John Holloway: Die Welt verändern, ohne die Macht übernehmen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 22.12.2010

John Holloway: Die Welt verändern, ohne die Macht übernehmen. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2002. 255 Seiten. ISBN 978-3-89691-514-6.
Fragend gehen wir voran…
Am Anfang ist nicht das Wort, sondern der Schrei! Schreien, als menschliche Äußerung, kann vielerlei bedeuten: Der erste Schrei des Neugeborenen ist so etwas wie der Willkommensgruß des Angekommenen in der Welt. Es gibt andere Schreie – solche der Freude, des Schmerzes, des Zorns, der Wut, manchmal auch des Übermuts und nicht selten des Ausdrucks der Selbstvergewisserung. „Der Schrei“ (Skrik) des norwegischen, expressionistischen Malers Edvard Munch gilt, als bild- und symbolhafte Darstellung von Verlorenheit, Ausweglosigkeit, aber auch Aufbegehrens eines unzulänglichen menschlichen Daseins. „Die Welt, in der wir leben, ist nicht gerecht“, diesen Schrei setzt der Professor für Rechtswissenschaft und Philosophie von der Universität von New York, Thomas Nagel, an den Beginn seiner Auseinandersetzung mit dem „Problem globaler Gerechtigkeit“ (vgl. die Rezension zu Christoph Broszies / Henning Hahn, Hrsg., Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus, suhrkamp stw 1969, 2010).
Nach dem Schrei müsste eigentlich eine Erwiderung folgen, kein Echo der eigenen Verzweiflung, sondern eine Lösung, ein Versprechen, oder wenigstens eine Utopie. Der gesellschaftliche Aufschrei, der sich sowohl als Protest gegen die lokale und globale Entwicklung richtet, dass in unserer Welt die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, als auch gegen die zunehmende Unfriedlichkeit und Egoismen der Menschen, wird immerhin hörbarer; und die Wohlhabenden und Mächtigen beginnen langsam darüber nachzudenken, dass ihre Besitznahmen brüchig sind. Die Habenichtse und Ohnmächtigen hingegen resignieren; von den proletarischen und revolutionären Schreien – „Völker hört die Signale…“ – keine Spur. Von Rainer Maria Rilkes Vers in seinem Gedicht „Der Panther“ – „Nur manchmal hebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf…“ – übertragen auf die Diskussion um Kapitalismus und Sozialismus, ist nur gelegentlich ein Flüstern zu vernehmen; die Truppen des Kapitalismus sind allzu mächtig und dominant (vgl. die Rezension zu Sebastian Dullien / Hansjörg Herr / Christian Kellermann, Der gute Kapitalismus … und was sich dafür nach der Krise ändern müsste, Bielefeld 2009). Immerhin: Doch es gibt sie schon, die Schreie; vgl. dazu die „Perspektiven einer kritischen Internationalen Politischen Ökonomie“ (vgl. die Rezension zu Eva Hartmann / Caren Kunze / Ulrich Brand, Hrsg., Globalisierung, Macht und Hegemonie, Münster 2009), aber: „Was fehlt, ist die Vorstellung davon, wie es anders sein könnte“ (vgl. die Rezension zu Christian Stenner, Hg., Kritik des Kapitalismus. Gespräche über die Krise, Wien 2010).
Autor
Der 1947 in Dublin geborene, derzeit an der Universidad Autónoma de Puebla in Mexiko lehrende Politikwissenschaftler John Holloway, ist einer, der sich mit dem scheinbar unaufhebbaren Zustand und den immer wieder herbeigeredeten naturgegebenen Verhältnissen nicht zufrieden gibt. „Eine andere Welt ist möglich“, diese hoffnungsvolle Parole aus den Diskussionen beim Weltsozialforum in Porto Alegre in Brasilien 2002 ist für ihn mehr als eine Illusion und auch mehr als eine ferne Utopie in der Welt des Nirgendwo. Dabei orientiert er sich eben nicht an den Reflexen, wie sie immer wieder in den Auseinandersetzungen um Hegemonie und Einfluss entwickelt werden: Nur wer die politische und ökonomische Macht hat, kann seine Interessen durchsetzen! Vielmehr setzt er in durchaus sympathischer Weise und mit Kampfeswillen ein groß geschriebenes NEIN gegen Unterdrückung und Ausbeutung, gegen kapitalistisches Denken und Handeln und anstelle dessen ein revolutionäres WIR, als eine utopische und gleichzeitig reale Herausforderung, „das Hoffen zu lernen“. Als Instrument und Denkhilfe bietet er dazu das „negative Denken“ an, wie es sich im marxistischen und im psychologischen Denken etabliert hat. Es geht darum, „eine Form des Denkens zu entwickeln, die kritisch auf dem ursprünglichen, negativen Standpunkt aufbaut, ein Verständnis, das die Unwahrheit der Welt negiert“. Holloways Reflexionen sind im doppelten Sinne negativ, also kritisch: Zum einen will er die Negativität stärken durch Denken, zum anderen die Sensibilität für die mächtigen Wirklichkeiten in der Welt erhöhen und damit zu erkennen: Macht macht Kapitalismus!
John Holloway schreibt kein „marxistisches“ Buch, etwa in dem Sinne, dass er neomarxistische oder postmarxistische Argumente für die Ideologie benennt und diskutiert, sondern er benutzt die marxistische Kritik am Kapitalismus, um unsere vermeintlichen Sicherheiten und Gewohnheiten im politischen Denken in Frage zu stellen und ein mächtiges DENNOCH gegen die Ungerechtigkeiten in der Welt hinaus zu schreien.
Aufbau und Inhalt
Der Autor gliedert seinen „Aufschrei“, den er als Einladung zur Diskussion um die (sichere?) Feststellung – „Die Welt ist, wie sie ist“ – und die (trotzige) Aussage – „Eine andere, bessere Welt ist möglich!“ – versteht, in elf Kapitel, die sich gewissermaßen wie ein Lauffeuer bis zu der Gretchenfrage: Wie hältst du das mit der Macht?“ hinziehen:
- „Der Schrei“, als Aufforderung zum Denken;
- „Überwindung des Staates?“, als Auseinandersetzung mit dem vermeintlich Richtigen und Unabänderlichen;
- „Überwindung der Macht?“, als Zumutung unseres Denkens und unserer gesellschaftlichen und politischen Erfahrungen, orientiert am zapatistischen Aufruf, die Welt neu zu schaffen, ohne die Macht zu übernehmen, mit der (schlitzohrigen) Nachfrage nach unserem alltäglichem und historischem Gewordensein: „Das haben wir schon immer so gemacht! Das haben wir noch nie so gemacht! Da könnte ja jeder kommen!“. Es ist die Hoffnung, dass kreative Macht die instrumentelle überwinden wird.
- Den marxistischen Begriff der „Entfremdung“ schichtet Holloway im vierten Kapitel um zu dem des „Fetischismus“, als die „Selbst-Negation des Tuns“.
- Die logische Konsequenz der Selbstnegation besteht für ihn in dem Dilemma „der dringlichen Unmöglichkeit der Revolution“, wie er im fünften Kapitel dargelegt Es bedarf also der Relativierung der Relativierung der marxistischen Fetischismusthese, um in den Blick zu bekommen, dass der Staat fetischiert.
- Um das zu verstehen, „müssen wir uns nicht außerhalb der Herrschaftsbewegung umgucken: Anti-Macht, Anti-Fetischisierung existiert gegen-in-und-jenseits der Bewegung der Herrschaft selbst, nicht als ökonomische Kräfte oder als objektive Widerspräche oder als Zukunft, sondern als jetzt, als wir“. Um dem Schrei der Ungerechtigkeiten in der Welt Wirkung zu verleihen, bedarf es der Frage nach dem Warum? Es ist die Reflexion darüber, wie wir geworden sind, was wir sind, die Ursachenforschung, also die Theoretisierung des Schreis, die „Kritik der reinen Vernunft“, um mit Kant – und Marx – zu sprechen.
- Darum geht es im siebten Kapitel, um „die Tradition des wissenschaftlichen Marxismus“, der, nach Holloway, nur verdinglichte Antworten auf die kapitalistische Verdinglichung der Welt weiß. Er plädiert dafür, „die Vorstellung von Revolution als Frage, nicht als Antwort“ zu formulieren.
- Das „kritisch-revolutionäre Subjekt“ nämlich sei es, dass in diesem Prozess der Fetischisierung sich vergewissern müsse, wer wir sind, die wir kritisieren, so Holloway im achten Kapitel: „Der Kapitalismus ist die ständig neu stattfindende Herausbildung des Klassenverhältnisses, die ewig neu stattfindende Klassifizierung von Menschen“. Der Kampf der Arbeiterklasse ist somit fetischisiert und im Kampf dagegen verstrickt: „Wir sind selbstgespalten, selbstentfremdet, schizoid. Wir-die-wir-schreien sind auch wir-die-wir-uns-fügen“. Die Nicht-Macht ist dabei nicht zu verwechseln mit „Aussitzen“ oder „Sein-Lassen“, sondern als „Schrei-gegen“ und für kreative Macht.
- Die Negation der Macht als „materielle Wirklichkeit der Anti-Macht“ formuliert Holloway im neunten Kapitel aus. Dabei gilt es aufmerksam zu sein und in den Mächten der Politik, der Medien und der Berichterstattung darüber, wo „Schreie“ hörbar sind, genau hinzuschauen und hinzuhören. Denn es gibt sie, die Anti-Macht; im Widerstand der vielfältigen gesellschaftlichen Aktivitäten – der Emanzipationsbewegung etwa, den Bestrebungen nach politischer und wirtschaftlicher Mitbestimmung, die „Schreie“ der indigenen Völker, das noch stumme, lokale und globale Aufbegehren der Habenichtse gegen die Wohlhabenden. In der Logik der Hollowayschen Argumentation jedoch zeigt sich in den rebellischen Bewegungen gegen die etablierten Mächte nicht die Strategie, gegen die Macht Macht zu erringen; vielmehr kommt es darauf an, die „unterdrückte Nichtidentität“ zu befreien.
- Im zehnten Kapitel stellt Holloway noch einmal klar, dass es eben nicht darum gehen kann, die Macht zu entmachten, sondern „die materielle Wirklichkeit der Anti-Macht und die Krise des Kapitals“ zu verstehen; nicht durch die Abschaffung der Macht, sondern durch „die Durchdringung der Macht durch die Anti-Macht“.
- Die Analyse des widersprüchlichen Charakters des Kapitalismus sei, so der Autor, vor allem darin zu sehen, dass sich im Ausbeutungsverhältnis von Arbeit und Kapital die „Flucht von der Arbeit“ vollzieht. Die neoliberale Denkweise und ökonomische und politische Strategie, zur Kapitalmaximierung „die Trennung zwischen realer und Geldakkumulation“ zu vollziehen, müsse zwar – zwangsläufig – zur Auflösung des Kapitalismus führen, durch die Krise der Krisen; doch der Fingerzeig allein auf die anderen, die bösen Kapitalisten, reicht nicht aus; es geht darum zu erkennen: „Wir sind die Krise des Kapitalismus“.
Fazit
Wenn „Krise Ausdruck der extremen Entkoppelung gesellschaftlicher Verhältnisse ist“, wäre, so die marxistische Theorie, die Revolution das geeignete Mittel dafür, die Verhältnisse wieder zurecht zu rücken; wobei Zyniker einwenden, dass danach die Verhältnisse zwar anders, aber genau so schlimm oder gar schlimmer seien. Holloways Antwort ist nicht die des wissenschaftlichen Marxismus – wobei er nicht verschweigt, dass er in den marxistischen, befreienden und emanzipatorischen Ideen einen Hebel sieht, den Kapitalismus zu überwinden.Seinen „Schrei der Verweigerung“ versteht er als „eine erneute Bejahung des Tuns, eine Emanzipation kreativer Macht“, und der Verhinderung des Prozesses der Fetischisierung, des Zerbrechens des Tuns vom Getanenem. Indem er eingesteht, dass „wir nicht mehr wissen, was die Revolution bedeutet“, wird für ihn, in der sich immer interdependenter, entgrenzender, verdinglichender und inhumaner entwickelnden Welt, ein „revolutionärer Wandel“ notwendig. Mit den Zapatisten bekennt er: „Fragend gehen wir voran“; das Fragen wird in Holloways Buch jedoch zum hoffnungsvollen Schrei und zum Bewusstsein, dass „das Fragen nach dem Weg Teil des revolutionären Prozesses selbst ist“. Um den Kapitalismus zu überwinden, unternimmt er in dem zeitgleich im Verlag Westfälisches Dampfboot erschienem Buch „Kapitalismus aufbrechen“ (vgl. die Rezension).
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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