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Christoph Broszies, Henning Hahn (Hrsg.): Globale Gerechtigkeit

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 22.12.2010

Cover Christoph  Broszies, Henning Hahn (Hrsg.): Globale Gerechtigkeit ISBN 978-3-518-29569-4

Christoph Broszies, Henning Hahn (Hrsg.): Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus. Suhrkamp Verlag (Frankfurt/M) 2010. 480 Seiten. ISBN 978-3-518-29569-4. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR, CH: 24,50 sFr.
Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft - 1969.

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Domäne der Gerechtigkeit

Die dikaiosynê, die Gerechtigkeit, wird bereits bei den griechischen Philosophen als Rechtssinn und Grundauffassung vom guten und richtigen Leben formuliert. Platon stellt sie als Tugend der Tugend über alle anderen Denk- und Verhaltensweisen der Menschen; und Aristoteles unterscheidet zwischen der ausgleichenden und austeilenden Gerechtigkeit. Während in der ersteren Tugend die Rechts- und Gesetzesgerechtigkeit zum Ausdruck kommt, geht es in der zweiten Ausdifferenzierung um die Verteilungsgerechtigkeit. Über allem aber steht, was in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 festgestellt wird: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“. Mit Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ (1971/1975) wird die neuzeitliche Auffassung konkretisiert durch die Festlegung zum einen auf die Prinzipien Freiheit und Gleichheit, zum anderen durch die Forderung nach sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit für jeden Menschen.

Entstehungshintergrund und Herausgeber

Die Feststellung, dass unsere Welt, in der wir Menschen leben, nicht gerecht sei, ist eine vielfach wiederholte, in Analysen und Prognosen festgestellte Tatsache. Diesen Zustand der Ungerechtigkeit in der Welt zu beseitigen, unternehmen immer wieder Individuen und Institutionen Anstrengungen, stellen Forderungen und legen Lösungsansätze und Strategien vor, wie ein humanes, gerechtes und friedliches Leben aller Menschen auf der Erde theoretisch begründet und praktisch zustande gebracht werden kann (vgl. auch die Rezension zu Jörn Rüsen, Hg., Perspektiven der Humanität. Menschsein im Diskurs der Disziplinen, Bielefeld 2010; sowie die Rezension zu J. A. Goedhart, Über-Leben, Halle 2006).

Die Suche nach globalen Gerechtigkeitsperspektiven beginnen und enden immer in der Zusammenschau der lokalen und globalen menschlichen Bedürfnisse und Hoffnungen. Im philosophischen, ethischen, gesellschaftlichen und politischen Theoriediskurs zur globalen Gerechtigkeitsproblematik haben sich im wesentlichen zwei Auffassungen herausgebildet, die sich argumentativ und praktisch konträr gegenüber stehen. Die wissenschaftliche Debatte reicht dabei von der Suche nach Anschluss-Argumenten, bis hin zur themen- und auffassungszentrierten Beweisführung: Kosmopolitismus versus Partikularismus. Während auf der einen Seite der „gerechtigkeitstheoretische Kosmopolitismus“ die globale Gerechtigkeit und die moralische Bedeutsamkeit als Grundpfeiler der Theorie setzen, stellt der „gerechtigkeitstheoretische Partikularismus“ fest, dass sich die „Gerechtigkeitsprinzipien nicht über den gesamten Erdball erstrecken, sondern dass sie auf ganz bestimmte Domänen der Gerechtigkeit beschränkt sind“.

Die beiden Herausgeber der Textsammlung, der Politikwissenschaftler Christian Broszies von der Goethe-Universität in Frankfurt/M. und der Philosoph an der Universität Kassel, Henning Hahn, beschäftigen sich seit langem mit Fragen der globalen Gerechtigkeit, etwa auch beim gemeinsamen Forschungsprojekt "Die Herausbildung normativer Ordnungen". Es ist die Frage „Wie weit reicht der Geltungsbereich von Gerechtigkeitsprinzipien?“, also nach der Domäne der Gerechtigkeit, die Anlass der Schlüsseltext-Auswahl ist. In der Herleitung ihrer Motive und Festlegung der Kriterien für die ausgesuchten Texte stellen die Herausgeber die Vorgeschichte der Debatte vor, diskutieren die Auseinandersetzungen um die Theoriebildungen, formulieren mit der Frage „Was ist globale Gerechtigkeit?“ die Streitpunkte und Konvergenzen im Diskurs. Sie stellen dabei fest, dass in der aktuellen Debatte um die Frage nach der „richtigen“ Gerechtigkeit die konträren Positionen immer härter (und unversöhnlicher?) aufeinander treffen. Die Suche nach einem Konsens könne dabei jedoch nicht heißen, „Gerechtigkeit als Staatsangelegenheit versus Gerechtigkeit als weltrepublikanische Utopie“, sondern es gehe in der Wirklichkeit der Welt um „die theoretische nach der richtigen Methode der globalen Gerechtigkeitstheorie oder die praktische Frage nach der konkreten Verantwortung für bestimmte Risiken“.

Aufbau

Die Herausgeber gliedern ihre Textauswahl in drei Bereiche.

Während im ersten Teil drei Schlüsseltexte zu den Positionen des Partikularismus abgedruckt werden (Rawls, Nagel, Miller), werden im zweiten Kapitel sechs Texte zum Kosmopolitismus präsentiert (Beitz, Nussbaum, Höffe, Pogge, Moellendorf und Young) und im dritten Teil drei Auszüge aus Überlegungen zur „Weltpolitik und Kritischen Theorie“ vorgestellt (Habermas, Benhabib, Forst).

1. Die Schlüsseltexte

Mit seiner „Gerechtigkeitstheorie“, die er in seinem Text „Das Völkerrecht“ am Beispiel der völkerrechtlichen Grundsätze formuliert, macht der amerikanischer Philosoph John Rawls (1921 – 2002) deutlich, dass die Gerechtigkeit eines Gesellschaftsmodells davon abhinge, „wie die Grundrechte und -pflichten und die wirtschaftlichen Möglichkeiten und sozialen Verhältnisse in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft bestimmt werden“; es seien also die „Prinzipien der Fairness“ zu beachten und die Grundlagen, dass „jede Lehre vom Gesellschaftsvertrag universelle Reichweite besitzt“. Rawls tritt für einen „sozialen Liberalismus“ ein, der sich daraus ergäbe, dass „die Menschen im Urzustand zwei (…) Grundsätze wählen würden: einmal die Gleichheit der Grundrechte und -pflichten; zum anderen den Grundsatz, dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, etwa verschiedener Reichtum oder verschiedene Macht, nur dann gerecht sind, wenn sich aus ihnen Vorteile für jedermann ergeben, insbesondere für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft“. Es sei nicht wahrscheinlich, dass die Einhaltung der völkerrechtlichen Prinzipien „für liberale, demokratische Gesellschaften nicht zur Herstellung eines Weltstaates führt, sondern zur Übernahme einiger bekannter Gerechtigkeitsgrundsätze und darüber hinaus zur Schaffung diverser Formen kooperativer Gemeinschaft zwischen demokratischen Völkern“. Die Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen formuliert wurden, bringen für Rawls deshalb den „Mindeststandard wohlgeordneter politischer Institutionen all jener Völker zum Ausdruck, die ordentliche Mitglieder einer gerechten Völkergemeinschaft sind“. Dieses „vernünftige Völkerrecht“ basiert auf der Hoffnung, dass es im Sinne des Bewusstseins vom „Schleier der Unwissenheit“ (vgl. dazu die Rezension zu Anina Engelhardt / Laura Kajetzke, Hg., Handbuch Wissensgesellschaft. Theorien, Themen und Probleme, Bielefeld 2010) darauf ankomme, „die Grundfragen der Verfassung, der Grundrechte und Grundfreiheiten… durch eine öffentliche politische Konzeption von Gerechtigkeit“ zu klären.

Auch der amerikanischer Philosoph von der New York University School of Law, Thomas Nagel (geb. 1937) stimmt überein, dass sich Gerechtigkeitsprinzipien nicht aus einem universellen, moralischen Prinzip ableiten ließen, sondern im politischen und gesellschaftlichen Zusammenhang konstruiert werden müssten. Den Text seines 2004 gehaltenen Vortrags über das „Problem globaler Gerechtigkeit“ haben die Herausgeber ausgewählt. Das Verhältnis von Gerechtigkeit und Souveränität bestimmt Nagel in einer partikularistischen Weise: „Das Fehlen einer globalen Souveränität ist für die Gerechtigkeit der Beziehungen zwischen den Bürgern souveräner Staaten kein Hindernis“, was bedeutet, dass der Frage der Legitimität eine besondere und konstitutive Bedeutung zukommt; und zwar in erster Linie der nationalstaatlichen Legitimation, denn „wenn wir uns die historische Entwicklung der Gerechtigkeits- und Legitimitätskonzeptionen für den Nationalstaat ansehen, scheint es gewöhnlich so zu sein, dass die Souveränität der Legitimität vorangeht“. Er ist freilich nicht so optimistisch, dass diese beiden Konzeptionen einmal deckungsgleich entstehen würden; vielmehr ist Nagel der Meinung, „dass die Macht derer, die sie bereits innehaben, weiter anwächst und dass sie sie in ihrem Interesse einsetzen“. Das klingt beinahe zynisch, entspricht aber der Logik seiner Argumentation: „Der Weg von der Anarchie zur Gerechtigkeit muss über Ungerechtigkeit führen“.

Der britische Philosoph David W. Miller (geb. 1942) gilt als Vertreter des kritischen Rationalismus und des liberalen Nationalismus. Im ausgewählten Aufsatz „Vernünftige Parteilichkeit gegenüber Landsleuten“ (2003) geht es im wesentlichen um die „Geteilte-Ebenen-Position“: Gibt es Bindungs-Verpflichtungen, die bei besonderen Beziehungen, etwa familiären (lokalen), wirksam sind, aber nicht in gleicher Weise bei fernen (globalen) Situationen gelten? Zwar baut Miller hierbei keinen konfrontativen Vergleich auf und bringt die intrinsische Beziehung im Gegensatz zu den Beziehungen mit globaler Reichweite; doch in seiner Zweiteilung von sozialen Gerechtigkeitspflichten und internationalen Fairnesspflichten gerät er in eine Sackgasse, die er mit seiner eigenen Wortwahl charakterisiert: Die Herausforderung bestehe darin „auszuarbeiten, wann genau globale Pflichten lokale übertrumpfen sollten, wann umgekehrt lokale Pflichten globale übertrumpfen sollten“. Ein Satz wie „lokal denken und global handeln“ käme dem Autor vermutlich nicht über die Lippen; oder höchstens mit der Präferenz des nationalen Vorausschritts.

2. Texte zum Kosmopolitismus

Im zweiten Kapitel kommen die Theoretiker zu Wort, die in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen) Welt kosmopolitische Lösungsansätze gegen das Auseinandertriften der Welten sehen. Der Politikwissenschaftler Charles R. Beitz lehrt an der Universität Princeton / New Jersey (USA). Seine Hauptwerke, wie „The Idea of Human Rights“, „Political Equality“, „Global Basic Rights“ und „Political Theorie and International Relations“ machen seine Denk- und Arbeitsfelder deutlich. In seinem Aufsatz „Gerechtigkeit und internationale Beziehungen“ setzt er sich im wesentlichen kritisch mit der Rawls´schen Gerechtigkeitstheorie auseinander und skizziert „das Verhältnis einer idealen Theorie internationaler Gerechtigkeit zu einigen typischen Problemen in der nichtidealen Welt“. Weil die „Verteilungsgerechtigkeit“ im traditionellen Sinn den souveränen Staat im Blick hat, der ethisch, moralisch und human zwar die eigenen Vorteile favorisiert, aber die globalen zu berücksichtigen versucht, im Interdependenz- und Globalisierungssystem so nicht greift und insbesondere die Ressourcenverteilung unberücksichtigt lässt, bedarf es der Suche nach globalen Formen der sozialen Kooperation.

Die Rechtswissenschaftlerin an der Universität von Chicago, Martha C. Nussbaum, fragt in ihrem Beitrag „Jenseits des Gesellschaftsvertrags“ nach den menschlichen Fähigkeiten, die eine globale Gerechtigkeit zustande bringen können. Dabei arbeitet sie sich ebenfalls erst einmal an Rawls’ Gerechtigkeitstheorie ab, indem sie feststellt: „Die Welt ist voller Ungleichheiten, die moralisch gesehen alarmierend sind, und der Abstand zwischen reichen und armen Ländern vergrößert sich zunehmend“. In ihrer Argumentation, bei der sie in großen Zügen mit Amartya Senn übereinstimmt, favorisiert sie den „Fähigkeitenansatz“, bei dem basale menschliche Ansprüche formuliert werden, die ein Minimum dessen ermöglichen, was die Forderung nach Gerechtigkeit für alle Menschen verlangt. Ihre These: Soziale Gerechtigkeit lässt sich nicht verwirklichen, „solange wir internationale Kooperation nach dem Muster eines Vertrags verstehen, den auf ähnliche Weise situierte Parteien in einem Naturzustand zum gegenseitigen Vorteil schließen“. Damit greift sie diametral die traditionelle Vorstellung an, dass es für alle (Völker) vorteilhaft sei, wenn sie miteinander kooperierten. Martha Nussbaum hingegen argumentiert, dass es lokal und global aussichtsreicher sei, dass die Menschen Hier, Heute und Morgen in einer gerechten und moralisch achtbaren Welt leben können, wenn es gelingt, den „Menschen die für ein im vollen Sinne menschlichen Lebens notwendigen Bedingungen zur Verfügung zu stellen“. Diesen „Fähigkeitenansatz“ formuliert die Autorin schließlich in „zehn Prinzipien für eine globale Struktur“ aus.

Der Tübinger Philosoph Otfried Höffe setzt sich in seinem Text „Für und wider eine Weltrepublik“ (vgl. dazu auch Ofried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 2002, Rezension in: BerlinerLiteraturkritik) zum einen mit dem (grundsätzlichen) Verhältnis von Philosophie und Politik“ auseinander; zum anderen zeigt er exemplarisch den kontroversen Diskurs um die Entwicklung einer internationalen Rechtsgemeinschaft auf. Dabei plädiert er für eine Utopie, die ein Noch-Nicht als Perspektive und Auftrag für die Schaffung eines Weltbürgerrechts und einen Weltstaat mit demokratischer Verfassung. Die möglichen Wege dorthin verlaufen nicht auf der Schnellstraße, nicht direkt in einer Richtung; Umwege, als Zugeständnisse für den Aufbau einer Weltrepublik, werden notwendig sein: und es bedarf Zwischenlösungen, die etwa bei den staatlichen Großregionen und Zusammenschlüssen, etwa in Europa, beginnen müssen. Die zukünftigen „Weltbürger“ freilich sind gefordert mit real-utopischen Erwartungen und einer, wie Hans A. Pestalozzi dies ausgedrückt hat, „positiven Subversion“.

Thomas Pogge, Professor für Philosophie und Internationale Beziehungen an der Yale-Universität, stellt sich mit seinem Beitrag „Armenhilfe ins Ausland“ gegen die von John Rawls formulierten und im internationalen Sprachgebrauch gängigen Forderungen nach einer Weltwirtschaftsgerechtigkeit: „Völker sind verpflichtet, anderen Völkern zu helfen, wenn diese unter ungünstigen Bedingungen leben, welche verhindern, dass sie eine gerechte oder achtbare politische und soziale Ordnung haben“. Dahinter steckt die Rawls’sche These von der „rein innerstaatlich verursachten Armut“ (RIAT). Bei der Ursachensuche braucht er nicht bei Adam und Eva anzufangen; zahlreiche Forderungen zur Veränderung der ungerechten Weltwirtschaftsordnung liegen seit Jahrzehnten vor (vgl. dazu Asit Datta, Welthandel und Welthunger, 1984); und sie werden weiterhin engagiert diskutiert (z. B. bei den Hannah-Arendt-Lectures 2009 in Hannover (Detlef Horster, Hrsg., Welthunger durch Weltwirtschaft, Weilerswist 2010, vgl. die Rezension zu).

Der Philosophie an der kalifornischen San Diego State Universität lehrende Darrel Moellendorf nimmt die von den Vereinten Nationen 1948 proklamierte Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Internationalen Menschenrechtspakte von 1966 zum Anlass, über „Menschenwürde, Gleichheit und globale Gerechtigkeit“ zu reflektieren. Rechtsnormen, die einen humanitären und globalen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, bedürfen der Rückfrage nach ihrer Legitimität und Repräsentativität; vor allem dann, wenn, wie in diesen Fällen, die meisten Länder der Erde diesen Deklarationen zugestimmt haben. Es ist die ungerechte Verteilung der (wirtschaftlichen) Güter, die globale Gerechtigkeit bisher unmöglich macht. Moellendorf führt dagegen das „Prinzip assoziativer Gerechtigkeit“ ein. Um damit keiner Fehlinterpretation zu unterliegen, muss darauf verwiesen werden, dass Moellendorf damit keinesfalls die Steinersche Benennung meint, sondern eher die Auffassung, dass „Gesellschaften ( ) heute und künftig erfolgreicher zu sein (vermögen) als ungleiche Gesellschaften“ (vgl. dazu die Rezension zu Bernhard H. F. Taureck, Gleichheit für Fortgeschrittene. Jenseits von ’Gier’ und ’Neid’, München 2010).

Die Politologin Iris Marion Young (+ 2006), die an der Universität von Chicago Politische Theorien lehrte, vertritt in ihrem Beitrag „Verantwortung und globale Gerechtigkeit“, dass es sich dabei um strukturelle Ungerechtigkeit handelt, die sich aus Ausbeutung, Bereicherung und Macht speist. Mit ihrem „Modell von Verantwortung aus sozialer Verbundenheit“ widerlegt sie die gängige Auffassung, dass Gerechtigkeitspflichten nur zwischen denjenigen gelten, die in einer einzelnen politischen Gemeinschaft unter einer gemeinsamen Verfassung leben; vielmehr entstünden, so die Autorin „Gerechtigkeitspflichten zwischen Personen durch soziale Prozesse“. Diese individuellen und lokal entstehenden Prozesse weiten sich zu globalen aus. Sie untersucht, wie die Verantwortungen der Akteure in Beziehung zu diesen globalen Prozessen stehen. Es sind die Substitute Macht, Privileg, Interesse und kollektive Fähigkeit, die es auf dem Weg hin zur globalen Gerechtigkeit zu beachten und in ihren Wirkungen auf strukturelle Ungerechtigkeit zu analysieren gilt.: „Globale soziale und ökonomische Prozesse bringen Individuen und Institutionen in eine andauernde strukturelle Verbindung, die über nationale Rechtsräume hinausreicht“.

3. Überlegungen zur „Weltpolitik und Kritischen Theorie“

Im dritten Kapitel „Weltpolitik und Kritische Theorie“ werden drei Texte vorgestellt. Jürgen Habermas fragt in seinem Beitrag: „Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?“. Im Übergang von der Kantischen weltbürgerlichen Ordnung hin zur „postnationalen Konstellation einer Weltgesellschaft“ bedarf es der Übertragung der Bürger- und Menschenrechte von der nationalen auf die internationale Ebene, was verbunden ist mit dem „Welt“-Schritt der „Umformung des internationalen Rechts (als eines Rechts der Staaten) in ein Weltbürgerrecht (als ein Recht von Individuen)“. Gelingt dies, braucht es keine Weltregierung, sondern eine „Weltinnenpolitik… im Rahmen einer Weltorganisation, die Frieden und die Implementierung von Menschenrechten (auf der Grundlage einer supranationalen Verfassung und einer demokratischen Legitimation, J.S.) erzwingen kann“.

Die Politikwissenschaftlerin an der Universität Yale, Seyla Benhabib, will wissen: „Gibt es ein Menschenrecht auf Demokratie?“. In ihrer zivilgesellschaftlichen Argumentation bewegt sie sich dabei zwischen der Diskrepanz, die im kontroversen Diskurs um die Menschenrechte mit der Festlegung bzw. Infragestellung der „Allgemeingültigkeit“ und „Unaufhebbarkeit“ der Menschenrechte virulent ist. Sie setzt sich ein für einen legitimationsnotwendigen öffentlichen Diskurs „jenseits von Interventionspolitik und Gleichgültigkeit“. Sie plädiert für einen Universalismus, der nicht „auf einer Wesensbestimmung der menschlichen Natur auf(baut)… Er gründet vielmehr in den Erfahrungen einer sich über Gegensätze, Konflikte, Absonderungen und Kämpfe hinweg durchsetzenden Gemeinsamkeit“, als ein anzustrebendes moralisches Ziel und keine feststehende, unverrückbare Tatsache. Um von den lähmenden Interventions- und Relativierungsdiskursen beim globalen Menschenrechtsdiskurs weg zu kommen, bedarf es eines neuen, humanitären Interventions- und schließlich auch eines Legitimationsrechts, um die Menschenrechte als humane, ethische und moralische Grundrechte durchzusetzen (vgl. dazu auch die Rezension zu Seyle Benhabib, Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger, Frankfurt/M., 2008 (Rezension).

Der an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/M. tätige Philosoph Rainer Forst setzt sich in seinem Beitrag „Zu einer kritischen Theorie transnationaler Gerechtigkeit“ zum einen mit den in den einzelnen Texten vorgestellten kosmopolitischen und partikularistischen Positionen auseinander und diskutiert zum anderen Grundelemente einer Theorie, in der es darum geht, fundamentale Gerechtigkeit(en) zu etablieren. Dazu ist für Forst unabdingbar, „die Frage der Macht (als) die erste Frage der Gerechtigkeit“ zu stellen. Denn es ist die Forderung nach der „Fundamentalgerechtigkeit“, die es im Zusammenhang der „Pluralität von Gerechtigkeitsgesichtspunkten“ nicht aus den Augen und der Theoriebildung zu verlieren gilt.

Fazit

Die Auswahl der Schlüsseltexte um die Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus und zur Theoriebildung um die Domäne „Globale Gerechtigkeit“ ergibt sich für die Herausgeber zum einen aus der „viele Jahre zurückreichenden(n) Beschäftigung mit Fragen globaler Gerechtigkeit“, zum anderen aber auch durch die aktuellen und kontroversen wissenschaftlichen, politischen und lokal- und globalgesellschaftlichen Debatten. Die Fragen danach, wie wir leben wollen, angesichts der Interdependenzen in der (Einen) Welt, changieren ja zwischen Weltrisikogesellschaft (Ulrich Beck) und empathischer Zivilisation (vgl. die Rezension zu Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, Frankfurt/M. 2010). Die Frage nach der globalen Gerechtigkeit steht dabei immer als Angelpunkt zur Diskussion.

Es ist deshalb verdienstvoll, eine Auswahl von Quellentexten zur Thematik vorzulegen, die ohne Zweifel eine existentielle Menschheitsbedeutung haben. In der Reihe „Basis-Scripte. Reader Kulturwissenschaften“ haben kürzlich Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat und Thomas Hauschild Schlüsseltexte zu den zentralen und aktuellen Wissensgebieten innerhalb der Kulturwissenschaften vorgelegt (Kulturtheorie, Bielefeld 2010, vgl die die Rezension). Mit dem in der Reihe „Wissenschaft“ des Suhrkamp Verlags vorgelegtem Taschenbuch stw 1969 wird für Studierende und am (unbefriedigenden) Zustand der Welt Interessierten eine Informations- und Studienhilfe vorgelegt, die Anlass dazu bietet, globale Gerechtigkeit als oberstes Ziel für eine gerechtere, humanere und friedlichere EINE WELT mit zu denken und mit zu gestalten.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 22.12.2010 zu: Christoph Broszies, Henning Hahn (Hrsg.): Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus. Suhrkamp Verlag (Frankfurt/M) 2010. ISBN 978-3-518-29569-4. Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft - 1969. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10481.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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