Anina Engelhardt, Laura Kajetzke (Hrsg.): Handbuch Wissensgesellschaft
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 21.12.2010

Anina Engelhardt, Laura Kajetzke (Hrsg.): Handbuch Wissensgesellschaft. Theorien, Themen und Probleme.
transcript
(Bielefeld) 2010.
374 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1324-7.
24,80 EUR.
CH: 44,00 sFr.
Reihe: Sozialtheorie.
Wissen macht Mehrwert
Im aristotelischen Sinn ist Wissen „das Wissen von einer Sache im Sinne der Kenntnis der Ursache dieser Sache“. In das Stammbuch derjenigen, die nach wie vor der Auffassung sind, dass Wissen etwas ist, was man mit dem „Nürnberger Trichter“ einflößt und abfragbar ist, sei mit Aristoteles gesagt, dass „das Wissen des Warum im umfassenden Sinne und das Wissen vom Wesen einer Sache eng verknüpft“ sind (W. Detel, in; Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005). Weise ist ein Mensch also nicht, indem er Fakten aufzählen kann, oder ein wandelndes Lexikon darstellt, sondern indem er über eine Sache, eine Situation oder ein Phänomen nicht nur Bescheid weiß, sondern auch die Wahrheit darüber ergründen kann. Platon drückte das so aus: „Wissen ist wahre, mit Begründung versehene Meinung“ (vgl. die Rezension zu Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 2009). Zum Wissen gehört Kritik, als die Fähigkeit zum Nachdenken und zur Aufklärung, wie dies Immanuel Kant in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ und der „Kritik der Urteilskraft“ erkennt, wenn er feststellt, dass man nur das wirklich wissen könne, was sich dem Denken verdanke.
Die aktuelle, hektische und beinahe als Heilsbotschaft verkündete Parole, dass wir uns derzeit in einer „Wissensgesellschaft“ befänden, greift vielfach zu kurz, wenn damit meist das in Heller und Pfennig verwertbare Wissen gemeint ist und die Fähigkeit zum Denken eher den Hierarchen überlassen wird. Deshalb ist es wichtig, darüber nachzudenken, wer und was Wissen schafft, wissenswertes und mach(t)bares.
Entstehungshintergrund und Herausgeber
„Wir leben in einer Wissensgesellschaft“ – diese Metapher gilt es also zu betrachten und kritisch in Frage zu stellen, wissenschaftlich. Skepsis ist angebracht angesichts der Benutzung des Begriffs „Wissensgesellschaft“ in den vielfältigen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen, wobei die Aussage „Wissen ist Kapital“ sich vornehmlich an der materiellen, ökonomischen Verwertungsaussicht orientiert. Es erscheint notwendig, eine wissenssoziologische Zeitdiagnose vorzunehmen, um die Schlagwörter von den gehaltvollen und objektiv vorfindbaren gesellschaftlichen Entwicklungen und Bedürfnissen zu unterscheiden. Dabei geht es im Sinne Bourdieus darum, die „Objektivierungen zu objektivieren“. Wenn die Kennzeichnung „Wissensgesellschaft“ in so vielfältiger, profaner und intellektueller Weise Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs gefunden hat, ist die Frage danach zu stellen, welche Gründe und Ursachen dabei bedeutsam sind. Sind es Veränderungsprozesse im gesellschaftlichen Denken und Handeln? Ist es ein aufgeklebtes Schlagwort, das, wie andere Zuschreibungen von gesellschaftlichen Entwicklungen – „Risikogesellschaft“, „Mediengesellschaft“, „Multioptionsgesellschaft“, „Erlebnisgesellschaft“ … – nur unzureichend eine Diagnose ermöglicht?
Die beiden, an der Universität Marburg tätigen Soziologinnen Anina Engelhardt und Laura Kajetzke legen als Herausgeberinnen einen Sammelband vor, mit dem Anspruch, den Begriff mit einer kritischen Beobachtungsperspektive zu betrachten und danach zu fragen, in welchen Zusammenhängen der Begriff im politischen, wirtschaftlichen, medialen, kulturellen und wissenschaftlichen Diskurs verwendet wird und dadurch die je gewünschte Wirkungskraft erhält bzw. ihr zugeschrieben wird.
Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert: Im ersten Teil geht es um frühe Diagnosen „Von der Industrie- zur Wissensgesellschaft„; im zweiten um „Theorien der Wissensgesellschaft„; im dritten Kapitel um „Thematisierung des Wandels durch die Wissensgesellschaft„; im vierten werden „Themenfelder der Wissensgesellschaft“ vorgestellt; und im fünften Kapitel wird die „Kritik der Wissensgesellschaft“ thematisiert.
Aufbau und Inhalt
Jochen Steinbicker von der
Berliner Humboldt-Universität referiert im ersten Kapitel
über die Schriften des US-amerikanischen Ökonomen Peter F.
Drucker: „Wissensgesellschaft, wissensbasierte Organisation und
Wissensarbeiter“. Er beschreibt den allmählichen Übergang
von der Industrie- in die Wissensgesellschaft, indem er auf die
Notwendigkeit verweist, Wissen in Handeln umzusetzen, als „Anwendung
von Wissen auf Wissen“. Ebenfalls Steinbicker stellt die
Arbeiten des Soziologen Daniel Bell vor, der davon ausgeht, dass
sich die „Entwicklung der Produktivkräfte von traditionell
(prä-industriell) über industriell zu post-industriell“
vollzieht: „Die post-industrielle Gesellschaft als
Wissensgesellschaft“.
Jessica Wilde
diskutiert Ulrich Becks Begriff der „Risikogesellschaft“
und fragt, ob es sich mit der Benennung und Analyse um Wegbereiter
der Wissensgesellschaft handelt.
Der Münsteraner und
Freiburger Soziologe Reinhart Kößler setzt sich mit
den Thesen des US-amerikanischen Soziologen Manuel Castells
über „Informationalisierung der Arbeit“ auseinander,
der im Ende der Arbeitsgesellschaft gleichzeitig den Beginn der
Dienstleistungsgesellschaft sieht.
Im zweiten Kapitel werden
„Theorien der Wissensgesellschaft“ vorgestellt.
Der Friedrichshafener Kulturwissenschaftler Marian Thomas
Adolf diskutiert das von Nico Stehr entwickelte
wissenssoziologisch sensitive Modell der Modernisierung. Mit Stehrs
Suche nach dem Niederschlag wissenschaftlichen Wissens auf
gesellschaftlichen Wandel wird postuliert: „Wissen ist
Entstehen“ und „Wissen ist soziales Handeln“.
Der Soziologe an der Universität Bielefeld, Torsten
Strulik, reflektiert über die von Helmut Willke
etablierte „Systemtheorie der Wissensgesellschaft“. Es
sind fünf Merkmale, die Willkes Wissensbegriff bestimmen:
Praxisbezug des Wissens – Nichtwissen als Gegenbegriff des
Wissens – Von „normalen“ Risiken zu Systemrisiken –
kollektive Intelligenz – kognitive Wende; letztere insofern,
als „Lernen ( ) zum ubiquitären Grundprozess aller
gesellschaftlichen Bereiche (wird)“.
Der Hamburger
Nicklas Baschek zeigt anhand der Kapitalismuskritik des
französischen Sozialphilosophen André Gorz den
Übergang vom „Wissenskapitalismus zur Wissensgesellschaft“
auf. Es entsteht eine „offen normative, politisch-ambitionierte
Wissenssoziologie, die in marxistischer Tradition einen Gegenpol zu
den wertneutralen Konzepten der Systemtheorie oder des
Poststrukturalismus bildet“.
Die an der Universität
Basel Wissenschaftssoziologie lehrende Sabine Maasen und der
wissenschaftliche Mitarbeiter Mario Kaiser bringen mit dem von
Karin Knorr Cetina entwickeltem Konzept der „Postsozialität“
neue Aspekte in den Diskurs um die Wissensgesellschaft ein. Es geht
nicht um ein bedauerndes und vielbeklagtes Verschwinden des Sozialen,
sondern um die „Transformation des Sozialen“.
Das dritte Kapitel
„Thematisierungen des Wandels durch die Wissensgesellschaft“
beginnt mit einer Analyse und Bewertung des Diskurses um eine
wissensbasierte Ökonomie, die der wissenschaftliche Mitarbeiter
am Institut für Personalmanagement und Organisation der
Hochschule für Wirtschaft an der Fachhochschule Nordwestschweiz,
Steffen Dörhöfer, leistet; es ist der hegemoniale
Diskurs einer wissensbasierten Ökonomie, der notwendige
materielle Veränderungen des (kapitalistischen)
Wirtschaftssystems zu ein einem „Bedeutungswandel der
Produktivkraft Wissen“ be- und verhindert – aber dringend
notwendig macht; etwa mit dem diskursiven Konzept einer reflexiven
Veränderung des Wirtschaftssystems, wie es der britische
Sozialgeograf Nigel Thrift vorlegt.
Die
Politologin an der Universität Duisburg-Essen, Renate
Martinsen, bringt in den politischen Diskurs um die
Wissensgesellschaft die Aspekte ein, die im Prozess des
Gesellschaftswandels die Einschätzung von der
„Verwissenschaftlichung der Gesellschaft“ eingebracht
haben. Die sich daraus ergebenden Veränderungen, insbesondere im
Verhältnis von Wissenschaft und Politik (-beratung), bieten neue
kommunikative Politikmodelle, die auch Fragen der demokratischen
Mitbestimmung und Beteiligung berücksichtigen (siehe dazu auch die Rezension zu
Boris Traue, Das Subjekt der Beratung. Zur Soziologie einer
Psycho-Technik, Bielefeld 2010).
Der Leipziger
Religionssoziologe Gert Pickel und die wissenschaftliche
Mitarbeiterin Anja Gladkich widmen sich der Frage:
„Säkularisierung oder Transformation?“. Die
Entwicklung des Religiösen in der Moderne, gar die Rückkehr
der Religion in die Gesellschaft, lassen die Frage nach dem
Stellenwert, der Bedeutung und der Funktion des Religiösen in
der Wissensgesellschaft laut werden.
Die
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine
Soziologie der Universität Rostock, Heike Kahlert,
diskutiert die „Transformationsprozesse sozialer
Ungleichheiten“ am Beispiel von Bildung und Erziehung. Die sich
am „Menschenrecht für Bildung“ orientierenden, in
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) postulierten
Forderungen nach „Bildung für alle“, haben in vielen
Teilen der Welt zu einer Bildungsexpansion geführt, gleichzeitig
aber die Spannweite von Bildungschancen und –ungleichheiten
vergrößert, und zwar lokal, regional, national und global.
Stefan Böschen, Wissenschaftssoziologe an der
Universität Bielefeld, fragt, angesichts der Pluralisierung von
Wissen und der Erzeugung und Verteilung von Wissen in modernen
Gesellschaften , wie lassen sich „Wissensordnung und soziale
Ordnung in ihrer gegenseitigen (Un-)Abhängigkeit und
(Nicht-)Verschränkung erfassen? Die universitäre
Wissensproduktion steht dabei zwischen den traditionellen Ansprüchen,
der Konkurrenz von anderen Wissensproduktionsstätten und einem
riskanten Autonomieanspruch (vgl. dazu auch die Rezension zu Jens Sambale /
Volker Eick / Heike Walk, Hrsg., Das Elend der
Universitäten. Neoliberalisierung deutscher Hochschulpolitik,
Münster 2008).
Der Hamburger Sozial-,
Kultur- und Medienwissenschaftler Hans-Dieter Kübler,
nimmt die Charakterisierung der „Informationsgesellschaft“
auf, indem er über „Medien: Faktor, Reflexion und Archiv
gesellschaftlichen Wandels“ referiert. Es ist die „mediale
Multifunktionalität“, die die Mediatisierung zum
Grundanker einer Wissensgesellschaft macht. Wissen und Medien müssen
sich freilich ergänzen durch Wissen über Medien, und zwar
individuell und in Netzwerken (vgl. dazu auch die Rezension zu Michael Bommes
/ Veronika Tacke, Hrsg., Netzwerke in der funktional
differenzierten Gesellschaft, Wiesbaden 2011).
Der an der School of Culture der Dresden International
University lehrende Soziologe und Koordinator des Studiengangs Kultur
und Management, Gerhard Panzer, stellt fest, dass „Kunst:
Objekt und Motor der Wissensgesellschaft“ sei. Die traditionell
skeptischen und kritischen Einstellungen der Künstler zu den
Wissenschaften stehen in einem (unaufhebbaren) Widerspruch zu der
Funktion von künstlerischen Werken, als Wissenskonstruktionen.
Rainer Fretschner, Professor für Soziale Arbeit
und Gesundheit an der FHS Kiel und der Leiter des
Forschungsschwerpunkts „Gesundheitswirtschaft und
Lebensqualität“ an der FHS Gelsenkirchen, Josef
Hilbert, zeigen die Möglichkeiten und Schwierigkeiten auf,
die sich bei den notwendigen Bestrebungen nach Akademisierung,
Professionalisierung und Autonomisierung der in den
Gesundheitsfachberufen Tätigen ergeben.
Im vierten Kapitel werden
„Themenfelder der Wissensgesellschaft“ dargestellt.
Der Soziologe an der Universität Jena, Stephan
Lessenich, diskutiert die Themenbereiche „Arbeit,
Beschäftigungsverhältnisse, Sozialstaat“. Dabei
stellt er die (traditionellen) Wissensordnungen in der
Industriegesellschaft denen in der Wissensgesellschaft gegenüber.
Der Autor stellt fest, dass einerseits die „alten“
Ordnungen, etwa am Beispiel der „Leistungsethik“
verdeutlicht, weitgehend noch in den Prinzipien der
Wissensgesellschaft wiederzufinden sind, andererseits zeigen sich
(hier und dort) Initiativen, „alternierendes, konkurrierendes,
gegenhegemoniales Wissen über die Ordnung der Gesellschaft zu
produzieren“.
Der Aachener Technik- und
Organisationssoziologe Roger Häußling und die
Lehrbeauftragte Kirstin Lenzen thematisieren den Bereich
„Technik“, der sich ja im wissensgesellschaftlichen
Diskurs als Infrastruktur-, Informations- und
Kommunikationstechnologie gewissermaßen angestammt festgesetzt
hat. Die neuen Herausforderungen, die sich um die Fragen von Ethik,
Verantwortung und Machbarkeit in der Techniksoziologie stellen und um
die „fundamentale Frage…, was mit dem Wissen selbst passiert,
wenn es durch Technisierungsprozesse entsprechend technikadäquat
präpariert wird“, sind Anforderungen für Hier und
Heute und Morgen.
Die Soziologin am Karlsruher Institut
für Technologie, Michaela Pfadenhauer und ihre
wissenschaftliche Mitarbeiterin Alexa Kunz setzen
sich in ihrem Beitrag mit „Professionen“ auseinander. Im
Rahmen der Arbeits- und Organisationssoziologie kommt den
Professionismen in den vielfältigsten Ausprägungen,
gesellschaftlichen und funktionalen Auf- und Abwertungen, bis hin zum
inflationären Gebrauch, eine besondere Aufmerksamkeit zu. Es
einerseits die Austauschbarkeit von Arbeitsabläufen,
andererseits die extreme Spezialisierung, die an die Berufsausübung
neue Anforderungen, etwa das Life Long Learning, stellt.
Der
Dortmunder Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Jürgen
Howaldt nimmt die vielfältigen Anforderungen und Bedarfe
auf, die sich im Bereich der „Beratung“ in der
Wissensgesellschaft auftun. Die mittlerweile in allen Lebens- und
Tätigkeitsbereichen des menschlichen Daseins etablierten Formen
der Beratung, bis hin zu den dilettantischen Aktivitäten,
erfordern in der „Beratungsindustrie“ eine
wissenschaftliche Standort- und Funktionsbestimmung.
Der
Augsburger Soziologe Peter Wehling nimmt die in der
Wissensgesellschaft scheinbare Paradoxie, dass das „Nichtwissen“
zunimmt, zum Anlass, den wissenschaftlichen Diskurs über das
„Wissen des Nichtwissens“ darzustellen. Auch wenn der
platonische, (falsch) überlieferte Spruch: „Ich weiß,
dass ich nicht weiß“ ausdrücken will, dass wir uns
bewusst sein sollten, dass scheinbares und absolutes Wissen zwei Paar
Schuhe sind, hat das „Nichtwissen“ im Sinne des Diskurses
um die Wissensgesellschaft eher die Bedeutung, die sich ausdrückt
in der Skepsis und Warnung, ob der Mensch all das darf, was er weiß.
Es sind die Wissenslücken, die wir bei unserem Drang nach einem
Immer-weiter-immer-schneller-immer-Mehr allzu gern übersehen. Ob
es sich um die langfristigen, generationenübergreifenden Folgen
bei der Einführung einer neuen Technologie (z. B. Atomkraft),
eines neuen Medikaments (Contergan), um die Gen- und
Nano-Entwicklung, oder … oder…, handelt, die Menschen in der
Wissensgesellschaft sollten lernen, dem Nichtwissen Rechnung zu
tragen.
Der Bochumer Sozialwissenschaftler Franz
Lehner geht in seinen Überlegungen von der Transformation
der Industrie- zur „ökologischen“
Wissensgesellschaft von zwei Hypothesen aus: Die eine besagt, dass in
der Wissensgesellschaft durch eine konsequente Dematerialisierung von
Wirtschaft und Alltagsleben eine grundsätzliche Lösung
ökologischer Probleme möglich sei; die andere, dass in der
Wissensgesellschaft ökologische … Risiken wegen der Dynamik
der Wissensproduktion und der Wissensverteilung drastisch zunähmen.
Der Marburger Soziologe Markus Schroer reflektiert
„Raum und Wissen“. Insbesondere durch die neuen Medien
verlieren die klassischen „Wissens„- Räume, wie
Archive, Bibliotheken, Schulen…, an Bedeutung. Durch den spatial
turn (vgl. die Rezension zu Jörg Döring / Tristan Thielmann,
Hrsg., Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und
Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008) kommt es in
vermehrtem Maße darauf an, zu „wissen, wo man ist„;
und die Orientierung im jeweiligen Raum und in der jeweiligen
Situation verlangt eine um so deutlichere Gewissheit der eigenen
Identität.
Der Oldenburger Sportwissenschaftler
Thomas Alkemeyer rückt das „Körperwissen“
in den Mittelpunkt seiner „praxistheoretischen
Konzeptualisierung eines lokal situierten körperlich-leiblichen
Praxiswissens“. Sein Hinweis, dass jedes Verhalten auch ein
vorgezeigtes bzw. aufgeführtes Wissen darstelle, macht darauf
aufmerksam, dass „Wissen vom Körper“ und „Wissen
der Körper“ nur im Einklang gedacht und gemacht werden
können.
Im fünften Kapitel geht es
um die Diskussion von kritischen Aspekten zur Wissensgesellschaft.
Die Marburger Arbeits- und Wirtschaftssoziologin Maria
Funder fragt in ihrem Beitrag „Geschlechterverhältnisse“,
ob wir uns in eine „postpatriarchalische Wissensgesellschaft“
hin bewegen. Wenn in der Zeit, in der „nur noch zählt, wer
was weiß und wie relevant dieses Wissen im jeweiligen sozialen
Feld ist“, braucht sich um Herrschaftsverhältnisse nicht
zu kümmern? Dieser Auffassung widerspricht die Autorin heftig.
Der Soziologe von der Fernuniversität Hagen, Rainer
Schützeichel zeigt am Beispiel der soziologischen Erklärung
der „self-fulfilling prophecy“ die Entwicklung der
Deutungsmacht in der Wissensgesellschaft auf.
Die an der
Universität Münster lehrende Soziologin Andrea D.
Bührmann plädiert bei der Frage nach der Legitimation
der Wissensgesellschaft für die Analyse und gegen die Diagnose;
etwa bei der Vermutung, ob die Wissensgesellschaft der „Mantel
des Neoliberalismus“ sei. Eine „detaillierte
soziologische Analyse über die Vermittlungen zwischen
Wissensformen, Machtstrukturen und Selbstpraktiken“ sei
notwendig.
Im Schlusstext benennen der Soziologe an der
Pädagogischen Hochschule Freiburg, Uwe H. Bittlingmayer
und der Bielefelder Sozialarbeiter Hidayet Tuncer Unschärfen,
Probleme und offene Fragen im Zusammenhang mit dem Paradigmenwechsel,
wie er sich beim neuen deutschen Zuwanderungsgesetz von 2004 zeigt:
„In der Migrationspolitik führt der Bezug zur Zeitdiagnose
der Wissensgesellschaft … (zu) einer noch intensiveren Steuerung,
externen (Einreisebedingungen) und internen sozialrechtlichen
Kontrollen sowie zu einer stärkeren ökonomistischen
Selektion der transnationalen Migration“.
Fazit
Jeder affirmative Versuch, den Zustand der Gesellschaft in der Einen Welt zeitdiagnostisch zu beschreiben und mit dem gegenwartsbezogenen und durchaus in die Zukunft gerichteten Blick festzustellen, dass wir Hier in einer Wissensgesellschaft leben, muss sich ja orientieren an dem, was Menschen zu Menschen macht, nämlich der Überzeugung, dass der Mensch von Natur aus danach strebt und dazu befähigt ist, ein gutes Leben zu führen (Aristoteles). Die Frage danach also, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, ist eine Anforderung und Herausforderung für alltägliches und gesellschaftliches Dasein.
Das Autorenteam legt mit dem „Handbuch Wissensgesellschaft“ eine Auswahl von Texten und Reflexionen vor, die als Mosaiksteinchen für ein Studium in den sozialwissenschaftlichen Fächern und darüber hinaus dienen sollen; als Nachschlagewerk für den disziplinären und interdisziplinären Diskurs, als Hinweise für theoretische, historische und aktuelle Grundlagen und Erklärungsmuster für die Frage, wie wir geworden sind, was wir sind und sein wollen, Hier und Heute und Morgen. Wie jedes Mosaiksteinchen sich vom Material her, der Struktur, der Form und Farbe passgenau einfügen sollte in ein Gesamtbild, so können auch die vorgestellten Quellentexte und Literaturhinweise nur ein Passepartout sein für einen individuellen, human- und gesellschaftsorientierten Wissenserwerb, für Studierende und Suchende jeder Couleur!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 21.12.2010 zu:
Anina Engelhardt, Laura Kajetzke (Hrsg.): Handbuch Wissensgesellschaft. Theorien, Themen und Probleme. transcript
(Bielefeld) 2010.
ISBN 978-3-8376-1324-7.
Reihe: Sozialtheorie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10463.php, Datum des Zugriffs 27.03.2023.
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