Worldwatch Institute (Hrsg.): Zur Lage der Welt 2010
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 25.01.2011

Worldwatch Institute (Hrsg.): Zur Lage der Welt 2010. Einfach besser leben. Nachhaltigkeit als neuer Lebensstil.
oekom Verlag
(München) 2010.
316 Seiten.
ISBN 978-3-86581-202-5.
In Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch.
„Wenn das System falsch programmiert ist, stößt der gute Wille des Einzelnen an Grenzen“
Alljährlich erscheint mit drängender Regelmäßigkeit der Bericht des Washingtoner Worldwatch Institute, in etwas zeitverzögerter und ergänzender Form auch in deutscher Sprache – diesmal gar erst zum Ende des Jahres 2010 – als Weltzustandsbeschreibung; im vergangenen Jahr mit der Warnung vor der Überhitzung des Planeten Erde (Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2009, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2009, in: socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/7730.php). Und in diesem Jahr? Haben sich im Vergleich zum vergangenen Jahr Veränderungen hin zum Guten ergeben? Hat die Menschheit gelernt, dass sie auf einem labilen Stern lebt, der nicht ungestraft durch menschliches Tun be- und überlastet werden kann? Dass, was bereits die UN-Weltkommission für Kultur und Entwicklung 1995 als Appell ausgab – wie bereits vorher der Club of Rome und andere Institutionen – die Menschheit vor der Herausforderung stehe, umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, also neue Lebensformen finden müsse, gilt in noch dringenderem Maße heute und morgen. Aber ist es getan mit Appellen, die verhallen und insbesondere von denen, die vom lokalen und globalen „Durchflusswachstum“ (Brundtland-Bericht) profitieren, geflissentlich nicht zur Kenntnis genommen und als unangemessene Kassandrarufe diskriminiert werden? Zwar wird immer wieder betont, dass nachhaltiges Denken und Handeln bei den Individuen beginnen müsse, indem sie ihre Lebensgewohnheiten und –ansprüche ändern, insbesondere die Wohlhabenden in der Welt; doch die Triebkräfte von Konsumismus und Kapitalismus wirken scheinbar urwüchsig weiter (vgl. dazu die zahlreichen Analysen, wie sie auch in socialnet besprochen und diskutiert werden, u. a.: Christian Stenner, Hrsg., Kritik des Kapitalismus, Promedia Verlagsgesellschaft, Wien 2010, in: socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/9013.php).
Die Berichte des Worldwatch Institute zeichnen sich dadurch aus, dass sie zwar die teilweise katastrophalen globalen Entwicklungen deutlich benennen, sie aber nicht als unveränderbar darstellen, sondern das positive und aktive Prinzip vertreten: Eine andere Welt zu schaffen, ist den Menschen möglich und gegeben! Deshalb stehen im Mittelpunkt der aktuellen Weltanalyse positive Beispiele, in der Hoffnung, dass die Menschheit lernfähig ist.
Aufbau und Einführungen
Ralf Fücks vom Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung und Klaus Milke, Vorstandsvorsitzender von Germanwatch, leiten die deutsche Herausgabe des Berichts zur Lage der Welt2010 ein, indem sie auffordern, dass „mehr ökologische Rücksicht und Weitsicht ( ) für Alle zum elften Gebot werden (muss)“ – und dabei diese Eigenschaften sogar zu mehr Lebensqualität führen würden: „Nicht immer mehr, sondern anders bzw. einfach besser ist eine vielversprechende Devise“. Mit dieser optimistischen Einschätzung titeln die Herausgeber gleichzeitig den deutschen Bericht.
Der Gründer der Grameen Bank und Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus begrüßt in seinem Vorwort den im Bericht ausgewiesenen kulturellen Paradigmenwechsel „von einer Kultur des Konsumismus zu einer Kultur der Nachhaltigkeit“. Der Präsident des Washingtoner Worldwatch Institute, Christopher Flavin, weist darauf hin, dass in der „Kollision zwischen einem endlichen Planeten und den unendlichen Wünschen der Menschheit“ die Menschen auf der Erde den kürzeren ziehen müssen, gelingt es nicht, eine neue kulturelle Orientierung einzuleiten, die bestimmt ist von der Überzeugung, „der Erde nichts zu nehmen, was sie selbst nicht wieder ersetzen kann“. Das ist keine „grüne Ideologie“, sondern „grünes Bewusstsein“, das, dies sollen die zahlreichen Beispiele eines Perspektivenwechsels zeigen, die Menschen nicht ärmer und unzufriedener, sondern reicher an Lebensqualität machen.
Wasser in den Wein gießen freilich Klaus Milke und Stefan Rostock von Germanwatch mit ihrer Bestandsaufnahme „Trotz Kopenhagen – auf vielen schnellen Wegen zu neuen Gewohnheiten“, nicht zu Unrecht nämlich angesichts der Ergebnisse, die bei der kürzlich zu Ende gegangenen zweiwöchige Weltklimakonferenz in Cancún erreicht wurden. Doch die Beobachter sind sich, trotz der mäßigen Ergebnisse, einig, dass die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich bei den Konferenzen in Kopenhagen und Cancún zu Wort gemeldet haben, eine internationale Einigung erzwingen werden; wenn nicht bereits heute, so doch morgen!
Im deutschen Bericht ist auch die Wortmeldung des Berliner Erziehungswissenschaftlers und Vorsitzenden des Nationalkomitees der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung 2005 – 2014“, Gerhard de Haan, abgedruckt, der mit dem Lern- und Curriculumkonzept eine neue Orientierung hin zur Vermittlung von „Kompetenzen für eine veränderte Konsumkultur“ prognostiziert und formuliert.
Der Projektleiteiter des 2010er Berichts zur Lage der Welt, Erik Assadourian, leitet mit seiner Einführung „Aufstieg und Fall unserer Konsumkultur“ den Perspektivenwechsel ein, indem er die kulturellen Lebensrealitäten der Menschen auf der Erde analysiert. Dabei kommt er zu der (nicht neuen, aber immer wieder neu zu formulierenden) Erkenntnis: „Es erfordert nichts Geringeres als eine umfassende Umwälzung der herrschenden kulturellen Muster, wenn man den Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation verhindern will“. Es sind die sichtbaren Spuren des ökologischen Fußabdrucks, der deutlich macht, „dass die Menschheit heute die Ressourcen und Dienstleistungen von 1,3 Erdbällen in Anspruch nimmt“, also die Menschen die Kapazitäten der Erde, die ihnen zum Überleben zur Verfügung stehen, etwa zu einem Drittel überstrapazieren und die Ökosysteme überbelasten. Der Autor fragt, wo die Wurzeln des Konsumismus- und Kapitalismusdenkens liegen, deckt sie auf und bleibt optimistisch! Weil er der Menschheit „Verstand“ zutraut – und Überlebenswillen und Empathie, Gerechtigkeitsempfinden und Humanität.
Der Bericht zur Lage der Welt 2010 wird in sechs Kapitel gegliedert. Im ersten Teil geht es um „alte und neue Traditionen“; im zweiten wird der „neue Bildungsauftrag Nachhaltigkeit“ diskutiert; im dritten werden für „Unternehmertum und Wirtschaft“ neue Prioritäten für das Management angekündigt; im vierten Kapitel geht es um „die Rolle des Staates“; im fünften wird die Rolle und Bedeutung der Medien „News und Nachhaltigkeit“ reflektiert; und im sechsten Teil wird „die Macht der sozialen Bewegungen“ gewissermaßen als Antriebsriemen für Veränderungen ins Spiel gebracht.
1. Alte und neue Traditionen
Der Experte für nachhaltige Ökonomien beim Worldwatch Institute, Gary Gardner, zeigt anhand von zwei Beispielen auf, wie sich Traditionen verändern können. Im ersten geht es um die Bedeutung der Religionen für kulturelles Denken und Handeln, um Beharren und Erneuern: „Religionen im Dienste der Nachhaltigkeit“. Mit zahlreichen Exempeln, die auch durch herausgehobene Informationskästen, Tabellen und Statistiken erklärt und belegt sind, macht er darauf aufmerksam, dass Religionen tatsächlich in der Lage sein können, ökologisches Denken und Handeln in ihre Botschaften aufzunehmen. Er empfiehlt, dass die Religionen der Welt „ihr eigenes uraltes Wissen über den Materialismus“ ernst nehmen und mit der Botschaft von der Schöpfung verbinden sollten.
Im zweiten Text formuliert Gardner „Ritual und Tabu als Schutzengel der Ökologie“, indem er nach modernen Ritualen für Nachhaltigkeit Ausschau hält und sie gewissermaßen selbstverständlich macht – durch die Ritualisierung des Konsums und damit nicht zum unbedenklichen Selbstverständlichen, sondern zum außergewöhnlichen Exzeptionellen zu machen.
Das Spezialgebiet von Robert Engelman ist die Frage nach der Weltbevölkerung: „Wieviel Kinder dürfen es sein? – Über Familien und Nachhaltigkeit“. Täglich vermehrt sich die Weltbevölkerung und rund 216.000 Menschen, und bei derzeitig etwa 6,8 Milliarden Menschen auf der Erde sind die Grenzen des Bevölkerungswachstums längst erreicht. Der Autor will mit seinem Beitrag zwei Probleme in das Bewusstsein der Menschen bringen: Zum einen das Problem der ungewollten Schwangerschaften; zum anderen will er das Märchen widerlegen, dass Staaten, in denen die Bevölkerung nicht mehr wächst, unweigerlich auf eine „demografische Katastrophe“ hinsteuern würden. Dabei plädiert er für ein kulturell beeinflusstes Reproduktionsverhalten der Menschen, für Aufklärung und Bildung.
Judy Aubel, die im Bereich der Gemeindeentwicklung und Gesundheit in Entwicklungsländern arbeitet, plädiert in ihrem Beitrag für eine neue Aufmerksamkeit: „Die Alten – eine kulturelle Ressource für nachhaltige Entwicklung“. Sie verweist dabei auf eine Diskrepanz, die es zu bedenken gilt: „Die zentrale Rolle der Alten in nicht westlichen Gesellschaften und die zentrale Rolle der Jungen in Entwicklungsprogrammen“. Es gilt, in den Industrieländern wie in den Entwicklungsländern, die Beziehungen zwischen den Generationen im Hinblick auf nachhaltiges Denken und Handeln neu zu regeln.
Die beiden Agronomen Albert Bates und Toby Hemenway diskutieren die Entwicklung „von der Agrikultur zur Permakultur“. Die dramatischen Veränderungen im existentiellen und kulturellen Entwicklungsverlauf in der Welt – „in nur einem Jahrhundert, dem jetzigen, könnte sich das Klima der Erde stärker erwärmen als in den vergangenen 20.000 Jahren“ – erfordern (auch), soll die Menschheit human überleben, eine Veränderung des landwirtschaftlichen Produktionsverhaltens. Die Permakultur (von „permanent agriculture“) setzt auf biologische und ökologische Landwirtschaft; sie „nutzt Synergien und produziert viele Lebensmittel und andere Produkte, reduziert dabei aber im Laufe der Zeit den Arbeits- und Energieinput“.
2. Der neue Bildungsauftrag: Nachhaltigkeit
„Bildung ist“, so formuliert es die UNESCO, die Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsorganisation der Vereinten Nationen, „ein Schlüsselinstrument, um Veränderungen im Wissen, in den Werten, den Verhaltensweisen und den Lebensstilen zu bewirken, die notwendig sind, um Nachhaltigkeit und Stabilität, Demokratie, menschliche Sicherheit und Frieden zu erreichen“.
Die schwedische Erziehungswissenschaftlerin, die sich insbesondere mit Fragen zur frühkindlichen Bildung auseinandersetzt, Ingrid Pramling, und die UNESCO-Programmexpertin für frühkindliche Betreuung und Bildung, Yoshie Kaga, plädieren in ihrem Beitrag „Spielend in die neue Welt“ für eine stärkere Einbeziehung von Bildungs- und Erziehungsformen, die ein nachhaltiges kulturelles Denken und Handeln fördern, und zwar in der Familie, im Kindergarten und Schule, in Nachbarschaftsgruppen, der Gemeinde, im Beruf und in der Gesellschaft.
Die an der Harvard Medical School lehrende Susan Linn, thematisiert ein Problem, das für die Entwicklung der Kinder gravierende Folgen hat: „Der Kommerz im Leben von Kindern“. Die Auswirkungen der Kommerzialisierung für die Entwicklung der Kinder, von den Veränderungen der Spielgewohnheiten, bis zur Ernährung und mangelnder Bewegung, sind besorgniserregend. Es gilt, die durch die Werbung vorangetriebenen negativen Einflüsse auf das Konsumverlangen und –verhalten von Kindern durch kreatives Spielen zurück zu drängen.
Die Wissenschaftler von der Cardiff University in Wales, Kevin Morgan und Roberta Sonnino, setzen sich in ihrem Beitrag „Wer hat Appetit auf Neues?“ mit den Möglichkeiten auseinander, wie Schule Einfluss auf die Ernährung der Schülerinnen und Schüler nehmen kann. Sie plädieren für eine neue Form der „Ethik der Ernährung“, indem sie positive und negative Beispiele von Schulspeisung anführen und eine „Ethik der Versorgung“, in der Schule, der Familie und in der Gesellschaft fordern.
Der Umweltwissenschaftler David W. Ott vom Oberlin College in Ohio, plädiert für eine moderne Hochschulbildung, die sich auf die (mittlerweile allgemein gültige?) Erkenntnis stützt, „dass das moderne Projekt des ökonomischen Wachstums und der Beherrschung der Natur in die Irre führt“. Die Umweltbildung als interdisziplinäre Herausforderung und „eine Übung in angewandter Hoffnung…, die jungen Menschen die Fertigkeiten, die Fähigkeiten, das analytische Rüstzeug, die Kreativität und das Durchhaltevermögen vermitteln, um zu träumen, zu handeln und mutig voranzuschreiten“.
3. Unternehmertum und Wirtschaft: Neue Prioritäten für das Management
Mit dem Bonmot des US-amerikanischen Umweltschützers, Unternehmers und Bestseller-Autors Paul Hawken – „Wir stehlen heute die Zukunft, verkaufen sie in die Gegenwart und nennen das Bruttoinlandsprodukt“ – werden im dritten Kapitel Möglichkeiten, Wirklichkeiten und Visionen aufgezeigt, wie Wirtschaften in unserer überfüllten Welt anders gestaltet werden kann.
Robert Constanza, Ida Kubiszewski und Joshua Farley von der University of Vermont in Burlington im Nordwesten des US-Bundesstaates Vermont, bringen ermunternde Beispiele: „Unternehmen können auch anders“. Voraussetzung dafür ist freilich, dass die in den Unternehmen Tätigen, vom Manager bis zum Techniker und Bandarbeiter, sich ein neues Welt- und Menschenbild aneignen und alte, überkommene Sicht- und Handlungsweisen abstreifen.
Die Wirtschaftswissenschaftlerinnen vom Instituto de Estudios Superiores de la Empresa, einer Einrichtung der spanischen Universität Navarra in Pamplona, die sowohl in Barcelona, Madrid und München Studienstandorte unterhält, Johanna Mair und Kate Ganly, diskutieren die Möglichkeiten „Innovation für Nachhaltigkeit“ bei sozialen Unternehmen zu bewirken. An Beispielen aus Bangladesh, Thailand und Ägypten zeigen sie auf, dass es gelingen kann, „eine Balance (zu) schaffen zwischen ökonomischem Wachstum… und einem Markt- und Politikverständnis, das auf ethischen Bedürfnissen und Ansprüchen basiert und globale Verflechtungen und Ungleichheiten berücksichtigt“ – und verändert.
Der Direktor für Forschung und öffentliche Politik der Business Alliance for Local Living Economies (BALLE), einer US-amerikanischen und kanadischen Bildungs- und Forschungsinitiative, Michael Shuman, plädiert für „Wirtschaft im Kleinen“, indem er rät, die Marktpotentiale im Sinne eines ökologisch orientierten Wirtschaftens, Ge- und Verbrauchens von Gütern zu nutzen. Eine seiner Forderungen: „Steuergelder sollten … in Zukunft ausschließlich zur Förderung der lokalen Ökonomie verwendet werden“.
4. Die Rolle des Staates
Die Erkenntnis, dass ein humanes Überleben der Menschheit entscheidend davon abhängt, inwieweit es gelingt, das individuelle Verhalten der Menschen nachhaltig werden zu lassen, wird immer wieder hervorgehoben (vgl. dazu auch: Jacob A. Goedhart, Über-Leben, Projekte-Verlag Cornelius, Halle 2006, in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/10087.php); es bedarf aber auch stimmiger politischer und wirtschaftlicher Systeme, die dazu anregen und dies zulassen.
Der US-amerikanische Politik- und Umweltwissenschaftler Michael Maniates vom Allegheny College in Pennsylvania zeigt mit seinem Beitrag „Die gelenkte Wahl“ auf, wie man nachhaltiges Verhalten steuern und beeinflussen kann. An mehreren Beispielen verdeutlicht er, dass „Konsumsteuerung“ keine neue Erfindung sei; vielmehr werde sie in der Wirtschaft und Werbung regelmäßig benutzt, um den Konsumenten zu beeinflussen. Eine Konsumsteuerung freilich, die auf den Grundlagen von ökologischem und nachhaltigem Denken beruht, muss sich darauf ausrichten, „ökologisch schädliche Produkte zugunsten umweltfreundlicher Alternativen vom Markt zu verdrängen“ – sicherlich ein Graus für Neoliberalisten; aber für Nachhaltigkeitsdenker eine Zielsetzung zur „Choice Editing“.
Michael Renner, Wissenschaftler am Worldwatch Institute, formuliert: „Sicherheit bedeutet mehr“; mehr nämlich als die Abwesenheit von kriegerischen Konfrontationen, sondern eines erweiterten Sicherheitsbegriffs, „der die Auswirkungen von gesellschaftlichen ökonomischen und ökologischen Dynamiken berücksichtigt, die nicht mit Waffengewalt zu lösen sind“. Es bedarf einer „intelligenten Sicherheitspolitik“, die die Ungerechtigkeiten in der (Einen?) Welt abzuschaffen in der Lage und aufgefordert ist, die vielfältigen Konflikte in der Welt zu lösen. Beispiele dafür gibt es – und Möglichkeiten genug.
Der australische Politikwissenschaftler Peter Newman fordert dazu auf, dass sich die Städte eine Zukunft bauen: „Sustainability and the City“. An mehreren Projekten zeigt er, dass die vielfältigen Initiativen, wie etwa die Abhängigkeit der Stadtbewohner vom Auto beseitigen, Energien ökologisch erzeugen und nutzen, usw., die Lebensqualität der Menschen in den urbanen Gebieten verbessern und einen „planetarischen Lebensstil“ zu praktizieren.
Der südafrikanische Umweltanwalt, Autor und wissenschaftliche Mitarbeiter der University of Cape Town, Cormac Cullinan, greift das Thema „Recht auf Erde“ auf. Er plädiert für eine „Erd-Jurisprudenz“, ein neues Recht auf den Lebensraum Erde, das auf der Grundlage einer gleichen und gerechten Erdgemeinschaft beruht und gesellschaftlich als „ökozentrische Governance-Initiative“ organisiert wird.
5. News und Nachhaltigkeit: Die Rolle der Medien
„Medien können ein sehr effektives Instrument der Kulturprägung sein“; die positiven und negativen Einflüsse des Marketing auf das ökonomische, ökologische, alltägliche wie gesellschaftliche Verhalten und die Einstellungen der Menschen bedürfen, besonders unter dem Gesichtspunkt eines nachhaltigen Lebens, einer intensiveren Beachtung.
Der Designer Jonah Sachs und die Informatikerin Susan Finkelpearl formulieren Überlegungen, wie soziales Marketing möglich ist, indem sie in ihrem Beitrag fragen: „Seifenopern verkaufen oder Nachhaltigkeit?“. Angesichts des enormen Kapitals, das weltweit für Werbung ausgegeben wird, schätzungsweise 643 Milliarden US-Dollar pro Jahr (in den USA: 2008 ca. 271 Mrd.), fragt das Autorenteam, welchen Stellenwert dabei soziales Marketing hat und haben könnte.
Der Kommunikations- und Medienwissenschaftler an der New Yorker Fordham University, Robin Andersen und die Studentin Pamela Miller diskutieren über Medienkompetenz im Nachhaltigkeitsdiskurs: „Was will uns die Werbung damit sagen?“. Sie diagnostizieren, dass die Anstrengungen zur Medienerziehung zwar in den Bildungseinrichtungen und Curricula gestiegen seien, jedoch dabei der Zusammenhang von Medieneinfluss und nachhaltigem Leben unzulänglich berücksichtigt wird. Immerhin: Es gibt Beispiele, wie Medienkompetenz als Bestandteil einer zeitgemäßen und allgemeinen Bildung verstanden wird.
Amy Han weist darauf hin: „Mit Musik beginnt Veränderung“. Die Kraft der Musik, als emotionale und kreative Quelle der Unterhaltung und Aufklärung, gilt es zu nutzen, um gegen die vielfältigen Missstände, die das Leben der Menschen HIER und HEUTE belasten und MORGEN existentiell bedrohen, anzumusizieren und zu mobilisieren für eine sinnvolle, aktive Bewegung für Nachhaltigkeit.
6. Die Macht der sozialen Bewegungen
Der Mensch als zôon politikon, als ein politisches, vernunft-, sprach- und in Gemeinschaften existierendes Lebewesen (Aristoteles), ist in der Lage, soziale Bewegungen zu schaffen, um Menschenrechte durchzusetzen, um in Frieden und Freiheit leben zu können und um Gerechtigkeit in die Welt zu bringen. Das ist eine Vision, wie sie in der Menschheitsgeschichte immer wieder versucht wurde, scheiterte, aber auch in Ansätzen gelang. Dass soziale Bewegungen eine Macht darstellen können, ist keine neue Erkenntnis; auch, dass durch soziale Bewegungen Veränderungen bewirkt werden können, als ein immer wieder neuer Versuch, die Gutwilligen, Aufgeklärten und Humanen zusammen zu bringen und zu vernetzen (vg.: Michael Bommes / Veronika Tacke, Hrsg., Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011, in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/10342.php).
Der Dokumentarfilmer und Leiter des Projektes „Take Back Your Time“, John de Graaf, nimmt mit seinem Beitrag „Die Zeit und die Nachhaltigkeit“ den Gedanken auf, der mittlerweile, zumindest in intellektuellen Kreisen gedacht und diskutiert wird und die Begriffe SLOWLY und SUSTAINABILTY zusammen bringen will; nicht in dem Sinne, sich einfach zurück zu lehnen und auszusteigen, sondern „die Produktionssteigerung gegen Zeit (zu) verrechnen, indem die Arbeitszeit reduziert und gerecht aufgeteilt wird“.
Die Schriftstellerin Cecile Andrews und die Fernsehmoderatorin Wanda Urbanska stoßen in das gleiche Horn, indem sie erklären, „Warum weniger einfach mehr ist“ und eine Philosophie der freiwilligen Einfachheit propagieren. Die zahlreichen Beispiele, die die Autorinnen aus verschiedenen Teilen der Erde anführen, zeigen, dass es möglich ist, Postkonsumkulturen zu schaffen und zu leben.
Der Nachhaltigkeitsforscher und Autor Jonathan Dawson, der im finnischen Ökodorf Findhorn lebt, bringt den Optimismus, der in den Positivbeispielen überall im Weltzustandsbericht 2010 zu finden ist, auf den Punkt: “Ein neuer Geist geht um“; an Orten, wo Menschen zusammen kommen und gemeinsam ökologisch leben, und indem sie zusammen eine Kultur der Nachhaltigkeit erdenken und erproben. Schlüssel dafür sind die Entkoppelung von Wachstum und Wohlergehen, eine Verbundenheit der Menschen an dem Ort, an dem sie leben, die Bekräftigung von indigenen Werten und Lebensweisen und eine ganzheitliche, auf Erfahrung beruhende Bildungsethik.
Fazit
Wir leben in EINER WELT. Das ist leicht dahin gesagt – doch wie schwer ist es, diese Tatsache in unsere Köpfe und Herzen zu bringen. Allzu verführerisch ist es, unser gewohntes IMMER-WEITER-IMMER-SCHNELLER-IMMER-MEHR-Denken weiter zu leben, und wie schwer, die Kultur des Konsumismus gegen eine Kultur der Nachhaltigkeit auszutauschen. Doch wenn die Menschheit human überleben will, gibt es keine Ausreden, kein Aussitzen und keine „Es-wird-schon-nicht-so-schlimm-kommen“-Einstellung mehr. Wir leben in einem globalen Dorf (vgl. dazu: Josef Nußbaumer / Andreas Exenberger, Hrsg., Unser kleines Dorf: Eine Welt mit 100 Menschen, IMT Verlag, Kufstein 2010, in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/10572.php), was eigentlich bedeutet, dass Jeder Jeden kennen und sich – im eigenen und im Interesse der Mitbewohner bemühen sollte, die Verhältnisse im Dorf zu verstehen und da, wo es hakt, anzupacken!
Der diesjährige Bericht des Worldwatch Institute „Zur Lage der Welt 2010“ hat den eingängigen Titel: „Einfach besser leben“; jedes der drei Worte umfasst ein Gebirge von Interpretationen. Die kurz gefassten Beiträge sind nicht in hoch komplizierten wissenschaftlichen Paketen verpackt, sondern sie sind geschrieben in einfachen, verständlichen Formulierungen. Das ist gut, und das ist Absicht; denn über die Notwendigkeit, einen Richtungs- und Perspektivenwechsel für eine humane, nachhaltige Weiterexistenz der Menschheit durchzuführen, ist in den letzten Jahrzehnten vielfach geschrieben, in internationalen Konferenzen und Weltkommissionen debattiert worden, mit manchen Ergebnissen, die in die richtige Richtung weisen; viel zu oft aber mit ego- und ethnozentrierten Bedenken verhindern, zumindest aber verzögern, dass die Menschheit zu einer Kultur der Nachhaltigkeit findet. Es ist gut, dass im diesjährigen Bericht die Bedeutung der Bildungsaufklärung und des –bewusstseins besonders hervorgehoben wird; denn Lernen und Lehren bildet (vgl. dazu auch: Karl-Josef Pazzini, Hrsg., Lehren bildet? Vom Rätsel unserer Lehranstalten, transcript Verlag, Bielefeld 2010, in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/10560.php).
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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