Würde des Menschen oder Der blinde Fleck in unserer Gesellschaft. Gütersloher Verlagshaus Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH (Gütersloh) 2010. 240 Seiten. ISBN 978-3-579-06755-1. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 34,90 sFr.
Thema
Nach den entsetzlichen Erfahrungen des 2. Weltkriegs hatte die neu gegründete UNO im Dezember 1948 eine Deklaration verabschiedet, in der die Menschenrechte als Konkretisierung des Prinzips der menschlichen Würde dargestellt werden. Das kurz darauf (im Mai 1949) verkündete Grundgesetz der BRD – und eine Reihe anderer Verfassungen bis zum heutigen Tag – ist dieser Konstruktion gefolgt. Es liegt ein großer, wenn auch immer wieder bedrohter Fortschritt darin, dass es eine solche gemeinsame Erklärung gibt. Die Bedrohung liegt nicht zuletzt darin, dass die soziale Wirklichkeit Begriffe wie Würde, Freiheit und Gleichheit unausgesetzt dementiert und eine zynische und ablehnende Haltung ihnen gegenüber fördert. Diese Einsicht kann als Leitmotiv der zu besprechenden Untersuchung gelten: „Solange Würde jedoch mit den Alltagserfahrungen der Bürger wenig verbunden ist, solange wird ein großer Teil ihrer Wirkkraft verschenkt.“(19)
Autor und Absicht
Stephan Marks, u.a. Sprecher des Freiburger Instituts für Menschenrechtspädagogik, erinnert in seiner Einleitung an die Amokläufe deutscher Schüler in den letzten 12 Jahren. Sie gelten als Symptome dafür, dass Schule oft genug ein „Ort der Entwürdigung“ ist, an dem eine Kultur der Verachtung herrscht. Auch im Arbeitsleben sind viele menschlichen Beziehungen „durch Verletzungen der Würde vergiftet.“ (18) Die Absicht des Buches (die natürlich auch im Titel hätte zum Ausdruck kommen können) besteht darin, „den Würdebegriff aus Sicht der Psychologie, vor allem aus Sicht der Scham-Psychologie, mit Leben zu füllen.“ (30)
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich in 6 Kapitel. Kapitel 1 und 2 bilden den ersten Teil („Der blinde Fleck in unserer Gesellschaft“), 4-6 den zweiten („Wege zur Menschenwürde“)
Das erste Kapitel umreißt die Aufgabenstellung, den Begriff der Menschenwürde stärker auf die Lebenswirklichkeit der heutigen Menschen zu beziehen. Der Großteil des Kapitels dient einer Ausdifferenzierung des Schambegriffs und der Installierung der „Anerkennung“ als Gegenbegriff zur Beschämung. Schließlich wird „Würde“ als das bestimmt, was von der Scham behütet wird, wobei eine längere Liste zustande kommt. (44f.) Der Rest des Kapitels beschäftigt sich mit Scham-Abwehr.
Das mit 54 Seiten umfangreichste zweite Kapitel („Die Deutschen und die Menschenwürde“) versucht eine Bestandsaufnahme der Gegenwart vor dem Hintergrund der deutschen Gesellschafts- und Katastrophengeschichte vom Feudalsystem über die Bauernkriege , dem dreißigjährigen Krieg bis zu den beiden Weltkriegen und der Nachkriegszeit. Es ist unvermeidlich, dass dieses Panorama sehr lückenhaft und ungefähr sein muss. Ich hätte mir beispielsweise die Einbeziehung von Adornos Studie über „Schuld und Abwehr“ aus den fünfziger Jahren gewünscht, aber auch einen Hinweis auf die Untersuchungen Foucaults zu den modernen Disziplinartechniken. Natürlich sind diese Desiderate von relativer Beliebigkeit, aber das trifft auf die Ausführungen des Autors nicht weniger zu. Wer sich auf solche Panoramen einlässt, wird es keinem Recht machen können, der mehr weiß als der Autor zu erwähnen bereit war.
Das dritte Kapitel thematisiert Würde als Selbstbeziehung. Nach Marks „kommt es darauf an: „Die eigenen Gefühle, Gedanken und Werte ernst zu nehmen und für sie einzutreten. Seinen eigenen Lebens-Sinn zu verwirklichen (…)Eine liebevolle Beziehung zum eigenen Körper und zur eigenen Sexualität zu gewinnen (…) An die eigene Kreativität zu glauben (…) An seinem Ausdruck zu arbeiten (…) Seine eigene Geschichte, auch sein Scheitern, zu würdigen. (…) Darüber hinaus ist es wesentlich, für den Schutz seiner Würde und für Zugehörigkeit, Integrität sowie Anerkennung zu sorgen.“ (120f.) All das ist gewiss nicht falsch, aber etwas fehlt: die eingehende Auseinandersetzung mit dem, was uns zu substanzlosen Kaspern und verschreckten Anpassern, entfremdeten Maschinen und eindimensionalen Menschen zu machen vermag. Ohne dies geraten solche Listen leicht zu einer Ansammlung inhaltsloser Parolen.
Im vierten Kapitel geht es um die „Menschenwürde in der Beziehung zum >Du<“. Überzeugend legt der Autor dar, dass zwischen Maske und Mensch unterschieden werden muss. Kritik aus der Perspektive einer Würde-Haltung ist der besseren Möglichkeiten jedes Menschen eingedenk und vermeidet es, Zugehörigkeit prinzipiell in Frage zustellen. Es geht auch nicht um generelle Schamvermeidung, sondern um die desaströsen Folgen einer Pädagogik der Beschämung. Die Analyse einer Turnstunde (162f) zeigt z.B. sehr gut den Zusammenhang zwischen moralischer Integrität und der Achtung anderer sowie den Herrschaftsgewinn, der aus ihrer Zerstörung erwächst.
Das fünfte Kapitel widmet sich einzelnen Schulfächern wie Sport und Musik, Gemeinschaftskunde und Literatur, und wirft einen Blick auf die Würdekonflikte in Pflegeberufen.
Schließlich geht das sechste Kapitel auf den Strafvollzug ein und plädiert erneut für „eine Kultur der Menschenwürde“. (228) „Was ist zu tun? Wie können wir Strukturen und Arbeitsbedingungen schaffen, in denen die Würde aller Beteiligten und ihre Grundbedürfnisse nach Schutz, Zugehörigkeit, Integrität und Anerkennung gewahrt sind?“(220)
Diskussion
„Das negativistische Suchen nach Fehlern scheint mir durchaus charakteristisch für unsere Gesellschaft zu sein.“ (166) Indem er diese Diagnose ausdrücklich auch auf Rezensionen anwendet, macht der Autor die Formulierung von Kritik ein bisschen schwierig. Kann zwischen angemessener Kritik und „Verrissen“, die sich abstrakter Mängelvorwürfe wie „unwissenschaftlich“ bedienen, gar nicht unterschieden werden? Mein Haupteinwand bezieht sich darauf, dass zentrale Begriffe wie Menschenwürde und Anerkennung nicht scharf genug bestimmt werden. Positiv formuliert lautet der Einwand: wichtige Begriffe werden bei Marks konkretistisch umschrieben und dabei sehr einseitig, nämlich empirisch- psychologisch, gefasst. Um ein Beispiel zu geben: Wir stimmen überein, dass die Dimension der Selbstbeziehung für den Würdebegriff unverzichtbar und von hoher Wichtigkeit ist. Man kann nicht nur die Würde anderer verletzen und soll dies unterlassen, sondern auch die eigene. Unter den zahlreichen Umschreibungen, die Marks als Beispiel für eine gelingende Selbstbeziehung unter Würdeaspekten anführt, finden sich Aussagen wie: “Ich singe im Chor, dort fühle ich mich geborgen und gemocht.“ „Manchmal lobe ich mich selbst und wünsche mir einen guten Tag.“ (130 f.) Die wichtigen Probleme der moralischen Integrität, die mit dem Begriff der Würde verbunden sind, werden auf solche Weise nicht erhellt, eher verdeckt. Natürlich kann und darf man niemandem verbieten, sich genau das unter Würde vorzustellen. Im Kern des Würdebegriffs stehen Selbstbestimmung und Selbstentfaltung, soweit sie mit den Grundrechten anderer vereinbar sind. Sofern diese Rechte nicht tangiert sind, ist es mit dem Würdebegriff unvereinbar, rechtliche Vorschriften über die Auffassung von Würde zu machen. Das ändert jedoch nichts daran, dass der moralische und folglich rechtsethische Begriff der Menschenwürde einen konstitutiven Bezug auf Allgemeinheit haben muss, und zwar auf die der Menschheit, nicht die eines Chors. Die Idee der Menschheit transzendiert alle empirischen Zugehörigkeiten und stellt sie gegebenenfalls auch in Frage. Menschenwürde als normativer Begriff ist vorrangig kritisch und negativ („tu es nicht“), positiv nur insofern, als er Bedingungen herzustellen fordert, in denen eine moralkonforme Selbstentfaltung optimal möglich ist. Er ist also immer auch ein utopischer und insofern unbestimmter Begriff. Die Anfertigung von Katalogen bleibt gegenüber der Aufhellung begrifflicher Strukturen immer defizient.
Fazit
Der Titel weckt Erwartungen, die das Buch nicht einlösen kann. Eine spezifischere Formulierung hätte deutlich machen müssen, dass wir es in erster Linie mit psychologischen Problemen in der Pädagogik zu tun haben. Solche Probleme – und das ist der verdienstvolle Ansatz des Buches – stehen in enger Beziehung zu der Frage, was das Moral- und Rechtsprinzip „Menschenwürde“ in unserer Lebenswirklichkeit praktisch bedeutet. Es führt uns vor Augen, wie stark die Haltung der Verachtung in vielen Bereichen unserer Gesellschaft ist und dass dies immer noch mit ihrer Geschichte, aber auch mit den herrschenden Prinzipien von Leistungsfähigkeit (Perfektion) und Besitz (Konsumfähigkeit) zu tun hat. Zweifellos jedoch bedarf das Verhältnis von Menschenwürde als rechtsethischer Norm und als sozialem Wert einer weiteren Durchdenkung. Die Beziehung zwischen den Begriffen „anständige“ und „zivilisierte“ Gesellschaft, die Avishai Margalit in seinem Buch „Politik der Würde“ thematisiert hat – der eine bezieht sich auf die Institutionen und ihre Normen, der andere auf das alltägliche Verhalten der Menschen – bedarf weiterer Konkretisierung.
Rezension von
Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller
Vormals Professor für Sozialphilosophie und -ethik
Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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Es gibt 31 Rezensionen von Hans-Ernst Schiller.
Zitiervorschlag
Hans-Ernst Schiller. Rezension vom 18.03.2011 zu:
Stephan Marks: Die Würde des Menschen oder Der blinde Fleck in unserer Gesellschaft. Gütersloher Verlagshaus Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
(Gütersloh) 2010.
ISBN 978-3-579-06755-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10392.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.
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