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Clemens Tesch-Römer: Soziale Beziehungen alter Menschen

Rezensiert von Prof. Dr. habil. Gisela Thiele, 27.01.2011

Cover Clemens Tesch-Römer: Soziale Beziehungen alter Menschen ISBN 978-3-17-018459-6

Clemens Tesch-Römer: Soziale Beziehungen alter Menschen. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2010. 296 Seiten. ISBN 978-3-17-018459-6. 19,90 EUR.
Reihe: Grundriss Gerontologie - Band 8. Kohlhammer-Urban-Taschenbücher - Band 758 - Psychologie.

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Thema und Autoren

Der Band 8 aus der zweiundzwanzigbändigen Ausgabe „Grundriss Gerontologie“ zum Thema „Soziale Beziehungen alter Menschen“ ist dem Vorwort zufolge als eine Einführung in die sozial- und verhaltenswissenschaftliche Forschung zu sozialen Netzen konzipiert. Der Herausgeber dieses Bandes ist Clemens Tesch–Römer, der am Deutschen Zentrum für Altersfragen beschäftigt ist.

Thema und Autoren

Das Buch ist in fünf Themengebiete mit jeweils einem Hauptkapitel und mehreren Unterkapiteln unterschiedlicher Länge untergliedert.

Teil I „Einführung“ beginnt mit Kapitel eins „Bedeutung sozialer Beziehungen im Alter“. Eine soziale Beziehung läge dann vor, wenn mindestens zwei Personen ihr Denken, Fühlen und Handeln wechselseitig aufeinander beziehen (S. 17). Im vorliegenden Band werden die Beziehungen zum Partner, zwischen Eltern und Kindern, Großeltern und Enkelkindern, zwischen den Geschwistern und denen zwischen Freunden, Nachbarn und Bekannten einer näheren Betrachtung unterzogen. Zunächst betrachtet der Autor die Familie und seine Veränderungen von einer komplexen und erweiterten Mehrgenerationenfamilie, die im Durchschnitt ca. 4,75 Mitglieder umfasste bis zur reduzierten Kernfamilie mit etwa 3 Personen.

Teil II „Theorien und Methoden“ wird vom zweiten Kapitel „Was sind Theorien“ eingeleitet, das dem konzeptionellen und methodischen Handwerkszeug der sozial – und verhaltenswissenschaftlichen Alternsforschung gewidmet ist. Die Ausführungen verbleiben auf einer sehr allgemeinen Betrachtung stehen und hätten durchaus etwas mehr theoretischen Tiefgang verdient.

Kapitel drei ist mit dem Titel „Soziologische Theorien zu sozialen Beziehungen“ überschrieben. Die Disengagement - Theorie steht zunächst im Vordergrund der Betrachtungen. Hier wird von einem Rückzug aus sozialen Rollen im Alter ausgegangen, die geringere soziale Interaktionen und damit verbunden verminderte Kontrolle durch andere Menschen nach sich ziehe, wodurch alte Menschen freier aber auch eigenwilliger werden würden (S. 49). Der Disengagement – Prozess sei im Alter universal, die Form des Rückzugs sei aber von der jeweiligen Kultur abhängig.
Weitere Ausführungen setzen sich mit der Aktivitäts- und Kontinuitätstheorie auseinander (S. 52 ff), die sich nur auf einen kleinen Bereich – auf das subjektive Wohlbefinden im Alter -beziehe. Der Rückzug aus Rollen und Netzen würde als negativ erlebt, so dass es nötig sei, um zufrieden zu sein, das Aktivitätsniveau des mittleren Erwachsenenalters beizubehalten.
Die Kontinuitätstheorie ginge davon aus, dass im Verlauf des Lebens Menschen ein Gleichgewicht zwischen Kontinuität und Veränderung in den Strukturen ihres Lebens aufrechterhalten müssten, um erfolgreich altern zu können.
Alle drei diskutierten Ansätze seien Theorien erfolgreichen Alterns, wobei Kriterien dafür subjektives Wohlbefinden, Glück und Zufriedenheit sei.
Die Theorie des sozialen Austauschs wird im dritten Unterkapitel beschrieben und kritisch diskutiert. Es sei eine allgemein soziologische Theorie, die vom Geben und Nehmen in sozialen Interaktionen ausgehe (S. 54). Ältere müssten versuchen, Reziprozität zu erhalten, um ausbalancierte Beziehungen aufnehmen zu können.
Es folgen im Kapitel 3.4 Modelle der intergenerationalen Solidarität und Ambivalenz. In der Familie würde die starre Geltung der Reziprozitätsnorm zu Gunsten emphatisch – altruistischer Grundhaltungen aufgeweicht. Familienbeziehungen seien ein harmonisches Feld der gegenseitigen Unterstützung zwischen Eltern und Kindern und nur ca. 10 bis 15% dieser Beziehungen könnten als problematisch eingeschätzt werden (S. 63). Dennoch würden Ambivalenzen auftreten, die miteinander ausgehandelt werden müssten.

Psychologische Theorien zu sozialen Beziehungen“ werden im vierten Kapitel erörtert. Während soziologische Theorien die Beziehungen zwischen Menschen vor dem Hintergrund von Institutionen und sozialen Rahmenbedingungen untersuchten, richte sich die psychologische Sichtweise auf Menschen mit ihren individuellen Kompetenzen, Einstellungen und Motiven. Eine der bekanntesten psychologischen Theorien sei die Bindungstheorie, in der die Bedeutung der Bindung zwischen dem Kind und weiteren Bezugspersonen herausgearbeitet wird.
Die Sozioemotionale Selektivitätstheorie wurde mit Blick auf die Beziehungen alter Menschen entwickelt und erst in einem zweiten Schritt an die Entwicklung im Lebenslauf angepasst (S. 80 ff). Selektivität meint, dass die Menschen mit zunehmendem Alter sowohl Interaktionspartner als auch Beziehungspersonen stärker auswählen mit dem Ziel, positive, emotional nicht überraschende Begegnungen erleben zu können.
Mit dem Modell des sozialen Konvois können Netzwerkbeziehungen über den Lebenslauf hinweg eingeschätzt werden. So verkleinert sich das Netzwerk mit zunehmendem Lebensalter, der Anteil der unterstützenden Partner nimmt zu, die räumliche Nähe dagegen und die Kontakthäufigkeit würden abnehmen (S. 94).

Kapitel fünf ist mit dem Titel „Methoden“ überschrieben. Ziel ist es, Verfahren zur Feststellung von Größe, Struktur, Qualität und Austauschfunktionen sozialer Netzwerke zu beschreiben. Es wird auf Methoden verwiesen, die relativ einfach anwendbar sind und dennoch Netzwerkbeziehungen, auch zwischen Eltern und Kindern, qualitativ erfassen können.

Im Teil III werden die „Beziehungen“ thematisiert, die im Kapitel sechs zunächst der „Ehe und Partnerschaft: ‚Bis dass der Tod Euch scheidet‘“ gewidmet sind (S. 120 ff). So sei die Phase des Zusammenlebens im Ruhestand so lang andauernd, dass diese in die Phase des aktiven Alters (drittes Lebensalter) und in die Phase des unterstützungsbedürftigen Alters (viertes Lebensalter) unterteilt werden sollte. Nur ca. 5 bis 10% blieben ein Leben lang ledig. Bei den über 85 Jährigen seien zwei Drittel der Frauen verwitwet, aber 60% der Männer verheiratet. Fast 40% aller Ehen seien nach 25 Jahren durch Scheidung beendet worden. Lange Partnerschaften führten im Idealfall zur Konstruktion einer gemeinsamen Lebenswelt. Probleme der Veränderung in der Sexualität und der Qualität in den Beziehungen werden leider nur sehr eingeschränkt und kurz thematisiert.

Es folgt Kapitel sieben mit dem Thema „Alte Eltern und erwachsene Kinder: Aus Kindern werden Leute“ (S. 139 ff). Hier wird erörtert, wie wichtig die Eltern – Kind – Beziehungen sind und wie sie sich im Lebenslauf verändern. So spiele die Beziehungsqualität, die bisherige Beziehungsgeschichte zwischen den Generationen und Konfliktlösungsressourcen eine entscheidende Rolle. Am Ende des Kapitels wird versucht, den Bezug zu theoretischen Positionen – zur Solidarität und Ambivalenz – herzustellen, der nicht überzeugen kann.

Im achten Kapitel „Großelternschaft: Beziehungen eines neuen Typus“ setzt sich mit den Bedingungen auseinander, die durch die Verlängerung der Lebenserwartung der Großeltern für die Beziehungen mit den Enkeln als gemeinsame Lebenszeit entstehen (S. 159). So würden heute noch mehr als 90% der Großeltern die Geburt ihrer Enkel erleben und sie können einen Großteil der Zeit mit ihnen verbringen. In Zukunft werde es durch das veränderte Fertilitätsverhalten zu tiefgreifenden Entwicklungen kommen, wobei zwei Szenarien denkbar seien: die „Multi-Generationen-Familie“ oder die „Alterslückenstruktur“. Erstere sei dadurch gekennzeichnet, dass wenige Kinder in einer Familie geboren werden, aber die Zahl gleichzeitig lebender Generationen höher sei (Bohnenstangenfamilie). Von einer Alterslückenstruktur werde gesprochen, wenn eine zunehmende Zahl von Frauen erst spät eigene Kinder bekommt, wodurch ein Generationenmuster mit relativ großem Abstand entstehe, das zu einer geringeren gemeinsamen Lebenszeit zwischen Großeltern und Enkelkindern führen würde. Ein Szenario, das für Deutschland am ehesten angenommen wird.

Das neunte Kapitel ist mit dem Titel überschrieben „Geschwister: Lebenslange Vertrautheit und Konkurrenz“. Heutzutage seien Erbschaften, die zwischen den Geschwistern gleich verteilt werden, weniger für die Ungleichheit innerhalb von Familien als für die Ungleichheit zwischen den Familien verantwortlich (S. 177). Prägend für Geschwisterbeziehungen seien die Geschwisterposition, das Geschlecht, der Altersabstand, die Anzahl der Geschwister und die Erziehung der Eltern.

Das zehnte Kapitel widmet sich dem Thema „Freunde und Nachbarn“, die wichtige soziale Netzwerkpartner seien. Im Gegensatz zu Familienbeziehungen würden Beziehungen zu Nachbarn und Freunden der Reprozitätsnorm unterliegen (S. 190).

Isolation und Einsamkeit“ werden im folgenden elften Kapitel thematisiert. Nach der Klärung von relevanten Begrifflichkeiten werden geschichtliche und kulturelle Vergleiche geführt und auf Risikofaktoren im Alter hingewiesen. Mit zunehmendem Alter steige die Wahrscheinlichkeit, allein zu leben, Zeit allein zu verbringen und über geringere soziale Kontakte zu verfügen.

Das vorletzte Kapitel 13 des dritten Teils beschäftigt sich mit der „Pflege“. Es werden die Leistungen familiärer und privater Netzwerke in der Pflege sowie die Verfügbarkeit und Bereitschaft zur Übernahme von Pflegeverantwortung diskutiert (S. 226).

Das letzte Kapitel „Konflikt und Gewalt“ setzt sich mit der Kriminalität gegen ältere Menschen im öffentlichen Raum und mit Misshandlungen im sozialen Nahraum auseinander. So sei die Gefährdung Älterer im öffentlichen Raum deutlich geringer als bei jüngeren Menschen, während die Situation im Nahraum viel zu wenig erforscht sei, um treffsichere Aussagen machen zu können.

Der vierte Teil der Publikation „Ausblick“ thematisiert in nur einem Kapitel „Soziale Beziehungen alter Menschen im Kulturvergleich“ (S. 248 ff). Es wird herausgearbeitet, dass eine gut entwickelte wohlfahrtsstaatliche Infrastruktur zu einem Verantwortungsmix zwischen Familien und Pflegedienstleistungen führen würde. Dieser letzte Teil dürfte den Leser in zweifacher Weise verwundern. Erstens wird am Ende eines Buches eine Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse erwartet, der ausbleibt und zweitens werden soziale Beziehungen im Kulturvergleich betrachtet, auf die fast in jedem Einzelkapitel hingewiesen wird.

Fazit

Trotz kritischer Einschätzungen lohnt es sich auf jeden Fall, das vorliegende Fachbuch zu lesen. Es beleuchtet außerordentlich tiefgründig Zusammenhänge, Probleme und Konflikte, die im Zusammenleben von Menschen entstehen. Positiv anzumerken sind der leicht verstehbare Text, der auch wissenschaftliche Aussagen verständlich und nachvollziehbar an jeden Leser bringt, das übersichtliche und immer wiederkehrende Layout mit Lernzielen, statistischer Aufbereitung und einer Zusammenfassung mit Thesen zum jeweiligen Kapitelende. Was versucht wurde, aber nicht durchgängig gut gelang, ist, die Theorie auf die differenzierte Fragestellung zu beziehen, was diese letztlich erst verstehbar macht. Für all jene, die pflegen und die sich für die Beziehungswelt älterer Menschen interessieren, ist diese Lektüre empfehlenswert.

Rezension von
Prof. Dr. habil. Gisela Thiele
Hochschule Zittau/Görlitz (FH)
Berufungsgebiete Soziologie, Empirische Sozialforschung und Gerontologie
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Es gibt 205 Rezensionen von Gisela Thiele.

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ISSN 2190-9245