Holger Wittig-Koppe (Hrsg.): Teilhabe in Zeiten verschärfter Ausgrenzung?
Rezensiert von Prof. Dr. phil. Barbara Wedler, 15.08.2011

Holger Wittig-Koppe (Hrsg.): Teilhabe in Zeiten verschärfter Ausgrenzung? Kritische Beiträge zur Inklusionsdebatte. Paranus Verlag (Neumünster) 2010. 177 Seiten. ISBN 978-3-940636-10-2. 19,80 EUR.
Thema
Thematisch reiht sich dieses Buch in die zahlreichen Veröffentlichungen zur Inklusion. Und doch ist es eine Bereicherung in diesem Sammelsurium von Veröffentlichungen, weil der Fokus auf der kritischen Reflexion der beabsichtigten und praktizierten Inklusion liegt.
Autorinnen und Autoren
Die Autoren/innen sind durch Praxis, Lehre und Forschung mit Menschen mit Behinderung und somit mit der Inklusion(sdebatte) verbunden.
Entstehungshintergrund
Das Buch versteht sich als kritische Bestandsaufnahme der Diskussionen um Inklusion und versucht gleichzeitig das Janusgesicht der Debatten um die UN Menschenrechtskonvention im Allgemeinen und die Inklusion im Besonderen zu enttarnen. Mit den unterschiedlichen Beiträgen werden primär verschiedene Facetten einer inklusiven Gesellschaft aufgezeigt. Und die Autoren weisen mit ihren Betrachtungen und Praxisbeispielen nach, wie man der Gefahr der Floskel „Inklusion“ entgehen kann. Um mit den Worten des Herausgebers zu sprechen, ist dieses Buch „ein Beitrag zur Kritik des Missbrauchs des Paradigmas für unlautere Zwecke.“ (S. 9)
Aufbau
Dieser Band beinhaltet folgende Beiträge:
- Vorwort des Herausgebers
- Andreas Lob-Hüdepohl: Vielfältige Teilhabe als Menschenrecht - ethische Grundlage inklusiver Praxis
- Michael Wunder: Inklusion - nur ein neues Wort oder ein anderes Konzept?
- Klaus von Lüpke: Inklusion: eine Frage der Kultur - Thesen zur Inklusionsdebatte in der Behindertenhilfe
- Georg Theunissen: Inklusion - für die Behindertenarbeit kritisch buchstabiert
- Holger Wittig-Koppe: Wider die sozialstaatliche Kolonialisierung des bürgerlichen Engagements
- Ingmar Steinhart: Der Weg zu einer inklusiven Gesellschaft
- Jürgen Schiedeck / Martin Stahlmann: Neoliberales Inklusionsregime
Inhalt
Das Vorwort beginnt Wittig-Koppe mit einem Feuerwerk von Knallern, die zwar das Wort Inklusion beleuchten, jedoch in ihrer Wirkung die Praxis der Inklusion der Gefahr aussetzen zu verpuffen. Knaller dieser Art werden von der Sozialpolitik im Allgemeinen und Verwaltungen im Besonderen gezündet und treffen die soziale Infrastruktur.
Nach der beeindruckenden Einstimmung in das Thema des Buches stellt Lob-Hüdepohl den Bezug der Inklusion zu ethischen Werten her. Menschenrechte als universalgültige, ethische Postulate bilden die Basis für die Chance auf ein menschenwürdiges Leben. Im Bestreben nach einem menschenwürdigen Leben befindet sich nicht nur die Teilhabe als Menschenrecht im Focus des Handelns sondern auch die Teilgabe. Teilgabe ermöglicht jedem Menschen, sich je nach seinem Fähigkeiten und seinem Können in öffentliche Gestaltungsprozesse einzubringen und andere Menschen daran teilhaben zu lassen. Durch die Teilgabe wird auch der Mensch mit Behinderung zu einem aktiven Mitgestalter seines Umfeldes. In diesem Sinne stellt Inklusion das Instrument dar, mit dem Teilhabe als universelles Menschenrecht verwirklicht werden kann.
Wunder beginnt seinen Beitrag mit der Feststellung, dass „zwischen Hineingenommenwerden und Dazugehören“ ein Unterschied besteht (S. 22). Diese einleitenden Worte begründen sich grundsätzlich im Paradigmenwechsel bei der Betrachtung von Behinderung dank des sozialen Modells. Nach einer kurzen Begriffsklärung von Integration und Inklusion erfolgt eine kritische Würdigung beider Konzepte. Dabei legt der Autor die philosophische Verortung nach Adorno zugrunde, wonach Verschiedenheit produktiv umgesetzt werden sollte. Neben den Gefahren fälschlicher Auslegung des Inklusionskonzeptes wird die Assistenz als eine Form der Hilfestellung diskutiert. Die Verbindung zwischen Adornos Philosophie und der Assistenz bildet die Care Ethik, die achtsame Zuwendung.
Von Lüpke verfolgt in seinem Beitrag die Spur einer Kultur des Zusammenlebens, die jeden Menschen einschließt. Wie wunderschön und bereichernd solch ein Leben in Vielfalt, in einer Gemeinschaft verschiedenster Menschen sein kann, beschreibt v. Lüpke an interessanten Beispielen, u.a. dem Zusammenspiel im Chor.
Doch trotz gelungener Inklusion, trotz der UN-Menschrechtskonvention, läuft Inklusion Gefahr dem Euphemismus und diversen Fehlentwicklungen zum Opfer zu fallen. Vor diesem Hintergrund reflektiert Theunissen fünf Schlüsselprobleme, die Paradoxie der Inklusion in der heutigen Gesellschaft, die politische Vereinnahmung der Inklusionsdebatte, die Vermarktung der Behindertenhilfe, die Individualisierung der Lebensformen sowie die Selbstverzweckung der Behindertenhilfe.
An die Gefahr der Entsolidarisierung einer individualisierten Gesellschaft knüpft Wittig-Koppe an. Mit dem Ziel des Zusammenlebens aller Menschen in einer inklusiven Gesellschaft ist der Diskurs um bürgerschaftliches Engagement verknüpft. Wie der Autor exemplarisch zeigt, hat sich die Politik die „Bürgergesellschaft“ zu Nutzen gemacht. Gestützt auf Reformen etc. stellt sich die Frage des Missbrauchs seitens des Wohlfahrtsstaates bürgerschaftlichen Engagements. Begleitet wird diese Tendenz mit der Entprofessionalisierung sozialer Arbeit einerseits und der Ausnutzung von Humankapital andererseits. Alternativ dazu entwickelt der Autor die Idee von der Inklusion hin zur Strategie der Sozialen Arbeit, die bewusst das Bürgerengagement aufnimmt.
Auch I. Steinhart setzt den kritischen Diskurs um die Inklusion fort. Obwohl schon jetzt Inklusionsprojekte in der Praxis punkten, weist der Verfasser auf die begleitenden, notwendigen Veränderungen hin. So verlangt die inklusive Gesellschaft eine neue Professionalität, zwingt zum Wandel der Unterstützungsleistungen und muss ein individuell gestaltetes Leben ermöglichen ohne Fürsorgeaspekte zu vernachlässigen. Aufgaben, die alle Ebenen betreffen, ebenso den Menschen selbst, Leistungsanbieter, Leistungsträger sowie die kommunale Politik.
Steinhart benannte als 1. Schritt in die inklusive Gesellschaft die Barrierefreiheit - in den Köpfen. Die Barrieren im Denken und Handeln thematisieren Schiedeck und Stahlmann. Beide stellen die These auf, dass „die Leitdifferenz der reflexiven Moderne“ (S. 79) Exklusion - Inklusion ist. Jegliche Form von Ausschluss wird durch Subsysteme geregelt. Doch diese Subsysteme täuschen lediglich darüber hinweg, dass die Folge kumulative Exklusion ist. Inklusion wird lediglich simuliert. Und entsprechend dem neoliberalem Denken besteht auch Selbstverantwortung für Exklusion. Die neoliberale Inklusionsfalle schnappt zu - außer die Menschen bewahren sich ihre kritische Haltung…
Görres und Zechert erweitern den Blick auf die europäische Ebene. Beide belegen, dass trotz Gesetzgebung im Sozialstaat Behinderung und Krankheit zum Ausschluss führen, weltweit. Dank Europäischer Initiativen zur Förderung von Inklusion entwickelten sich in Europa verschiedene Projekte, von denen vier vorgestellt werden. Abschließend erläutern die Verfasser den Dreierschritt, in dem Inklusion ganz pragmatisch gelingen kann.
An die Reflexion erfolgreicher Inklusionsprojekte knüpft D. Kal an mit der Vorstellung des Kwartiermakersfestivals. Dieses Fest ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie über Kunst und Kultur Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam für eine gastfreundliche Gesellschaft arbeiten.
Aus dem „Nähkästchen der Inklusion“ berichtet Fritz Bremer. Ausgangspunkt für seine Arbeit über psychisch erkrankten Menschen und deren Angehörige war die Erkenntnis, dass sich diese Menschen an einer „Leerstelle“ befinden, die es zu schließen gilt. An der Leerstelle wurde in mehreren Schritten gearbeitet, wodurch die Leerstelle zur Baustelle wurde. Baustellen, auf denen sich mit neuen sozialen Erfindungen für mehr Zugehörigkeit und Gesundheitsförderung eingesetzt wird.
Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen und Forschung zum Sozialraum ist der Beitrag von S. Landhäußer von besonderer Bedeutung. Zur Stärkung der Sozialräume tragen vor allem die positiven Effekte bei, die sich u.a. im Abbau expertokratischer Entmündigung Hilfebedürftiger zeigen. Neben diesen positiven Aspekten besteht die Gefahr, wie verschiedene Studien belegen, dass sich auch im Sozialraum die engagierten Bürger mit einer größeren Bandbreite an Ressourcen durchsetzen und sich soziale Ungleichheit im Sozialraum fortsetzt.
Von Kardorff setzt sich mit der Tyrannei der Erwerbstätigkeit als Kriterium für die Teilhabe auseinander. Entsolidarisierung der Gesellschaft und die individuelle Verantwortungszuschreibung verstärken die Exklusionstendenzen derer, die sich nicht (mehr) auf dem Arbeitsmarkt zurechtfinden. Der Verfasser plädiert dafür, mit vielfältigen Tätigkeitsformen jedem Menschen Teilhabe zu ermöglichen.
Durch die Feder von S. Prins kommen Psychiatrieerfahrene selbst zu Wort. Deren Gedanken zur Teilhabe sind so simpel, dass sie wohl den Vorstellungen vieler Menschen entsprechen, so z.B. eine Freundin zu haben, Geld verdienen und Kekse miteinander teilen.
Als Abschluss lassen die Herausgeber die „SOLTAUER INITIATIVE für Sozialpolitik und Ethik in sozialen Arbeitsfeldern“ sprechen und schließen damit den Rahmen dieses Sammelbandes. In der konsequenten Weiterführung der Anwendung der allgemeinen Menschenrechte auf Menschen mit Behinderung wird auf das notwendige Zusammenspiel von Sozial- und Wirtschaftspolitik gedrängt. In Hinblick auf politische Entscheidungen wird W. Brandt zitiert: „Die Politik soll sich zum Teufel scheren, wenn sie das Leben nicht menschlicher macht.“ (S. 157)
Diskussion
Mit diesem Buch ist es den Autoren gelungen, den Blick auf Menschenrechte, Inklusion und aktuelle Sozialpolitik zu erweitern. Die ausgewählten Beispiele stehen für gelungene Inklusion und eröffnen dem Leser die dem Konzept immanenten Chancen für Menschen mit und ohne Behinderung. Ebenso bedeutsam ist die kritische Reflexion der Inklusion(sdebatte), denn sie beweist, dass auch Inklusion nicht nur eine positive Seite beinhaltet, sondern die Gefahr des Missbrauchs besteht. Unterschiedliche Interessen der Leistungsanbieter, Sozial- und Wirtschaftspolitik etc. verleihen der Inklusion jeweils ein entsprechendes Gesicht. So wird dank des Buches sichtbar, wie sehr neoliberales Denken zu Barrieren in den Teilhabemöglichkeiten führt, wie wichtig auch philosophische wie auch ethische Grundhaltungen für die Umsetzung der Teilhaberechte notwendig sind. Auf diesem Weg wird nie vom Pfad der Wissenschaft abgewichen. Die Verfasser untermauern ihre Thesen, Reflexionen, Beschreibungen etc. u.a. mit philosophischen und soziologischen Grundgedanken, nutzen Studien und Statistiken. Die Autoren fächern förmlich für den Leser die Facetten von Inklusion auf und erweitern das Wissen des Lesers, erhellen den Blick und öffnen das Herz…
Fazit
„Teilhabe in Zeiten verschärfter Ausgrenzung“ wurde mit sehr viel Herz geschrieben und: geht ans Herz. Der Leser erlebt alles, was behinderte Menschen, Angehörige Professionelle ständig durchleben: Hoffnung, Ausgrenzung, bürgerschaftliches/ politisches Engagement, begleitende Forschung etc. „Nur“ Lesen geht nicht: man wird hineingezogen in die kritische Auseinandersetzung mit dem Ziel der Inklusion, in die Reflexion der veränderten gesellschaftlichen (Rahmen)Bedingungen sowie in die Überprüfung eigener Werte und Haltungen.
Ein sehr tiefgehendes Buch, das den Spannungsbogen vom Vorwort bis zur Soltauer Initiative hält. Obwohl ein Fachbuch, wirft es Fragen auf, die jeden Menschen angehen (könnten). Ausgesprochen empfehlenswert!
Rezension von
Prof. Dr. phil. Barbara Wedler
Professur für klinische Sozialarbeit und Gesundheitswissenschaften
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