Norbert Wenning, Martin Spetsmann-Kunkel et al. (Hrsg.): Strategien der Ausgrenzung
Rezensiert von Dipl. Päd. Sonja Bandorski, 26.08.2011
Norbert Wenning, Martin Spetsmann-Kunkel, Susanne Winnerling (Hrsg.): Strategien der Ausgrenzung. Exkludierende Effekte staatlicher Politik und alltäglicher Praktiken in Bildung und Gesellschaft. Waxmann Verlag (Münster/New York/München/Berlin) 2010. 208 Seiten. ISBN 978-3-8309-2416-6. 27,90 EUR.
Thema
Der Sammelband setzt an der Tatsache an, dass trotz der negativen Bewertung von Ausgrenzung in modernen Gesellschaften fehlende Integration oder eingeschränkte Teilhabe vielerorts vorhanden ist. Die hier versammelten Beiträge betrachten aus sozialwissenschaftlicher und erziehungswissenschaftlicher Perspektive verschiedenste Formen sozialer Ausgrenzung auf unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft. Ihr Anliegen ist es dabei, gerade auch verdeckte, indirekte oder unbewusste Ausgrenzungsmechanismen aufzuzeigen. Dabei findet aus sozialwissenschaftlicher Perspektive eine Anknüpfung an den Prekaritäts- bzw. Exklusionsdiskurs statt. Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive werden Bildungsfragen als Machtfragen verstanden und der Fokus auf das Bildungssystem gelegt, das zwar integrativ wirken soll, in dem aber de facto auch vielfach Ausgrenzungsprozesse stattfinden.
Herausgeber und Herausgeberin
Norbert Wenning ist Professor für Interkulturelle Bildung und Leiter des Arbeitsbereiches Interkulturelle Bildung an der Universität Koblenz Landau.
Martin Spetsmann-Kunkel ist Professor für Politikwissenschaft in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Fachhochschule NRW in Aachen.
Susanne Winnerling ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrgebiet Interkulturelle Erziehungswissenschaft der FernUniversität Hagen.
Entstehungshintergrund
Der hier besprochene Sammelband geht in seinen Grundzügen auf die im Juli 2009 stattgefundene Tagung an der FernUniversität Hagen zur Verabschiedung von Prof. Dr. Georg Hansen statt, der als Diplom-Sozialwissenschaftler über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren erziehungswissenschaftliche Professuren besetzt hat. Diesem Anlass verdankt der Sammelband die Verbindung von sozialwissenschaftlichen und erziehungswissenschaftlichen Perspektiven.
Aufbau
Der Sammelband wird mit einer Einleitung zu Strategien der Ausgrenzung eröffnet. Im den zwei Hauptteilen werden verschiedene Mechanismen der Ausgrenzung aus zum einen sozialwissenschaftlicher und zum anderen erziehungswissenschaftlicher Perspektive behandelt, aus jeder Zugangsrichtung sind vier Beiträge vertreten. Im Schlussartikel wird die Perspektive auf Strategien der Ein- und Ausgrenzung erweitert.
Inhalt
Die von Martin Spetsmann-Kunkel, Norbert Wennig und Susanne Winnerling verfasste Einleitung führt unter dem Titel „Strategien der Ausgrenzung ? einleitende Bemerkungen“ in die Thematik ein. Dazu werden zunächst soziologische Perspektiven auf jüngere Ausgrenzungsprozesse und der Zusammenhang von gesellschaftlicher Ausgrenzung und Erziehung(-swissenschaft) explizit thematisiert, bevor die Beiträge des Bandes vorgestellt werden.
Den Einstieg in die Sozialwissenschaftlichen Zugänge stellt der Artikel von Tobias Schwarz zu „Differenzmarkierungen im Ausweisungsdiskurs. Zur medialen wie politisch-juridischen Konstruktion von ?Integrationsverweigerern?“ dar. Der Autor nimmt eine Analyse auf den Ebenen der Medien und des Rechts vor. Am Beispiel der Konstruktion des Phänomens ?Integrationsverweigerung? zeigt er auf, wie Integration als Situationsbeschreibung zu einer Forderung umformuliert wird. Außerdem zeigt seine Analyse, wie vereinzelte mediale Ereignisse langfristige politische Entscheidungen beeinflussen.
Ralf M. Damitz und André Schönewolf behandeln „Exklusionsempfinden und Familienstrategien. Eine Problemskizze anhand von zwei Fallkonstruktionen“. Sie stellen die Ergebnisse aus zwei Forschungsprojekten zu sozialer Exklusion und den Umgangsformen mit prekären Lebensumständen vor. Von vier dort gefundenen Umgangstypen gehen sie auf zwei (?Distanzierte? und ?Kämpfer?) vertieft ein. Sie zeigen in Fallbeispielen deren Familienstrategien im Umgang mit prekären Lebensverhältnissen. Dies ist in die Diskussion um die Auflösung der gesellschaftlichen Mitte und Ausgrenzungsprozesse jenseits materieller (Armut) oder struktureller (Arbeitslosigkeit) Grenzen einzuordnen.
Im folgenden Beitrag geht Anna Ringbeck der „Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt und von gesellschaftlicher Teilhabe ? Folgen von ?Hartz IV?“ nach. In einer Material-, Text- und Entwicklungsanalyse geht sie zunächst den politischen Motiven in der Entstehung und den Motiven der Entwicklung von Hartz IV nach. Sie zeigt auf, wie darüber eine Umschichtung von (öffentlichen) Versicherungsleistungen hin zu einer Grundsicherung stattgefunden hat. Ihre Analyse macht außerdem deutlich, wie über den Ausbau des Niedriglohnsektors, im Zusammenspiel mit der Entwicklung von Hartz IV und dem Wegfall der Unterstützung beim Zugang zu regulärer Erwerbstätigkeit, ein dauerhafter und gezielter Ausschluss von Anerkennung stattfindet.
Den Abschluss des sozialwissenschaftlichen Teils bildet der Artikel von Georg Hansen zu „Staatsbürgerrecht als Instrument der Ausgrenzung“. Er zeigt auf, dass Staatsbürgerrechte in den vergangenen drei Jahrhunderten vor allem entlang Kriterien der ?Nützlichkeit?, also ökonomisch bemessen, über den Grad der Anpassung, also normativ, oder aber über die Abstammung, also ethnisch vergeben wurden. An Beispielen über den Zeitraum von 1842 bis 2001 zeigt er die Rechtsentwicklung zur Staatsangehörigkeit in Deutschland und seinen Vorläuferstaaten auf, und wie darin einzelne Gruppen über soziale Grenzen, wie z.B. das Geschlecht, die Klasse oder ethnische Kriterien, ausgegrenzt werden.
Den Teil der Erziehungswissenschaftlichen Zugänge eröffnet Markus Rieger-Ladich mit „Verdeckte Formen der Beraubung. Herausforderungen der erziehungswissenschaftlichen Gewaltforschung“. In seinem theoretischen Beitrag geht es um den Einfluss der Lebenssituation auf Lern- und Bildungsmöglichkeiten. Er diskutiert die subtilen Auswirkungen des sozialen Hintergrundes auf die Möglichkeit des Einlassens auf Bildungs- und Erziehungsprozesse. Erlebte indirekte Gewalt kann von Organisationen und Strukturen ausgehen. Rieger-Ladich verknüpft hier die Theorie der Symbolischen Gewalt nach Bourdieu mit der Rolle von Artefakten für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und schließt daraus auf eine ‚Hybridisierung des Sozialen‘.
In dem Beitrag von Tanja Sturm geht es um „Schulentwicklung: Exklusionsrisiken und Inklusionspotenziale“. Ihr Ansatzpunkt ist die inklusive Schule als Entwicklungsaufgabe. Sie versteht dabei Schulentwicklung als ‚innere‘ Entwicklung von Schule, im Sinne einer Entwicklung von schulischen Aktivitäten als Organisationsentwicklung. Anhand von Interviews mit Lehrern zu deren Strategien im Unterricht zeigt sie unhinterfragte und ausgrenzende Praktiken auf. Darauf basierend schlägt sie eine ‚reflexive Schulentwicklung‘ als Potenzial einer inklusiv gestalteten Schule vor.
Anja Kraus untersucht „Die Ausgrenzung von Schülerinnen und Schülern als Falle für Schulunterricht - Aspekte nicht-formal angeeigneten Wissens“. Ihr Artikel knüpft an den Europäischen Qualifikationsrahmen für Lebenslanges Lernen an, der eine Brückenbildung zwischen formal, nicht-formal und informell entwickelten Kompetenzprofilen fordert. Über die ausführliche Analyse einer kurzen Unterrichtssequenz zeigt sie auf, dass unhinterfragte Voraussetzungen für den Unterricht bestehen, die von nicht-formal bzw. informell erworbenem Wissen abhängen. Ihr Beitrag zeigt die sich daraus ergebenden Ausgrenzungsrisiken für Schüler auf, die diesen Voraussetzungen nicht entsprechen.
Abschließend fragt Joachim Schroeder „Lernen von Finnland? Im Ernst? Probleme der Herstellung von Bildungsgerechtigkeit im Schulsystem“. Er konterkariert die oft eindimensional verklärte Wahrnehmung Finnlands im deutschen Bildungsdiskurs durch einen Blick auf den Diskurs und die Bildungswirklichkeit in Finnland selbst. Dieser zeigt, dass es dort einen ebenso großen Anteil von Förderschülern wie in Deutschland gibt und eine ebenso rege Diskussion um Bildungsgerechtigkeit. Diese betrifft insbesondere SchülerInnen mit Migrationshintergrund oder auch Genderaspekte beim Übergang von der Schule in den Beruf.
Den Schluss bildet Norbert Wenning mit „Strategien der Ein- und Ausgrenzung“. Hier wird die Sicht auf ,Eingrenzung‘ als das Gegenteil von Ausgrenzung fokussiert. Dies stellt den Versuch dar, die einseitige Sicht auf Ausgrenzung aufzuheben, da jeder Prozess aus zwei Seiten besteht. An den Beispielen von ,Exklusion‘ und ,Integration‘ wird aufgezeigt, wie Ausgrenzung immer auch eine eingrenzende Kehrseite hat und ebenso Eingrenzung immer auch Ausgrenzung nach sich zieht.
Diskussion und Fazit
Die zusammengetragenen Perspektiven zeigen eindrücklich auf, in wie vielfältiger Weise und an welchen verschiedenen Stellen Ausgrenzungsprozesse stattfinden. Der Sammelband trägt den Untertitel ,Exkludierende Effekte staatlicher Politik und alltäglicher Praktiken in Bildung und Gesellschaft‘. Die Beiträge zeigen deutlich auf, welche Ausgrenzungsrisiken auf diesen beiden Ebenen bestehen. Es wird deutlich, wie auf gesamtgesellschaftlicher Ebene Spaltungslinien bestehen, die über aktuelle Entwicklungen und politische Prozesse nicht aufgelöst, sondern eher verschärft werden. Auch im Bildungssystem, dass eigentlich integrativ wirken soll und die Möglichkeit zu gleichberechtigter Teilhabe vermitteln soll, finden in alltäglichen Praktiken Ausgrenzungsprozesse statt oder bieten sich zumindest leicht Anknüpfungspunkte für Ausgrenzungsmechanismen.
Gerade versteckte Formen der Ausgrenzung werden hier sehr eindrücklich geschildert. Daneben wird deutlich, wie eng die sozialwissenschaftliche und die erziehungswissenschaftliche Ebene verknüpft sind, wenn es um Ausgrenzungsprozesse geht. So hängen z.B. die im erziehungswissenschaftlichen Teil behandelten Voraussetzungen für Unterricht auf nicht-formaler oder informeller Ebene (Kraus) eng mit den Lebensverhältnissen von Familien zusammen, und dort im Falle der Betroffenheit von Prekarität dann eben auch von den Strategien des Umgangs damit (Damitz/Schönewolf).
Die Beiträge sind durchweg sowohl für Sozial- als auch von Erziehungswissenschaftler und auch Vertreter anderer Disziplinen, die sich mit Ausgrenzung, Exklusion oder Integration beschäftigen, von großem Gewinn. Als Einstieg in die Thematik ist der Sammelband weniger zu empfehlen. Wer sich allerdings vertieft mit Ausgrenzungsprozessen auseinandersetzen möchte, findet hier differenzierte Erkenntnisse auf theoretischer und praxisbezogener Ebene und wichtige Denkanstöße für reflektiertes sozial- und erziehungswissenschaftliches Handeln in der heutigen Gesellschaft.
Ein durchweg und sehr zu empfehlendes Buch.
Rezension von
Dipl. Päd. Sonja Bandorski
Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen im Arbeitsgebiet Interkulturelle Bildung. Arbeitsschwerpunkte: Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, Ausbildungs- und Arbeitsmarktintegration
Es gibt 4 Rezensionen von Sonja Bandorski.
Zitiervorschlag
Sonja Bandorski. Rezension vom 26.08.2011 zu:
Norbert Wenning, Martin Spetsmann-Kunkel, Susanne Winnerling (Hrsg.): Strategien der Ausgrenzung. Exkludierende Effekte staatlicher Politik und alltäglicher Praktiken in Bildung und Gesellschaft. Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2010.
ISBN 978-3-8309-2416-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10541.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
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