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Tobias Schrader: Nachteilige Kinderarbeit

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 15.12.2010

Cover Tobias Schrader: Nachteilige Kinderarbeit ISBN 978-3-8300-3894-8

Tobias Schrader: Nachteilige Kinderarbeit. Ein Versuch ihrer Definition und eine Analyse internationaler Übereinkommen zu ihrer Bekämpfung. Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2008. 473 Seiten. ISBN 978-3-8300-3894-8. 88,00 EUR.
Schriftenreihe Studien zum Völker- und Europarecht - Band 61.

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Thema

Für die meisten Menschen im euroamerikanischen Kulturkreis gilt das gesetzliche Verbot der Kinderarbeit als eine Errungenschaft moderner Staatlichkeit und als ein Gebot der Humanität. Es wird erwartet, dass dieses Verbot weltweit durchgesetzt wird. Nicht zuletzt die Gewerkschaften und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) drängen darauf, den Kampf gegen die Kinderarbeit zu beschleunigen und das Mindestalter (bisher i.d.R. 15 Jahre) anzuheben, ab dem Kindern Erwerbsarbeit erlaubt sein soll. Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Auf einer Konferenz, welche die ILO zusammen mit der holländischen Regierung im Mai 2010 in Den Haag veranstaltete, wurde eine sog. „Roadmap“ verabschiedet, in der das Verbot und die „effektive Abschaffung der Kinderarbeit“ als eine „moralische Notwendigkeit“ bezeichnet wird. Damit soll der Menschheit ermöglicht werden, „aus dem Teufelskreis von Armut auszubrechen“.

Wenn von Kinderarbeit die Rede ist, wird meist assoziiert, dass sie Kinder ihrer Kindheit beraubt sowie gegen ihre Rechte und ihr Wohl gerichtet ist. Die Rede ist in hohem Maße moralisch aufgeladen und erweckt den Eindruck, Kinderarbeit sei für alle möglichen Übel der Welt verantwortlich, von den niedrigen Löhnen der Erwachsenen, über die Armut, bis hin zur Verhinderung der „Entwicklung der Menschheit“. Der Terminus Kinderarbeit ist zu einer Art Joker geworden, der für alles und nichts steht und den Blick auf die tatsächlichen Ursachen bestehender Ungerechtigkeiten vernebelt. Er hat sich von der Realität der betroffenen Kinder gelöst und scheint keiner weiteren Konkretisierung oder Differenzierung zu bedürfen: Kinderarbeit ist schlimm, weil sie Kinderarbeit ist.

Dabei gerät leicht aus dem Blick, dass die Arbeit von Kindern ein weites Spektrum umfasst, das von aufgezwungenen und sklavenähnlichen bis zu selbstgewählten und selbstbestimmten Formen reicht. Welche Bedeutungen und Wirkungen Arbeit für Kinder erlangt, hängt nicht von der Arbeit an sich ab, sondern von den Bedingungen, unter denen sie ausgeübt wird. Ebenso sind die sonstigen Lebensumstände und kulturellen Kontexte zu berücksichtigen, in denen arbeitende Kinder leben. Es stellt sich die Frage, ob bestehende Gesetze, internationale Übereinkommen oder Maßnahmen „gegen Kinderarbeit“ solchen Differenzierungen und Kontexten genügend Rechnung tragen. Das hier zu besprechende Buch versucht darauf eine Antwort zu geben.

Inhalt und Aufbau

In dem Buch, das aus einer juristischen Dissertation hervorgegangen ist, wird untersucht, „was unter dem Begriff Kinderarbeit zu verstehen ist, inwieweit dieses Phänomen unterschiedlichen länderspezifischen Ausprägungen unterliegt und welche Anstrengungen bisher unternommen wurden, um dieses Problem zu lösen“ (S. 71). Der Autor macht es sich nicht einfach und er holt weit aus.

Im ersten Kapitel wird versucht, den Begriff Kinderarbeit zu präzisieren, wobei sich der Autor auf solche Formen von Kinderarbeit konzentriert, die er als „nachteilig“ für Kinder versteht. Die von ihm vorgenommene Unterscheidung von „vorteilhafter“ Kinderarbeit ähnelt der im Englischen üblichen Unterscheidung von „Child Labour“ und „Child Work“. Allerdings gelangt der Autor zu dem Ergebnis, dass eine zweifelsfreie und eindeutige Definition unabhängig von spezifischen sozialen und kulturellen Kontexten weder möglich noch sinnvoll ist, wobei er im Unterschied zu nahezu allen juristischen Veröffentlichungen den kulturdifferenten Vorstellungen und Mustern von Kindheit besondere Aufmerksamkeit widmet.

Ungeachtet des Problems einer angemessenen Definition gibt der Autor im zweiten Kapitel einen Überblick über die Entwicklung der (nachteiligen) Kinderarbeit in Deutschland und anderen europäischen Ländern und stellt die einschlägigen Kinderarbeitsschutzgesetze vor, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts erlassen wurden. Im dritten Kapitel zeigt der Autor, welche Erscheinungsformen von Kinderarbeit heute in der Welt vorzufinden sind, wobei er auch auf Grenzfälle eingeht, die seine Definition von „nachteiliger Kinderarbeit“ auf die Probe stellen.

In Kapitel 4 wird die Rechtslage hinsichtlich Kinderarbeit in völkerrechtlichen Verträgen und einzelnen nationalen Rechtsordnungen diskutiert und gefragt, welche Schwierigkeiten sich aus dem divergierenden Verständnis einzelner Begriffe in verschiedenen Sprachen ergeben. Dabei macht der Autor z.B. darauf aufmerksam, dass in vielen nicht-europäischen Sprachen der Terminus Kinderarbeit keine Entsprechung hat oder entsprechende Termini erst in den letzten Jahrzehnten eingeführt worden sind, um den Erwartungen internationaler Organisationen (besonders der ILO) Rechnung zu tragen. In seiner Analyse der internationalen Übereinkommen gelangt der Autor zu dem Ergebnis, dass sie der Vielfalt der Formen von Kinderarbeit und der Realität in den Unterzeichnerstaaten nicht gerecht werden und oft für die arbeitenden Kinder negative Folgen haben. Ebenso kritisiert er, dass diesen Kindern als den direkt Betroffenen bis heute verwehrt wurde, an der Ausarbeitung der Gesetze und Übereinkommen mitzuwirken.

In Kapitel 5 entwickelt der Autor einige Lösungsvorschläge. Sie laufen vor allem darauf hinaus, in den rechtlichen Regelungen nicht nur Verbote festzuschreiben, sondern in ihnen weitere Kinderrechte (z.B. auf Partizipation) aufzunehmen und die Lebensrealität der arbeitenden Kinder und deren Sichtweisen zu berücksichtigen. Statt die Arbeit der Kinder in die Illegalität zu verbannen, sollten sie den Kindern auch Wege eröffnen, unter nicht-ausbeuterischen Bedingungen arbeiten zu können. In Kapitel 6 erörtert der Autor die Gründe, die trotz vertraglicher Ächtung dazu führen, dass (nachteilige) Kinderarbeit heute weiterhin sehr verbreitet ist.

In Kapitel 7 widmet sich der Autor einer kritischen Betrachtung der heute vorherrschenden Strategien zur Bekämpfung der (nachteiligen) Kinderarbeit und diskutiert alternative Lösungsvorschläge, auch solche, die von Organisationen arbeitender Kinder gemacht wurden. In Kapitel 8 wird die Untersuchung durch eine eigene Stellungnahme komplettiert. Abschließend betont der Autor, dass das Thema Kinderarbeit sich nicht allein aus juristischer Perspektive analysieren lasse, sondern auch für Soziologen, Ökonomen, Pädagogen und Mediziner (um nur einige Fachdisziplinen zu nennen) eine große Herausforderung bedeute. Seine eigene Untersuchung versteht er als Anregung, sich stärker interdisziplinär mit dem Thema zu beschäftigen und weitere Lösungswege zu erarbeiten.

Diskussion

Das Buch vermittelt einen guten Überblick über die bisherigen rechtlichen Regelungen zu Kinderarbeit und gibt dem Leser und der Leserin Kriterien an die Hand, um die Defizite und problematischen Seiten dieser Regelungen erkennen und beurteilen zu können. In einer für juristische Studien ungewöhnlichen Weise reflektiert der Autor sprachliche und kulturelle Aspekte, die für ein kritisches Verständnis der nationalen Gesetze und internationalen Übereinkommen unerlässlich sind. Dabei macht er auch darauf aufmerksam, dass die einschlägige Literatur überwiegend von Autoren stammt, die dem „westlichen Kulturkreis“ angehören oder sich ihm verpflichtet sehen. Sie hat zur Folge, dass in der juristischen Debatte und bei der Ausarbeitung der Gesetze und Übereinkommen eine bestimmte Sichtweise bis hinein in die Begriffswahl vorherrscht, die die Lebensrealität der arbeitenden Kinder und ihrer Familien im globalen Süden ausblendet oder nur verzerrt wahrzunehmen erlaubt.

An Grenzen stößt die Analyse des Autors, wo sich die Lebensrealität der arbeitenden Kinder der simplen Unterscheidung von „nachteiliger“ und „vorteilhafter“ Kinderarbeit entzieht. Da der Autor in enzyklopädischer Weise einen umfassenden Überblick verschaffen wollte, kommt eine genauere Betrachtung der in den rechtlichen Regelungen selber steckenden Widersprüche gelegentlich zu kurz. Hier wäre es vielleicht sinnvoll gewesen, nicht nur die bestehenden Regelungen zu interpretieren und kritisch zu kommentieren, sondern auch ihren historischen Entstehungsprozess genauer nach zu verfolgen. Eine solche Untersuchung, die den Entstehungsprozess der ILO-Konvention 138 über das Mindestalter für Erwerbsarbeit zum Gegenstand hat, ist kürzlich in englischer Sprache in Schweden publiziert worden: Marianne Dahlén, The Negotiable Child. The ILO Child Labour Campaign 1919-1973, Uppsala Universitet, 2007; online: http://uu.diva-portal.org/smash/record.jsf?searchId=1&pid=diva2:169702). Sie stellt zum hier rezensierten Buch eine aufschlussreiche und weiterführende Ergänzung dar.

Fazit

Das Buch von Tobias Schrader macht in einer für eine juristische Studie ungewöhnlichen Weise die Probleme bestehender rechtlicher Regelungen zur Arbeit von Kindern sichtbar und regt dazu an, über ihre begrenzte Reichweite, ihre oft nachteiligen Folgen und dringenden Änderungsbedarf nachzudenken.

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Es gibt 104 Rezensionen von Manfred Liebel.

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ISSN 2190-9245