Dirk Lange (Hrsg.): Entgrenzungen (Politische Bildung)
Rezensiert von Dr. phil. Hubert Kolling, 01.11.2011

Dirk Lange (Hrsg.): Entgrenzungen. Gesellschaftlicher Wandel und Politische Bildung. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2010. 408 Seiten. ISBN 978-3-89974-653-2. 39,80 EUR.
Thema
Vor gut 20 Jahren läutete eine „Entgrenzung“ eine historische Zäsur ein. Der Fall der Berliner Mauer wurde dabei zugleich zu einem Symbol für einen Zeitenwandel, der bis heute anhält. Seitdem haben Entgrenzungen tief greifende politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Umwälzungen für Deutschland, für Europa und für die Welt zur Folge gehabt. Der vorliegende Sammelband widmet sich dem Thema „Entgrenzungen“, wobei verschiedene Dimensionen der Entgrenzung im Hinblick auf die Politische Bildung betrachtet werden.
Herausgeber, Autorinnen und Autoren
Für die Herausgabe des Bandes, an dem insgesamt 75 AutorInnen mitgewirkt haben, zeichnet sich Prof. Dr. Dirk Lange verantwortlich, der seit 2009 als Professor für die Didaktik der Politischen Bildung am Institut für Politische Wissenschaft der Leibniz Universität Hannover wirkt. Sein zentraler Forschungsgegenstand ist das Bürgerbewusstsein; aktuelle Arbeitsschwerpunkte liegen in der Politischen Bildungsforschung, Historisch-politischen Didaktik, der Politischen Lehr-Lernforschung, der Alltagsorientierung und Migrationspolitischen Bildung.
Dirk Lange, Autor und Herausgeber einer Vielzahl von Publikationen zur Politischen Bildung, ist seit 2003 Sprecher der Sektion Politische Bildung und Politische Wissenschaft in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) und seit 2006 Bundesvorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung (DVPB).
Entstehungshintergrund
„Entgrenzungen“ erscheint in der von Marga Kempe, Dirk Lange, Sibylle Reinhardt und Thomas Simon herausgegebenen „Schriftenreihe der DVPB“. Bei der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung e.V. (DVPB) (vergleiche www.dvpb.de) handelt es sich um einen Zusammenschluss von Lehrerinnen und Lehrern, von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, von außerschulischen Pädagogen und Pädagoginnen, die sich der Politischen Bildung der Bürgerinnen und Bürger und der demokratischen politischen Kultur der Gesellschaft verpflichtet fühlen. Die DVPB, der maßgebliche Fachverband für Politische Bildung in Deutschland, versteht sich sowohl als Partner wie auch als Kritiker der öffentlichen Institutionen, die für Politische Bildung Verantwortung tragen. Die DVPB, deren Arbeit konfessionell nicht gebunden und überparteilich ist, wendet sich an Vertreter und Vertreterinnen des Fachs Geschichte und anderer Fächer, die ihren Unterricht im Sinne Politischer Bildung gestalten wollen. Sie wendet sich an die Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer der entsprechenden Disziplinen und Didaktiken sowie an die Mitarbeiter der politischen Erwachsenenbildung und Jugendarbeit.
Aufbau
Der gut 400 Seiten starke Sammelband zeigt folgenden Aufbau:
- Dirk Lange: Entgrenzungen und Politische Bildung (S. 9-12)
- Thomas Krüger: Was bedeutet „Entgrenzung“ für die politische Bildung? (S. 14-16)
- Wolfgang Böhmer: Deutschland – grenzenlos (S. 17-20)
- Eberhard Sandschneider: Entgrenzung, ein Essay (S. 21-28)
1. Entgrenzungen – zwischen Globalisierung und Weltgesellschaft
- Wolfgang Schmale: Ist Europa reif für eine „Welt ohne Grenzen“? (S. 31-36)
- Rainer Tetzlaff: Welt ohne Grenzen – eine afrikanische Perspektive (S. 37-45)
- Christine Bauhardt: Globalisierung und Geschlechtergerechtigkeit – Transformationen der Geschlechterordnung im globalen Kontext (S. 46-54)
- Heinrich Brötz: Globalisierung, ‚Global Governance? und Klimaschutz – neue Chancen für die Entwicklungszusammenarbeit vor Ort (S. 55-63)
- Christoph Butterwege: Solidarität und soziale Gerechtigkeit in einer komplexen Welt – Herausforderungen, Chancen und Grenzen der politischen Bildung (S. 64-72)
2. Entgrenzungen – durch Migration und Interkulturalität
- Karl Peter Fritzsche: „Grenzüberwindung durch Migration“ (S. 74-76)
- Canan Topçu: Von Pass zu Partizipation – Wege der Grenzüberwindung (S. 77-84)
- Haci-Halil Uslucan: Parallelwelten oder Parallelwerte – Die Wertewelt türtischstämmiger Migranten in Deutschland (S. 85-94)
- Katharina Spieß: Die Menschenrechte von irregulären Migranten (S. 95-103)
- Bernhard Nolz: Interkulturelle Jugendarbeit in einem Friedenszentrum – Entgrenzung als friedenspädagogische Praxis (S. 104-118)
- Wolfgang Berg: Interkulturelle Kompetenz (S. 119-125)
- Thomas Goll, Dagmar Richter, Georg Weißeno: Politisches Wissen von Schüler/-innen mit und ohne Migrationshintergrund (POWIS) – Ergebnisse einer Studie zur politischen Grundbildung (S. 126-132)
3. Entgrenzungen – von Umwelt, Klima und Bioethik
- Andreas Weber: Biokapital – Ökologische Ökonomie (S. 133-136)
- Wolf-Michael Catenhusen: Medizintechnischer Fortschritt – Schöne neue Welt? Herausforderungen für Politik und Gesellschaft (S. 137-141)
- Frank Vogelsang: Reflexionen zu den „Grenzen des Menschseins – ein neues Bild vom Menschen?“ (S. 142-144)
- Kuno Rinke, Dieter Schmidt-Sinns: Klimawandel als globale politische Herausforderung (S. 145-150)
- Ulrich Krüger, Gordon Tavernier: Wie gibt man Luft einen Preis? Klimaschutz durch Emissionshandel – ein Unterrichtsprojekt (S. 151-154)
4. Entgrenzungen – des Finanzmarktes und der Arbeitswelt
- Maria Behrens: Entgrenzte wirtschaftlicheFreiheit oder überstaatliche Ordnungspolitik (S. 156-166)
- Ulrich Blum: Finanzkrise und Bankenkrise – Können demokratische Gesellschaften grenzenlose Märkte ertragen? (S. 167-176)
- Karl-Heinz Paqué: Der Nationalstaat in der entfesselten Weltwirtschaft (S. 177-182)
- Birgit Pfau-Effinger: Veränderungen im Verhältnis von erwerbsarbeit und Familie im europäischen Kontext (S. 183-194)
- Nick Lin-Hi: Eigeninteresse und unternehmerische Gewinnerzielung in der modernen Gesellschaft – wirtschaftsethische Implikationen für die Arbeitswelt (S. 195-202)
- Peter Hampe, Stefan Rappenglück: Entgrenzung des Währungsraumes: Zehn Jahre Europäische Gemeinschaftswährung (S. 203-208)
5. Entgrenzungen – in medialen Räumen und virtuellen Kommunikationswelten
- Jan-Hinrik Schmidt: Persönliche Öffentlichkeiten im Social Web und ihre Bedeutung für die Zivilgesellschaft (S. 210-215)
- Ute Pannen: Digitale Veränderungen in den politischen Öffentlichkeiten. Die Obama-Kampagne: Eine neue Architektur politischer Kommunikation (S. 216-224)
- Ricarda Steinbach: Realität oder Fiktion in der Politik durch die Entgrenzung der Kommunikationswelten – eine Einführung (S. 225-226)
- Hansjörg Geiger: Grenzverluste – Privatsphäre versus Öffentliches Interesse, zum Spannungsverhältnis von Sicherheit und Freiheit. Von der Volkszählung zur Online-Überwachung (S. 227-235)
- Harald von Bose: Videoüberwachungen – Sieg der Big-Brother-Mentalität oder Grundrechteschutz (S. 236-240)
- Armin Scherb, Thomas Behr, Tobias Gotschke, Jörg Kienel, Andreas Müller: Politisches Lernen – virtuelle Entgrenzungen (S. 241-247)
- Arne Busse, Klemens Schrenk: Spielend lernen. Lernfördernde Aspekte von Computerspielen in der politischen Bildung am Beispiel von „Genius – Im Zentrum der Macht“ (S. 248-254)
- Franz Kiefer, Wolfgang Sander: Europawahl 2009 im Politikunterricht: Das Format „Forschen-mit-GrafStat“ erschließt ein sperriges Thema (S. 255-260)
- Georg Weißeno, Valentin Eck: Fördert die Lernumgebung „WebQuest“ das Wissen über die Europäische Union? (S. 261-266)
1. Partizipation und Teilhabe
- Benedikt Widmaier: Mehr Demokratie und mehr Politik wagen. Partizipation als Ziel der Politischen Bildung (S. 269-274)
- Klaus Koopmann: Bürgerliche Partizipation lernen in Schule und Kommune (S. 275-284)
- Andreas Petrik: Warum Partizipationskompetenz nicht nur reales, sondern auch simultatives und reflexives Handeln braucht (S. 285-288)
- Sibylle Reinhardt: Basieren die Schülerkonzepte über Demokratie auf deren Partizipationserfahrungen im Nahraum? Eine Suche nach empirischen Indizien (S. 289-296)
- Bryony Hoskins, Jan Germen Janmaat, Ernesto Villalba: Learning citizenship through meaning making inside and outside school: Using the communities of practice lens in a multilevel analysis of effective citizenship education on the IEA 1999 CIVED data (S. 297-310)
- Christian Boeser, Florian M. Wenzel: Erfolgsfaktoren von Netzwerken für Akteure der politischen Bildung (S. 311-316)
2. Bildung und Subjekt
- Dirk Lange, Sebastian Fischer: Bürgerbewusstsein empirisch – Wie sich Schülerinnen und Schüler die politische Wirklichkeit vorstellen (S. 318-324)
- Andreas Petrik: Politisierungstypen – Politische Identitätsentwicklung im Lehrstück Dorfgründung (S. 325-332)
- Heiko Knoll, Sara Alfia Greco: Schwierigkeiten der Förderung politischer Urteilsbildung im Unterricht – Ansätze einer Szenenanalyse (S. 333-340)
- Manfred Quentmeier, Stefan Schneider: Politische Bildung im Wandel – Planungsmodelle einer neuen interdisziplinären Politikdidaktik (S. 341-349)
- Wolfgang Beutel, Hans Berkessel, Wolfram Stein: Wege in Politik und Demokratie – Was Demokratiepädagogik leisten kann (S. 350-355)
- Walter Bartl, Michael May, Reinhold Sackmann: Begabtenförderung im Fach Sozialkunde (S. 356-360)
- Henrik Peitsch, Heiko Schulze: Entgrenzungen und Wandel in der Stadt – eine pädagogische Herausforderung und ihre didaktische Umsetzung – dargestellt an zwei Praxisbeispielen (S. 361-368)
3. Erinnerung und Reflexion
- Cord Arendes: Nichtbeachtung – Duldung – Anerkennung. Transnationale und gesamteuropäische Perspektiven einer geteilten Erinnerungskultur im Europa nach 1989 (S. 370-378)
- Bodo von Borries: Geschichtslernen in der Einwanderungsgesellschaft. Allgemeine Bedingungen und spezifische Chancen am Beispiel „Entgrenzungen 1989“ (S. 379-389)
- Carl Deichmann, Christian K. Tischner: Politik verstehen: Behandlung von Biographien und politische Reden aus der DDR (S. 390-398)
- Karin Redlich, Dieter Starke: Grenzen überschreiten – Geschichte begreifen lernen. Aktive Medienarbeit in den Jugendbegegnungsstätten / Jugendherbergen Sachsen und Ravensbrück (S. 399-405).
Inhalt
Der Sammelband mit seinen gut 50 Beiträgen besteht nach einem einführenden Kapitel aus den beiden Teilen „Prozesse gesellschaftlichen Wandels“ und „Herausforderungen einer entgrenzten Welt“, die ihrerseits in fünf und drei Kapitel untergliedert sind.
Im einführenden Kapitel, das drei Beiträge vereint, werden zunächst die grundlegenden Begrifflichkeiten rund um „Entgrenzungen“ in der Gesellschaft erörtert beziehungsweise drei verschiedene Sichtweisen um diese Begrifflichkeit gegenübergestellt. Während dabei Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), auf die Bedeutung von Entgrenzung in der Gesellschaft eingeht und danach fragt, inwiefern dies Konsequenzen, im Sinne von Umdenkungsprozessen beispielsweise bei bürgerlichem Engagement, für die politische Bildung hat, setzt sich der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer, mit der Widervereinigung Deutschlands auseinander und blickt auf 20 Jahre Mauerfall und dessen gesellschaftlichen Veränderungen zurück. Demgegenüber betrachtet Prof. Dr. Eberhard Sandschneider, Otto-Wolff-Direktor des Forschungsinstitutes der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, den Begriff „Entgrenzung“ zunächst aus einer rein soziologischen Perspektive, bevor er sich den machtpolitischen Strukturveränderungen im frühen 21. Jahrhundert zuwendet, um dann den Bogen in die Gegenwart zu schlagen.
Die fünf Beiträge des Kapitels „Entgrenzungen – zwischen Globalisierung und Weltgesellschaft“ betrachten sowohl die positiven Effekte als auch die benachteiligenden Folgen von Entgrenzung im Zusammenhang von Globalisierung und neuen Grenzziehungen sowohl geographischer als auch sozialer Gerechtigkeit. Aus Bestandsanalysen und gesellschaftlichen Beobachtungen werden anschließend Visionen und Handlungsperspektiven geboten.
Die sieben Beiträge des Kapitels „Entgrenzungen – durch Migration und Interkulturalität“ legen einerseits Migration – im Zusammenhang mit der Grenzüberwindung an sich, sowohl innerhalb der Gesellschaft, zwischen den sozialen Grenzen, als auch durch die Überwindung geographischer Ländergrenzen – und andererseits Leben und politisches Handeln mit Interkulturalität dar. Diese Themen werden dabei sowohl in wissenschaftlichen und politikdidaktischen Artikeln als auch in direkten Erfahrungsberichten wiedergespiegelt.
Welche Herausforderungen stellen sich an die Politik und an die Gesellschaft in Bezug auf Veränderungen durch wissenschaftlichen und menschlichen Fortschritt, neue Erfindungen und neue Entwicklungen? Diesen Fragen gehen die fünf Beiträge des Kapitels „Entgrenzungen – von Umwelt, Klima und Bioethik“ nach, wobei die Themen auch unter politikdidaktischer Perspektive betrachtet werden.
Die sechs Beiträge des Kapitels „Entgrenzungen – des Finanzmarktes und der Arbeitswelt“ thematisieren den Finanzmarkt und die Arbeitswelt im Zusammenhang von Entgrenzungen. Dabei wird der Verknüpfung von Wirtschafts- und Staatssystemen ebenso nachgegangen wie dem Entstehen und den Auswirkungen der Finanz- und Bankenkrise im Kontext von demokratischen Gesellschaften. Ferner wird die Arbeitswelt unter unternehmerisch-wirtschaftlichem Gesichtspunkt als auch im Kontext von Familie und deren Möglichkeiten im Vergleich zu anderen europäischen Staaten betrachtet.
Das Kapitel „Entgrenzungen – in medialen Räumen und virtuellen Kommunikationswelten“ enthält neun Beiträge, die sich mit der heutigen „Kommunikationsgesellschaft“, die über vielfältige Kommunikationsformen verfügt, auseinandersetzen. Hierbei geht es etwa um die neuen Dimensionen der zwischenmenschlichen Kommunikation, wie sie sich durch das Internet entwickelt haben, ebenso wie den Zwiespalt zwischen Privatsphäre versus öffentlichem Interesse und den damit einhergehenden Grenzverlusten. Zur Sprache kommen aber auch die veränderte Kommunikationswelt und die damit verbundenen Auswirkungen auf politische Handlungsweisen von Politikern, ebenso wie eine politikdidaktische Betrachtung des Themas.
Während es im ersten Teil des Sammelbandes maßgeblich um die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse von Entgrenzungserscheinungen geht, wird im zweiten Teil auf die damit verbundenen Herausforderungen der Gesellschaft eingegangen.
Dementsprechend geht es in den sechs Beiträgen des Kapitels „Partizipation und Teilhabe“ um lebenswelttaugliche Ansätze, schülerorientierte politische Bildung und Partizipationsmöglichkeiten. Zur Sprache kommt hierbei die (politische) Partizipation im gesellschaftlich-öffentlichen Leben, die empirische Analyse von Partizipationserfahrungen und Teilhabe im SchülerInnen-Alltag sowie die Analyse von politischen Bildungsnetzwerken und deren Erfolgsfaktoren.
Im Kapitel „Bildung und Subjekt“ zeigen sieben Beiträge hauptsächlich die individuellen Lernanforderungen bezüglich politischen Lernens und politischer Bildung auf, wobei neben empirischen Untersuchungsergebnissen zu politischen Wirklichkeitsvorstellungen von SchülerInnen auch neue Ansätze der Demokratiepädagogik vorgestellt werden.
Die vier Beiträge des Kapitels „Erinnerung und Reflexion“ wenden sich schließlich dem Umgang mit Erinnerungen und Reflexionen von gesellschaftlichem und politischem Wandel zu.
Diskussion
Der von Dirk Lange herausgegebene Sammelband „Entgrenzungen“ thematisiert in zahlreichen Beiträgen verschiedene Dimensionen der Entgrenzung. So ging die innerdeutsche Entgrenzung mit dem Prozess der europäischen Integration und einem globalen Bedeutungsverlust von Nationalgrenzen einher. Außerdem wird nach den sich verschiebenden Grenzen des Menschseins oder zwischen Privatheit und Öffentlichkeit gefragt. Daneben gehen die Beiträge der Frage nach, welche Herausforderungen sich – angesichts der Aufweichung alter Grenzen und dem Sichtbarwerden von neuen Formen sozialer Einhegung – für die deutsche Einwanderungs-, die europäische Integrations- und weltweite Migrationsgesellschaft eröffnen. Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise, die ebenfalls zur Sprache kommt, macht besonders deutlich sichtbar, dass Entgrenzungen und neue Eingrenzungen auch zukünftig Merkmale des gesellschaftlichen Wandeln sein werden.
Für die Politische Bildung – und alle, die in diesem Bereich arbeiten – stellt sich unterdessen die Frage, wie sich die Entgrenzungen auf die Handlungsspielräume der BürgerInnen auswirken, und insbesondere, wie der gesellschaftliche Wandel interpretiert wird und welche Orientierungen sich darin eröffnen. Schließlich geht es um die Frage, wie Politische Bildung eine mündige Bürgergesellschaft in der sich wandelnden Gesellschaft befördern kann. Hierzu weist der Herausgeber in seinem einleitenden Beitrag „Entgrenzungen und Politische Bildung“ darauf hin, dass die Demokratie “nicht den Regelfall der Geschichte“ darstellt, sondern ein „historischer Sonderfall“ ist. Demokratie sei keine „natürliche“ Form der Vergesellschaftung, sie müsse vielmehr „immer wieder neu belebt und erlernt werden“. Und genau das leiste die Politische Bildung. Von daher erteilt er der Infragestellung der Politischen Bildung, wie sie immer wieder von Seiten der Politik – vor allem zur Begründung von Kürzungsmaßnahmen – zu hören ist („Die Demokratie ist doch heute gefestigt. Wozu brauchen wir dann noch so viel Politische Bildung?“), eine klare Absage. Wörtlich führt er hierzu aus: „Demokratisches Bewusstsein wächst nun mal nicht von selbst. Es muss an den Herausforderungen einer Zeit aktualisiert werden. Deshalb bieten wir in der Politischen Bildung Reibungsflächen an, die kontrovers zu den politischen Vorstellungen der Teilnehmenden sind. Politisches Lernen kann nur aus einer reflektierten Kritik und einer rationalen Urteilsbildung hervorgehen“ (S. 10).
Dieses Kontroversitätsprinzip sei auch der Grund dafür, weshalb sich die DVPB so vehement gegen Initiativen zu Wehr setze, die ein “marktaffines Unterrichtsfach Ökonomie aus der Politischen Bildung herausschneiden wollen“. Die Kritik richte sich dabei keineswegs gegen die Bedeutung des Lernfeldes Wirtschaft, das seit jeher Bestandteil der Politischen Bildung ist. „Aber: Nicht Meinungen und Ideologien, sondern Urteile und Kontroversen müssen das Unterrichtsgeschehen leiten – auch im ökonomischen Lernfeld!“ (S. 10).
Der Herausgeber macht auch darauf aufmerksam, dass der Name des Faches der Politischen Bildung – sei er nun Politik, Sozialwissenschaften, Sozialkunde, Gesellschaftslehre Politische Bildung oder Politik-Wirtschaft – letztlich unerheblich ist. Wesentlich – und hierbei handelt es sich um zwei Kernforderungen der DVPB – sei erstens, dass die Prinzipien der Politischen Bildung – das Verbot der Überwältigung, das Gebot der Kontroversität und die Befähigung zur Partizipation – zu Grunde gelegt werden. Und wesentlich sei zweitens, dass Politische Bildung an jeder Schulart und in jeder Klassenstufe als eigenes Fach mit zwei Unterrichtsstunden auf der Stundentafel steht. In diesem Zusammenhang weist Dirk Lange auch darauf hin, die Schulpolitik nach PISA die Politische Bildung auf das Abstellgleis geschoben hat. Die Politische Bildung und der gesamte gesellschaftswissenschaftliche Bildungsbereich spiele für die PISA-Studien keine Rolle. Die Länder nutzten zur Messung des Erfolgs ihrer Bildungspolitik also einen Indikator, für den das Bürgerbewusstsein und die politische Kompetenz der SchülerInnen irrelevant ist. Völlig zu Recht hält er hierzu fest: „Wir können diesen Ausschluss aus dem Kernbereich des Bildungskanons nicht akzeptieren. Als Politische Bildnerinnen und Politische Bildner müssen wir darauf dringen, dass der gesellschaftswissenschaftliche Bildungsbereich wieder voll gewichtet wird. Er muss in Bedeutung und Umfang den Naturwissenschaften gleichgesetzt werden“ (S. 11).
Während sich der Rezensent dieser Forderung uneingeschränkt anschließt, bietet der Sammelband insgesamt betrachtet eine Vielzahl theoretischer und praktischer Anregungen für alle, die im Bereich der Politischen Bildung tätig sind oder denen eine demokratische Kultur und aktive Zivilgesellschaft – die bekanntlich das Rückgrat einer demokratischen Ordnung sind – am Herzen liegt.
Fazit
„Entgrenzungen“ ist gleichermaßen für alle Theoretiker wie Praktiker der Politischen Bildung ein wichtiges Buch, weshalb es in keiner Bildungseinrichtung, sei es nun Schule oder Hochschule, fehlen sollte.
Rezension von
Dr. phil. Hubert Kolling
Krankenpfleger, Diplom-Pädagoge und Diplom-Politologe
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