John Holloway: Kapitalismus aufbrechen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 21.12.2010

John Holloway: Kapitalismus aufbrechen. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2010. 276 Seiten. ISBN 978-3-89691-863-5. 24,90 EUR.
„Wir wollen die Welt, wie sie ist, aufbrechen“
Über die Notwendigkeit zur gewaltsamen, gewaltlosen, revolutionären und evolutionären Veränderung der von Menschen gemachten Situationen und Gegebenheiten in der Welt, zum sozialen und gesellschaftlichen Wandel, haben Menschen immer wieder nachgedacht, daran gearbeitet, gefordert – und sind nicht selten daran verzweifelt. Mit der alloiôsis, der Veränderung, hatte bereits Aristoteles seine Mühe, wenn er feststellt, dass es sich dabei zum einen um einen Wandel „zwischen konträren Gegensätzen an einem gleichbleibenden Substrat“ handelt und zum anderen um grundlegende, qualitative Veränderungen (T. Wagner, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 30). Aufforderungen zum Paradigmen- und Perspektivenwechsel gibt es zuhauf. Sie reichen von dramatischen Appellen, wie etwa den der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (1995): „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ (Deutsche UNESCO-Kommission, 1997), bis hin zu prophetischen, dramatisch und mediengerecht inszenierten Vorhersagen, resignativen und fatalistischen Einschätzungen: Die Welt ist am Ende!
Gewissermaßen quergelegt und mit einem hoffnungsvollen, trotzigen und revolutionären Gestus ausgestatteten Ya basta! stellen sich die Aufforderungen dar, wie sie beim Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre 2002 artikuliert wurden: „Eine andere Welt ist möglich!“, und bei den revolutionären Bewegungen, etwa der mexikanischen Bewegung der Zapatistas mit der machtvollen Parole "preguntando caminamos" (fragend gehen wir voran) zu Wort melden (vgl. die Rezension zu John Holloway, Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2010, Rezension).
Autor und Entstehungshintergrund
Der 1947 in Dublin geborene, seit 1993 an der Universidad Autónoma de Puebla in Mexiko lehrende Politikwissenschaftler John Holloway, ist bekannt für seine markigen und treffenden Charakterisierungen des Zustandes der Welt, und er wird in der Community geschätzt, gefürchtet und auch abgelehnt wegen seiner rigorosen und unmissverständlichen Aufforderung: „Wir wollen die Welt, wie sie ist, aufbrechen“. So wie er in seinem o. a. Buch über die Notwendigkeit, die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen, auf eine Schlüsselmetapher greift – dem Schrei – um das Bewusstsein zu schärfen, dass WIR gemeint sind, alle Menschen, lokal und global, so findet er auch in „Kapitalismus aufbrechen“ einen herausfordernden Grundbegriff: AUFBRECHEN! Es ist nicht die Waffe und die physische Gewalt, mit der er gegen seinen Gegner, den Kapitalismus, vorgeht, sondern es ist die „Suche nach Brüchen und Rissen“ bei den gegnerischen Bataillonen. Mit Edgar Allen Poe will Holloway die Wände, die Grenzen und die Mauern, die der Kapitalismus um sich baut, nicht in seiner Festigkeit, sondern in seiner Brüchigkeit, seiner Widersprüchlichkeit und seinen Schwächen verstehen und zerbrechen; ein faszinierendes, weil ungewohnter und im Daseinskampf der Menschen bisher kaum erprobtes Denken und Handeln. Er plädiert nämlich für eine Revolution, jedoch nicht im Sinne des traditionellen Umsturzes, wie ihn die marxistischen und antikapitalistischen Theorien und Programme formulieren, sondern „durch eine Vielfalt von Bewegungen in den Fugen und Zwischenräumen dieser Welt“.
Aufbau und Inhalt
Nach dem ersten Teil „Aufbrechen“ gliedert Holloway sein Buch in weitere sieben Kapitel, in denen er 33 Thesen formuliert und diskutiert.
In „Bruchstellen und Risse“ plädiert er für eine Gegenpolitik der Menschenwürde, bei der die Überzeugung „Eine andere Welt ist möglich“ verbunden wird mit „Eine andere Politik ist möglich und gefordert!“. Während der Begriff „Menschenwürde“, wie er etwa in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (von 1948) formuliert wird, nach Ansicht Holloways, individualistisch zum Ausdruck kommt, geht es ihm nicht nur darum, auf unsere eigene Menschenwürde zu bestehen, sondern auch um die Anerkennung der Menschenwürde des Anderen. Es geht um die Wiederentdeckung der Kameradschaftlichkeit, die mehr ist als „Brüderlichkeit“, nämlich Tätigsein bei der gemeinsamen Anstrengung, eine bessere Welt zu gestalten.
Um „Brüche am Rande ihrer Unmöglichkeit“ geht es im nächsten Kapitel. Dabei ist nicht ein „Hauruck“ gefragt und gefordert, sondern eine neue Form des Pazifismus, die nicht der der Schafe ist, die zur Schlachtbank getrieben werden, oder der des Stiers, der in der Kampfarena (aus Verzweiflung?) über die Barrieren springt; vielmehr das neue Verständnis von Menschenwürde und ein anderes Bewusstsein eines gerechten, menschlichen Zusammenlebens auf der Erde. Der Feind ist die „kapitalistische Vergesellschaftung“; und auf ihn sind alle Bruchversuche und Ritzenbildungen ausgerichtet
Im Kapitel „Doppelcharakter der Arbeit“ thematisiert Holloway das, was er „Bruch (als) die ganz gewöhnliche Schaffung eines Raums oder eines Augenblicks (wohl auch eines Zustandes, J.S.), in dem wir auf einer anderen Art des Tätigseins bestehen“, bezeichnet. Dabei sollte der Antriebsriemen und das -motiv unseres Tätigseins eben nicht die kapitalistische Peitsche, sondern die „Selbstberichtigung“ sein. Auch wenn die Aufhebung des Gegensatzes zwischen entfremdeter Arbeit und bewusster Lebenstätigkeit für manche nicht denkbar ist, lohnt es, sich auf die Argumentationen um „Nicht-Identität“ und „ekstatischem Raum“ einzulassen.
Mit der Marxschen Interpretation von der „Gefangennahme oder Einhegung des Verstandes (als) Fetischismus“ setzt sich Holloway im fünften Kapitel auseinander: „Abstrakte Arbeit“ als große Einhegung. Durch die Kapitalisierung der Welt richtet sich der Mensch die Natur zu, er macht sie zum Objekt – und sich als Getriebener gleich mit dazu! „Die von der abstrakten Arbeit konstituierte Totalität ist eine Totalität ohne Sinn“.
„Die Krise der abstrakten Arbeit ist eine Krise der Arbeiterbewegung“, stellt der Autor im sechsten Teil fest; denn die Einzäunung der Kritik an entfremdeter Arbeit und am Kapitalismus durch die Mächtigen, hat, so scheint es, die Lähmung bewirkt, die sich in der Arbeiterbewegung breit gemacht hat. Und die „Krise der Arbeit“ ist ein Ausdruck der Niederlage der gerechtfertigten Forderungen nach selbstbestimmter Tätigkeit. Dabei gilt es zu registrieren, dass „zwischen abstrakter Arbeit und Tätigsein… ein fortwährender Antagonismus (besteht“); aber auch, „dass der Widerspruch nicht der … zwischen Arbeit und Kapital , sondern der tiefere (logisch und tatsächlich vorgängige) Konflikt zwischen Tätigsein und Arbeit (ist)“.
Im siebten Kapitel konfrontiert der Autor „Tätigsein gegen die Arbeit“. Dabei hört er „die Melodien der Revolution, die zwischen den Fugen spielt“. Wir erinnern uns: Es geht um das Aufbrechen, das Spalten- und Ritzensuchen im kapitalistischen Gebäude. Die Forderung nach Selbstbestimmung als humane, mit Verstand, Wissen und Sprache ausgestattete Lebewesen, lässt sich lokal und global denken. Insofern ist an dem Satz: „Lokal handeln und global denken“ etwas dran. Weil Kapitalisten das Kapital personifizieren und Arbeiter die Arbeit, gilt es zu verstehen, dass uns die abstrakte Arbeit maskiert: „Die Arbeitsabstraktion ist die Abstraktion des Subjekte, die Aufoktroyierung einer Charaktermaske, sie verwandelt Personen zu Personifizierungen“.
Im achten und letzten Kapitel ruft Holloway unsere „Geburtszeit“ aus. Mit dem trotzigen, überzeugten und herausfordernden „Wir sind die Produktivkräfte: Unsere Macht ist das Vermögen, tätig zu sein“, produziert er Hoffnung; oder, wie dies Hans A. Pestalozzi in seinem Buch „Nach uns die Zukunft“ (1979) formuliert hat, die „positive Subversion“.
Fazit
Mit dem Aufruf „Hört auf, Kapitalismus zu machen“ wird John Holloway und andere Gleichgesinnte die Kapitalisten und Profiteure unserer ungerechten (Einen?) Welt nicht bewegen können, aufzuhören. Aber mit seinen Gedanken, Argumenten und Appellen, „aufzuhören“, bereitet er ein gesellschaftliches Feld des Widerstandes, des Nachdenkens und Rebellierens gegen die unselige Entwicklung zum Unmenschlichen hin, die der Kapitalismus verursacht und vorantreibt. Indem er abrückt von der klassischen Kritik am Kapitalismus – und doch dabei bleibt, dass es eines revolutionären Denkens und Handelns bedarf; nicht mit der Brechstange, auch nicht mit Dynamit, sondern mit einer Bewusstseinsveränderung: „Revolution heißt nicht, den Kapitalismus zu zerstören, sondern ihn nicht zu schaffen“. Die Adresse geht an jeden von uns: „Verweigert-und-Schafft!“. Denn Jammern, Klagen, sich durch ein „Ohne-mich“ selbst aus dem Diskurs ziehen, ist nicht die Lösung zur Veränderung unserer Welt und unseres Daseins, für uns in der Gegenwart und für unsere Nachkommen in der Zukunft! Der Querdenker und -treiber John Holloway hilft uns mit seinem faszinierenden Buch dabei!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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