Susanne Steinert: Kindzentrierte Lerntherapie
Rezensiert von Dipl.-Psych. Tobias Eisenmann, 07.12.2011

Susanne Steinert: Kindzentrierte Lerntherapie. Entwicklung, Anwendung und Evaluation einer prozessbegleitenden und -unterstützenden Rahmenintervention im Längsschnittdesign.
Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2010.
445 Seiten.
ISBN 978-3-8300-5100-8.
98,00 EUR.
Schriftenreihe Schriften zur pädagogischen Psychologie - Band 46.
Thema
Susanne Steinert beschreibt im zu rezensierenden Buch die Entwicklung und Anwendung einer integrativen Lerntherapie in Kombination mit einer systemisch-lösungsorientierten Rahmenintervention namens KindZIEL („Kindzentrierte Zielbestimmung und Erfolgsprüfung im Lernprozess“) für solche Kinder, die an einer Lese-Rechtschreibschwäche oder einer anderen Lernstörung leiden. Eine der zentralen Charakteristika dieser Intervention ist die Miteinbeziehung der Familie und weiterer wichtiger Personen aus dem direkten Umfeld des Kindes, wie beispielsweise von Lehrkräften. Einen weiteren großen Teil des Buches nimmt die Evaluation der vorgestellten Lerntherapie ein.
Autorin
Dr. Susanne Steinert, Diplom-Pädagogin, ist ausgebildete Familientherapeutin (DGSF) und Lerntherapeutin im Fachverband für integrative Lerntherapie e.V. und unterstützt seit 1990 außerschulisch Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten und Schulängsten. Außerdem arbeitet sie als Lehrbeauftragte der Universität Flensburg für die Fachbereiche Pädagogik und Psychologie.
Entstehungshintergrund
Das vorliegende Buch ist eine Forschungsarbeit, deren Konzeption Steinert angeregt durch ihre langjährige Tätigkeit als Lerntherapeutin aufnahm. Als Grundlage dienten ihr hierbei die konzeptionellen Richtlinien des Fachverbands für integrative Lerntherapie e.V. (FiL), die sich im Wesentlichen auf die Erkenntnisse der beiden Gründer der Integrativen Lerntherapie, Helga Breuninger und Dieter Betz stützen. Di Autorin sah jedoch insofern Handlungsbedarf, da die Ansätze ihrer Ansicht nach zu theoretisch und abstrakt gehalten waren. Außerdem nahm sie sich zum Ziel, systemische Ansätze in ihr Programm zu integrieren. KindZIEL stelle hierbei nur exemplarisch eine von vielen neuen Methoden dar, die Möglichkeiten der Einbindung systemischen Denkens und Handelns in die Integrative Lerntherapie sei damit noch nicht ausgeschöpft (S. 90).
Das Buch stellt offenbar die Dissertation von Steinert dar und ist in der Schriftenreihe zur pädagogischen Psychologie des Verlags erschienen.
Aufbau
Die Arbeit lässt sich grob in die folgenden vier Teile gliedern. Die Einführung bietet dem Leser die Grundlagen, auf die sich die KindZIEL-Methode stützt. Anschließend wird die Entwicklung der KindZIEL-Methode dargestellt und erklärt, wie die Anwendung vonstattengeht. Der darauf folgende Teil ist ganz der Evaluation der Methode gewidmet. Am Ende des Buches stehen eine Diskussion und mögliche Ideen einer Modifikation der zuvor besprochenen Intervention. Der Anhang bietet zahlreiche Handreichungen und zusätzliche Informationen zu KindZIEL.
Inhalt
In den ersten beiden Kapiteln werden
die Hintergründe der Forschungsarbeit aufgezeigt und die
wesentlichen Grundlagen vorgestellt, die für das Verständnis
des Buches wichtig sind. Das Fundament des
KindZIEL-Interventionsprogramms stellt eine systemische Grundhaltung
des Therapeuten dar, die sich auch in der Konzeption der Intervention
wiederspiegelt. Dies bedeutet konkret, dass im Mittelpunkt des
Programms nicht nur das förderungsbedürftige Kind steht, sondern
auch das Umfeld. So fordert die Autorin, dass sowohl Eltern
(Elternberatung), wie auch Lehrer (Zusammenarbeit mit der Schule) bei
Bedarf einbezogen werden. Die Familie und das gesamte soziale Umfeld
eines Menschen wird nach systemischem Verständnis als komplexes und
zusammenhängendes System angesehen, das – einem Mobile gleich –
sensibel auf die Bewegung eines seiner Elemente reagiert. Darüber
hinaus zeichnet sich jene systemische Grundhaltung durch Ressourcen-
statt Defizitorientierung des Therapeuten aus, was bedeutet, dass in
Diagnostik und Therapie vor allem die individuellen Stärken des
Kindes in den Vordergrund gerückt und gefördert werden.
Ziel der Lerntherapie ist es laut Susanne Steinert, die
negative Lernstruktur in eine positive umzuwandeln, d.h. das
Selbstwertgefühl des Kindes zu stabilisieren, die soziale
Reintegration anzuschieben und die Schulleistungen zu verbessern.
Anzumerken ist außerdem, dass KindZIEL als zusätzlich begleitende,
nicht als alleinige Intervention angedacht ist.
Im dritten Kapitel stellt die Autorin zwei, im Vorfeld durchgeführte Untersuchungen dar. Diesen beiden Vorstudien kommt ihrer Ansicht nach zentrale Bedeutung zu, da dadurch der Forschungs- und Entwicklungsbedarf abgeklärt wurde. Die erste Studie behandelt die Alltagspraxis von Lerntherapeuten des FiL und untersuchte die Fragestellung, wie die vielen theoriegestützten Konzeptionen in der tagtäglich durchgeführten lerntherapeutischen Praxis umgesetzt werden (S. 53). Die zweite Vorstudie gründet sich auf qualitativen Erkundungsinterviews mit betroffenen Kindern und behandelt die Fragestellung, welche Ziele für das Kind subjektiv bedeutsam sind (S. 68). Als zusammenfassendes Ergebnis der Vorstudien hält Steinert im vierten Kapitel fest, dass systemische Ansätze für die Lerntherapie nützlich sind, aber Konzepte fehlen, um diese konkret umsetzen zu können. Diese Lücke versucht Susanne Steinert mit KindZIEL zu schließen. Wichtig hierbei ist am Anfang der Therapie mit dem Kind zusammen Ziele zu formulieren, die während und durch die Lerntherapie erreicht werden sollen. Im Mittelpunkt stehen also die Ziele des Kindes.
Um diese Ziele anschaulicher zu gestalten, entwickelte die Autorin den sogenannten KindZIEL-Kärtchenkatalog, den man auch im Anhang des Buches findet. Das Programm richtet sich an Kinder vom dritten bis zum siebten Schuljahr mit Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten und deren Eltern, Lerntherapeuten sowie an Lehrkräfte. Die Durchführung erfolgt in fünf Einzelsitzungen zusätzlich zu den wöchentlichen Lerntherapiesitzungen. Die entsprechenden Sitzungen werden von einer sogenannten KindZIEL-Mediatorin durchgeführt. Bei KindZIEL handelt es sich dementsprechend um ein Verfahren, das den Lernprozess einrahmen, begleiten und unterstützen soll (S. 94). Die Entwicklung und Anwendung der Methode wird in den Kapiteln fünf und sechs behandelt.
In der ersten Hauptphase des Programms werden alle auf den Kärtchen aufgeführten Ziele zusammen mit dem Kind besprochen. Das Kind wählt die zutreffenden Karten aus und beschreibt die darauf abgebildeten Ziele mit der Unterstützung der KindZIEL-Mediatorin in Form von Zielhandlungen als sogenannter Zielfilm. Hierbei wird wiederum das Umfeld mit einbezogen. Gleichzeitig werden Ressourcen des Kindes herausgearbeitet, die bei der Erreichung der Ziele hilfreich sein können. Bei der in der zweiten Hauptphase stattfindenden sequenziellen Überprüfung des Zielverhaltens kommen nun auch systemische Methoden der Perspektivübernahme und des zirkulären Fragens zum Einsatz. Wichtig ist hier, dass auch kleine Erfolge des Kindes gewürdigt werden.
Im sechsten Kapitel führt Steinert vier Fallbeispiele an, um die Arbeit mit KindZIEL zu verdeutlichen.
Die beiden folgenden Kapitel haben die ausführliche Wirksamkeits- und Wirkungsuntersuchung zum Gegenstand. Im Rahmen der Evaluation untersuchte die Autorin, inwiefern die KindZIEL-Methode als Zusatzintervention Einfluss auf den Verlauf einer Lerntherapie nimmt. Hierbei standen folgende Punkte im Mittelpunkt:
- die Effektivität des Programms bezüglich der Rechtschreib- und Konzentrationsleistung sowie der Prüfungsangst und der rechtschreibspezifischen Leistungsangst
- Unterschiede aus Sicht des Kindes bei Lerntherapie mit und ohne KindZIEL;
Die dazu durchgeführte und ausführlich vorgestellte Längsschnittuntersuchung ergab allerdings keinen Unterschied zwischen jenen Kindern, die KindZIEL als Zusatzintervention erhielten und solchen Kindern, bei denen dies nicht der Fall war. Um dennoch Unterschiede zu finden, führte Susanne Steinert in einer zweiten Untersuchung qualitative Interviews durch und konnte positive Effekte von KindZIEL vor allem auf die Leistung des Kindes finden. Die Autorin resümiert daraufhin, dass KindZIEL als hilfreich und als den Therapieprozess strukturierend gelten kann. Eine ausführliche Aufführung der Rückmeldungen der Kinder, Eltern, Lehrer, Lerntherapeuten und Mediatoren findet sich ab S. 226.
Im letzten Kapitel des Buches widmet sich die Verfasserin den positiven Wirkungen von KindZIEL auf das Kind und sämtliche einbezogenen Personen, führt mögliche Modifikationsvorschläge ihrer Intervention auf und deutet weitere Folgeuntersuchungen an.
Den Abschluss bilden ein umfangreicher Anhang, in dem alle im Buch erwähnten Materialen zu finden sind sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis und weiterführende Adressen im Internet.
Diskussion
Das 445 Seiten starke Buch „Kindzentrierte Lerntherapie“ von Susanne Steinert ist in erster Linie eine Forschungsarbeit. Dies wird bereits bei Begutachtung des Inhaltsverzeichnisses deutlich, dass deutlich den Anforderungen an eine empirische Abschlussarbeit/Dissertation angepasst ist. Entsprechend zielt die Veröffentlichung weniger auf eine praktische Anwendbarkeit. Wer also ein reines anwenderfreundliches Manual zu KindZIEL erwartet, wird enttäuscht werden. Zwar finden sich hier viele wertvolle Informationen über die Lerntherapie im Allgemeinen, wie auch das KindZIEL-Programm im Speziellen erläutert wird. Allerdings fallen häufige Wiederholungen der gleichen Informationen, bspw. über die systemische Grundhaltung, auf und erschweren somit das Lesen. Der wohl größte Kritikpunkt des Buches ist allerdings darin zu sehen, dass die konkrete Beschreibung und Implementierung sowie Anwendung der Methode nur einen vergleichsweise kleinen Raum im Gesamtwerk einnimmt. Die Darstellung der Forschungsergebnisse, die nicht nur die Evaluation der Methode, sondern auch die im Vorfeld durchgeführten Studien betrifft, ist dagegen recht ausführlich geraten. Dies ist eindeutig der geforderten Struktur einer Doktorarbeit geschuldet. Für eine Buchausgabe wären allerdings eine Überarbeitung des Inhaltes und eine Verkürzung des empirischen Teils ratsam gewesen. Positiv ist jedoch anzumerken, dass in allen Abschnitten des Buches das Anliegen der Autorin deutlich wird und diese insgesamt viel Herzblut hat einfließen lassen. Dies lässt sich insbesondere darauf beziehen, dass Steinert jederzeit das Kind und dessen Bedürfnisse fokussiert und das Interventionsprogramm deutlich den Anforderungen und Begabungen von Kindern anzupassen versucht. Trotz der bereits erwähnten Redundanzen ist außerdem hervorzuheben, dass wesentliche Grundlagen von Beginn an erläutert und abgeklärt werden, so dass ein weiterführendes Verstehen des Textes gewährleistet ist. Positiv tragen auch die Grafiken und Tabellen bei, die den Text aufzulockern vermögen und gerade im empirischen Teil zum Verständnis beitragen. Dieser beschränkt sich zudem auf wenige statistische Aussagen und ist somit ebenfalls gut lesbar.
Dem Manualcharakter gerecht wird der ausführliche Anhang, in dem etliche anwendungsbezogene Materialien, wie ein Fragebogen, Handeichungen, oder die bereits erwähnten KindZiEL-Kärtchen erhalten sind. Diese sind recht einfach gehalten und könnten etwas liebevoller und ansprechender gestaltet sein. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die von der Autorin Susanne Steinert entwickelte Methode im vorliegenden Buch ausführlich vorgestellt und dokumentiert ist, das sowohl umfassende Hintergrundinformationen, wie auch anwenderfreundliche Materialien enthält.
Fazit
Das Buch „Kindzentrierte Lerntherapie“ stellt alle relevanten Facetten eines neueren systemisch-lösungsorientierten Interventionskonzeptes für Kinder mit Lese- und Rechtschreibstörungen sowie weiteren Lernstörungen vor und verspricht u.a. einen Gewinn an Motivation, Zufriedenheit, Erfolgsbewusstsein. Die Intervention wird dabei näher vorgestellt, in einen humanistisch-systemischen Rahmen eingebettet und ihre Wirkung evaluiert. Der Autorin gelingt dabei ein empathisches und verständlich geschriebenes Buch, allerdings wünscht man sich beim Lesen eine abgespeckte Manual-Version des KindZIEL-Programms, die mehr auf die Anwendbarkeit des Verfahrens fokussiert, weniger auf die empirischen Fragestellungen und Ergebnisse.
Rezension von
Dipl.-Psych. Tobias Eisenmann
Psychologischer Psychotherapeut (VT);Dipl.-Soz.päd.
Ehem. Wissenschaftlicher Mitarbeiter - Lehrstuhl für Psychologische Diagnostik, Universität Erlangen-Nürnberg
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