Karl-Josef Pazzini (Hrsg.): Lehren bildet?
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 13.01.2011

Karl-Josef Pazzini (Hrsg.): Lehren bildet? Vom Rätsel unserer Lehranstalten.
transcript
(Bielefeld) 2010.
335 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1176-2.
29,80 EUR.
CH: 49,90 sFr.
Reihe: Theorie bilden - Band 18.
Bildung ist kein akkumulierbares, kapitalisierbares, in Besitz zu nehmendes Produkt
Über die Frage, was Bildung ist, bewirken und zustande bringen soll, gibt es (kontroverse) Diskussionen, seit Menschen denken und sich als Individuen und Gemeinschaftswesen in Besitz nehmen. Weil aber Bildung nicht vom Himmel fällt, noch Eins zu Eins vererbt wird, sondern sich immer auch gesellschaftlich bedingt, ist paideia in der aristotelischen Metaphysik Bildung und Erziehung zugleich., und der Mensch ist zôon politikon, ein sprach- und vernunftbegabtes, politisches Lebewesen. Der Diskurs um die Fragen von Bildung, vom Lehren und Lernen und über die Erziehung ist deshalb immanent: Wir leben in einer Wissensgesellschaft (vgl. dazu: Anina Engelhardt / Laura Kajetzke, Hrsg., Handbuch Wissensgesellschaft, transcript Verlag, Bielefeld 2010 in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/10463.php), das „Abenteuer Bildung“ ist angesagt (siehe: brand eins, Lernen lassen. Abenteuer Bildung. Hamburg 2009 in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/9955.php), reformpädagogische (Jürgen Oelkers, Reformpädagogik, Kallmeyer Verlag, Seelze/Velber 2009 in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/10292.php) und macht- und kulturkritische Fragestellungen (Lisa Rosen / Schahrzad Farrokhzad, Hrsg., Macht - Kultur – Bildung, Waxmann Verlag, Münster/New York/Berlin/München 2008, in: socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/7089.php) bewegen die Community; es stehen inter- und transkulturelle Herausforderungen in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt an, die einen Perspektivenwechsel fordern (siehe dazu auch: Willi Jasper, Hrsg.: Wieviel Transnationalismus verträgt die Kultur? Verlag Dr. Köster, Berlin 2009 in: socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/8437.php). die neue Formen von schulischen und außerschulischen Lern- und Integrationsprozessen, lokal, regional und global, verlangen (Kathrin Oester / Ursula Fiechter / Elke-Nicole Kappus, Schulen in transnationalen Lebenswelten, Seismo Verlag, Zürich 2008, in: socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/6624.php). Die Sorgen und Probleme, wie sie auch in der universitären Bildung virulent sind (Jens Sambale / Volker Eick / Heike Walkenhorst, Hrsg.: Das Elend der Universitäten. Neoliberalisierung deutscher Hochschulpolitik, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2008, in: socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/6833.php), stellen die Frage nach der Bildung heute neu und in anderer, weil globaler Akzentuierung, insbesondere wenn es um die institutionelle Bildungs- und Lehrorganisation in Deutschland geht. Wie jedes Mal, wenn die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Untersuchungsergebnisse der Studie zum internationalen Bildungsstand von Schülerinnen und Schülern bekannt gibt, wird der institutionellen deutschen Schul- und Bildungslandschaft schwaches Mittelmaß bescheinigt (so wieder Anfang Dezember 2010).
Entstehungshintergrund und Herausgeberteam
Bildung ist ein Menschenrecht, wie dies in der von den Vereinten Nationen 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert wird; Bildung ist aber auch ein Rätsel, so jedenfalls das Plazet eines interdisziplinären Colloquiums, das die Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg vom 21. – 23. November 2008 durchführte. Weil der tief greifende Umbau von Schule und Universität die Bildungsinstitutionen in berufspragmatisch ausgerichtete Lernanstalten verkehrt, bedarf es einer Rückbesinnung auf das, was Lehren und Lernen im Sinne von „pädagogischem Eros“ ausmachen (sollte), mit den eigentlichen Bildungs-, Lehr- und Erziehungszielen der Entfaltung von Beziehungen zwischen Menschen, den Momenten des Affektiven, der Wünsche und Erfahrungen. Der Hamburger Karl-Josef Pazzini, Professor für Bildende Kunst und Erziehungswissenschaften, Psychoanalytiker in eigener Praxis, die Literaturwissenschaftlerin Marianne Schuller und der Erziehungs- und Bildungsphilosoph Michael Wimmer legen in dem Sammelband „Lehren bildet?“ die Beiträge der Veranstaltung vor. Das Fragezeichen soll deutlich machen, dass es das Paradoxon zu diskutieren gilt: „Wenn man Bildung will, darf man Bildung nicht wollen“. Damit ist natürlich nicht ein Laissez-faire oder dem Zufall überlassender Bildungsverlauf gemeint, sondern die „Denkfigur einer Dekonstruktion der Gegensätze im Sinne von Verfehlen vs. Gelingen, von Planung vs. Kontingenz“.
Die Herausgeber glieder den Sammelband in vier Kapitel.
Im ersten geht es um „Zugänge“ zu den Zuständen der Bildungslandschaft, im zweiten um „Stimmen“, als Äußerungen, Proteste und Vorschläge, im dritten um „Szenen“ von Wirklichkeiten und im vierten um „Übergänge“, als Perspektiven. Der Schwerpunkt der einzelnen interdisziplinären Beiträge richtet sich dabei auf die Entwicklungen in den deutschen Hochschulen, als Ausfluss des „Bologna-Prozesses“; mitgedacht und -diskutiert wird dabei jedoch auch die schulische, institutionelle Situation.
Inhalt
Den
ersten Teil leitet
Michael Wimmer mit
„Anmerkungen zu einem problematischen Verhältnis“
ein. Das Problem sieht der Autor dabei in drei Fragestellungen: Zum
einen im Wandel des Bildungsbegriffs in sich transformierenden
Wissensgesellschaften, zum zweiten im ökonomischen und
bildungspolitischen Umbau und der Steuerung der
Bildungsinstitutionen durch globale Prozesse, und zum dritten in den,
nicht zuletzt durch die zahlreichen internationalen
Vergleichsuntersuchungen verursachten Fragen zum Qualitätsmanagement
und zur Schulentwicklung. Die Diskrepanz oder das Paradoxon besteht
darin, das ist eine uralte pädagogische Weisheit, die jedoch
immer wieder missverstanden, missachtet und missbraucht wird, dass es
„einen empirisch stichhaltigen Beweis, dass es das Lehren ist,
das bildet, (nicht gibt)“. Das Bild des „Nürnberger
Trichters“, mit dem Wissen eingeflößt werden kann,
ist ja ebenso obsolet, wie die Auffassung vom „naturwüchsigen
Wachsen“. Denn in den institutionalisierten Programmen, wie sie
sich als „Bildungsreformen“ darstellen, steht zuvorderst
die „Outputorientierung…
Der an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Systematische Erziehungswissenschaft lehrende Alfred Schäfer, diskutiert in seinem Beitrag „Zwischen Präsentation und Repräsentation“ die Untiefen der Wissensvermittlung. „Es sind die präsentierenden Repräsentanten des Wissens, die die pädagogische Hoffnung auf Befreiung von undurchschaubaren Machtverhältnissen, die Anwaltschaft für die Heranwachsenden gegenüber gesellschaftlichen Forderungen zu garantieren scheinen“. Das idealisierte und irreale Bild vom pädagogischen Verhältnis von Oben nach Unten, oder Gleichwertig und auf Augenhöhe, basiert ja auf der Überzeugung, dass „es das Wissen sei, das gelernt werden müsse, und dass es die Präsentation dieses Wissens sei, die den autoritativen Kernbereich des Lehrens ausmache“. Indem der Autor diese traditionelle Aussage in der Möglichkeitsform formuliert, stellt er sie gleichzeitig in Frage. Das Wissen von der (eigenen) Unwissenheit stellt sich, so Schäfer, eben nicht dadurch heraus, dass das Begehren nach Wissen institutionell und hegemonial eingegleist werden kann, sondern wie es möglich sein kann, „die Differenz des Versprechens des Wissens zu seiner hegemonialen Schließung (mit Hilfe ’verbürgten Wissens’, sozialen, rituellen Inszenierungen oder symbolischen Ordnungsmustern) in der Vermittlung selbst zu repräsentieren“.
Das Autorenteam, der (em.) Erziehungswissenschaftler Rainer Kokemohr und die Hamburger wissenschaftlichen Mitarbeiter Tim Schmidt und Gereon Wolftange formulieren mit der Frage „Globalisierte Bildung im Dickicht der Kulturen?“ gleichzeitig eine These: „Schulisches und universitäres Lehren und Lernen, im Zeichen der PISA-Untersuchungen und des Bologna-Beschlusses verstärkt auf berufspragmatische Verwertbarkeit eingestellt, begünstigt ein teaching and learning for the test“. In der Konfrontation der „okzidentalen Wissensformation“ mit interkulturellem wissenschaftlichem Denken, etwa dem Konfuzianischen, erweist es sich als erkenntnisreich, eine Unterscheidung zwischen Lern- und Bildungsprozessen vorzunehmen, wie sie etwa Foucault formuliert hat (siehe dazu auch: Robert Feustel / Maximilian Schochow, Hg., Zwischen Sprachspiel und Methode. Perspektiven der Diskursanalyse, transcript Verlag, Bielefeld 2010, Rezension in Vorbereitung); denn die weltpolitischen Veränderungen, wie sie durch die Globalisierung erzwungen werden, „nötigen, den radikalen Anspruch anderer Welt- und Selbstverständnisse, anderer Dispositive und ihrer Potentiale aufzunehmen“.
Das zweite Kapitel „Stimmen“ beginnt die Medienwissenschaftlerin von der Braunschweiger Hochschule für Bildende Künste, Ulrike Bergermann, mit ihrer vieldeutigen Aussage: „Gehen wir zu weit!“, indem sie über „Generation und Geschlecht in der Bologna-Anrufung“ reflektiert. Es ist die „Anrufung“ (oder sollte man eher sagen, die „Zumutung“), die kritikwürdig ist und –nötig macht. Die Kritik an den geschlechterspezifischen Perspektivierungen stellt sich dar in den herbeizitierten und als Maßstab für eine „Umwendung“ benutzten literarischen und fachwissenschaftlichen Argumentationen und weist darauf hin, dass „Gender ( ) wieder zum Nebenwiderspruch geworden (ist)“.
Der Hamburger Erziehungswissenschaftler und Lehrerbildner Reiner Lehberger setzt sich mit Problemen in der Lehrerbildung angesichts des Bachelor-Master-Systems auseinander, zeigt aber auch, am Beispiel der Hamburger Bildungspolitik, Chancen auf. Dabei weist er darauf hin, dass zwar, als Ergebnis des PISA-Schocks, nicht zuletzt aufgrund des öffentlichen Drucks, zusätzliche finanzielle Mittel für die Schulen ausgegeben werden, jedoch die Lehrerbildung in der ersten universitären Phase mit reduzierten Ressourcen zu kämpfen habe. Während es die Spatzen von den Dächern pfeifen und die wissenschaftlichen Untersuchungen belegen, dass die Schulreform und der Bildungserfolg mit der Qualität der Lehrkräfte in einem engen Zusammenhang steht, kommt weder in der Öffentlichkeit noch in der Politik dieser Tatsache eine gesteigerte Aufmerksamkeit zu. Das hat nicht in erster Linie mit den finanziellen Ressourcen zu tun, sondern ist vor allem der nach wie vor ungeklärten und ungeregelten Ausbildungs- und Anerkennungspraxen im föderativen universitären System zu tun – und mit den an den Universitäten nach wie vor minderbewerteten „Lehr“ – im Verhältnis zu „Forschungs“ – Kompetenzen. Der Autor stellt zum Schluss seines Beitrags die Frage danach, ob es für die Lehrer(aus)bildung nicht einer „school of education“ bedürfe.
Der Erziehungswissenschaftler an der TU Darmstadt, Peter Euler, rüttelt an der scheinbar selbstverständlichen Errungenschaft, dass der Mensch nicht nur lebenslang lernt, sondern gewissermaßen dazu auch durch die gesellschaftlichen Forderungen nach lebenslangem Lernen verpflichtet wird. Dass dabei nicht zuvorderst die immerwährende Bildung der sittlichen und moralischen Disposition des Menschen gemeint ist, wie dies bereits von Platon und Aristoteles verfasst wurde, sondern die Anpassungs- und Funktionsfähigkeit in der hochkapitalisierten Gesellschaft, darauf verweist der Autor, indem er an die drei großen Bologna-Ziele verweist: Wettbewerbs- und Beschäftigungsfähigkeit, sowie Mobilität. Er fragt und entlarvt damit den Mainstream, weshalb eigentlich die OECD und nicht die UNESCO international für das Bildungswesen zuständig sei und die Verpflichtung zum Lifelong learning zum „heteronomen Selbstlernzwang“ wurde. Den Zeigefinger erhebt Euler dadurch, dass er bei den aktuellen Lerntheorien eine Unterscheidung von Wissen und Verstehen für das Lehren vermisst und „wider die repressive Gleichsetzung von Vermittlung und Aneignung“ im Lernprozess angeht, indem er analysiert, dass „die unter dem Diktat der Verwertung stehenden und heute gängigen Lernprozesse ( ) dagegen eine ’Aneignung’ (verlangen)“.^
Der Physik-Didaktiker an der J. W. Goethe-Universität in Frankfurt/M., Thomas Görnitz, nimmt in seinem Beitrag „Menschenbilder und Konzepte des Lehrens“ die Begründungserklärung zur Durchführung des Hamburger Colloquiums, dass der tief greifende Umbau von Schule und Universität in berufspragmatisch ausgerichtete Lernanstalten den Sinn und die Ziele der Bildungsinstitutionen verkehre, zum Anlass, um die negativen Entwicklungen und Wirkungen im Bereich des Lehrens und Lernens aufzuzeigen. In einer tour d’horizon geht der Autor der historischen Entwicklung vom naturalistischen hin zum von der Quantentheorie beeinflussten modernen Menschenbild nach. Es sind die emotional und kreativ entstandenen Lernsituationen, -entwicklungen und –ergebnisse, die ein künftiges Menschenbild ermöglichen. „Zukünftig wird kreativen Entwicklungen im Lernprozess, das zeigt uns die Naturwissenschaft, ein wesentlich breiterer Raum eingeräumt werden müssen, als dies heute unter dem Zwang leerer Kassen propagiert wird“.
Agnieszka Dzierzbicka, Professorin für Kunst- und Kulturpädagogik am Wiener Institut für das künstlerische Lehramt an der Akademie für bildende Künste, plädiert „für das Imaginäre in der Lehre“, indem sie sich für ein „eingreifendes Mitmischen“ im Sinne der poststrukturalen Perspektive Foucaults einsetzt. Sie beklagt dabei, wie vorher bereits andere, dass die Bewertung der Lehrtätigkeit an wissenschaftlichen Hochschulen äußerst ambivalent verläuft. Die Didaktiker im Wissenschaftsbereich sind gegenüber den Forschern überwiegend in die hinteren Reihen der Ansehens-, Bedeutungs- und Handlungsskala an den Universitäten verwiesen; und fast mit einem verzweifelten, resignativen Unterton stellt die Autorin fest: „Was soll eine Lehre sein, die nicht forschungsgeleitet ist?“. Die Neustrukturierung der schulischen, außerschulischen und universitären Lehre muss die Leerstelle der Bedeutung des Lehrens und Lernens füllen, mit einem Menschenbild, das nicht in erster Linie ein funktionierendes und konsumtives Gesicht hat, sondern ein moralisch-ästhetisches (vgl. dazu auch: Hildegard Kurt, Wachsen!. Über das Geistige in der Nachhaltigkeit, Mayer-Verlag, Stuttgart 2010, in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/10369.php).
Der Musikpädagoge an der Universität Hamburg, Jürgen Vogt, schiebt mit seinem Beitrag „Kein ’Zurück zu Humboldt’“ einen Riegel gegen die Tendenzen und Politiken vor, die die Probleme, die der Bologna-Prozess mit sich bringt, als Anlass nehmen, ein „Wie war das doch früher so schön!“ auszurufen und am besten alles beim alten lassen möchten. Vogt nimmt für sein Plädoyer Nietzsches Ausspruch, dass man die Zukunft der Bildung dadurch retten können, indem man sie abschaffe; und zwar mit der in der Rezeption vielfach missverstandenen und fehlinterpretierten „Ekel-Didaktik“, mit der er sich gegen die Humboldtschen Kategorien einer Haltung wendet, die besagt, „soviel Welt als möglich zu ergreifen“, mit seiner Prämisse, „soviel Welt als nötig von sich abzustoßen, und dies ist zu lehren und zu lernen“. Die „Subjekt-Bildung“, wie sie in der Humboldtschen Tradition verstanden wird, müsse zu einer „Ekel-Lehre“ werden, als Verachtung einer „Bildung, welche von vornherein die Realitäten aus den Augen verlieren lehrt“. Und siehe da: In der Zeit, in der, auch in der Pädagogik, die Gewissheiten abhanden gekommen sind, kann es gelingen, von Nietzsche zu lernen; z. B. mit seiner „Genealogie“, wenn es darum geht, einen Sachverhalt, im Nietzschesschen Sinne die Moral, in unserer Jetztzeit die gesellschaftlichen (kapitalistischen) Verhältnisse, bis auf seine Entstehung zurück zu führen.
Im dritten Kapitel „Szenen“ skizziert Marianne Schuller „Szenen des Lehrens“. Wenn Lehren als Schaffung von Wissen aufgefasst wird, lässt sich sagen: Es geht beim Lehren „um einen Prozess, der das Wissen, das es lehrt, mit erzeugt“. Das Paradoxon wird deutlich, wenn man dagegen den Begriff „Nicht-Wissen“ einsetzt und damit an den Grundfesten des Lehrers rüttelt. Lässt man sich auf dieses Denkwagnis ein und versucht man, die „Leerstelle“ mit Denkprozessen etwa eines Walter Benjamin oder eines Bert Brecht zu füllen, so kommt man zu einer überraschenden und im didaktischen und curricularen Diskurs ungewohnten Erkenntnis: „Lehren (ist ) an den Modus des ’als ob’ geknüpft, der Raum für ein forschendes Denken öffnet“.
Der Literaturwissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Marcus Coelen, reflektiert mit seinem Beitrag „(Un-)Möglichkeit, Notwendigkeit, Kontingenz in der ’Lehre der Literatur’“ die Unmöglichkeit, eindeutig und allseitig zu bestimmen (oder gar vorher planen zu wollen), was sich in einem Literaturunterricht oder einem universitären Literaturseminar ereignet. Ist es der Text, der Nachvollzug einer geschilderten Situation oder Problemstellung, die Sprache, der Ausdruck, der Vortrag…; und in welcher Weise wirken Betroffenheit, Erlebnisfähigkeit und –bereitschaft beim Lernenden? Es ist, als ob Proust sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit (und Sache) begibt, wenn der Literaturwissenschaftler die Frage danach stellt: „Was ist die Literatur?“. Die Antworten darauf sind weder eindeutig noch zufällig, sondern es sind Suchbegriffe, wie „symbolische Ordnung“, in einem Wirrwarr von Fragen und Ungewissheiten, die nicht dechiffriert sondern höchstens gedacht werden können, als „Lehren zu bilden“.
Die Hamburgerin Sibylle Peters bezeichnet sich als „Projektmacherin zwischen Kulturwissenschaft und Theater“. Sie stellt „Überlegungen zur Geistesgegenwart im Auditorium“ an, indem sie über forschendes Lernen und Lehren referiert. Sie drückt dabei erst einmal ihr Erstaunen darüber aus, „wieso das forschende Lernen in einer Zeit erneut Konjunktur haben kann, in der Forschung und Lehre in anderer Hinsicht eher weiter auseinander driften“, etwa, indem an den Universitäten Lehrkräfte für besondere Aufgaben tätig sind, die ausdrücklich keine Forschungsansprüche haben sollen, sondern Lehraufgaben übernehmen. Dem gegenüber stellt sie die rhetorische, didaktische und methodische Fähigkeit des (freien) Vortrags im Auditorium als Lehre, bei der der Lehrer erkennen lässt, dass der Lehrende die Thematik nicht nur er- und begriffen hat, sondern auch von ihr ergriffen ist.
Der Kölner Erziehungswissenschaftler Olaf Sanders provoziert mit seinem Beitrag: „Zwischen desaströser Universität und Universität des Desasters – oder: Modulation als Herausforderung für universitäre Lehre und Antwort auf die Modularisierung von Studiengängen“, indem er die Ausführungen des französischen Philosophen Gilles Deleuze (1925 -.1995) zum Anlass nimmt, über die „Pädagogiken als Ethik des Widerstands gegen funktionale Verdummung an Universitäten“ nachzudenken. Ausgehend von der (real zu beobachtenden) These, dass (scheinbar) die jungen Menschen heute „von der Kulturindustrie nach und nach mit allgemeinen von Hyperaktivität begleiteten Aufmerksamkeitsproblemen versehen“ wurden und ein konzentriertes Interesse an anstrengendem Mitvollziehen von komplizierten Sachverhalten eher verlustig gingen. Schulen und Universitäten reagieren darauf nicht selten mit Kurzfristigem als Information und Lehre und mit der verrufenen „Häppchen-Pädagogik“. Wenn aber Lehre zur Leere wird, wird die Universität weiterhin eine Lehranstalt bleiben und kein Ort als „Wirkelement in der Umbildung des Individuums“, wie dies Foucault formuliert hat.
Im vierten Kapitel „Übergänge“ formuliert der ehemalige Schulleiter eines Berliner Gymnasiums und Psychoanalytiker Hinrich Lühmann eine Philippika gegen die „flächendeckende Ökonomisierung… (bei der) die zweckrationale Durchdringung der Schulen nach Organisationsprinzipien der Wirtschaft mit dem Ziel einer kostengünstigen, im Hinblick auf Aufwand und Ertrag effizienten und in Zahlen darstellbaren Steigerung der Unterrichtsqualität“ erreicht werden kann. Er bringt in den pädagogischen, erziehungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskurs die (unbequeme) Erkenntnis ein, dass „das Wissen, dass der Lehrer in ein Netz von Übertragung und Gegenübertragung verwoben ist“, die es ihm ermöglichen (würden), besser zu verstehen und professionell damit umzugehen, was im Unterricht geschieht.
Der als Lehrer und Forscher in der Lehrerbildung an der Universität Luxemburg tätige Jean-Marie Weber geht in seinem Beitrag „Die Bedeutung der Arbeit an der Übertragung in der Lehrerbildung“ ebenfalls auf psychoanalytische Bezüge und Erkenntnisse ein und formuliert auf die Frage, was Lehrerinnen und Lehrer als Wissen zur Ausübung ihres Berufes benötigen, die kurz gefasste Antwort: Dialogisieren, Demonstrieren, Taktieren. Er stellt dabei die verschiedenen Ebenen der Übertragung vor (die imaginäre, die symbolische und die reale Übertragung) und zeigt auf, wie die universitäre „Vorbereitung auf einen unmöglichen Beruf“ gelingen kann – durch ein Tutoriat, bei dem Tutor und Referendar, vorbereitet, angeleitet und begleitet durch eine psychoanalytische Profession, gemeinsam die Übertragung analysieren und bearbeiten können.
Torsten Meyer, Professor für Kunst und ihre Didaktik an der Kölner Universität, diskutiert eine Entwicklung, die, von der poststrukturalen Psychoanalyse (Jacques Lacan) ausgeht und das traditionelle Verständnis von „Vernunft“ und „Verstand“ umformt in „symbolische Kollektivintelligenz“. Das „Sujet Supposé Savoir“, als „Subjekt, das wissen soll“ und dabei vielfachen, rationalen und irrationalen Einflüssen unterliegt, lässt sich in einer Reihe von Denk- und Handlungsstrategien ausdrücken und bietet für Kommunikations- und Lernanlässe vielfältige Möglichkeiten und Entdeckungen, bis hin zur digitalen Mediosphäre.
Den Sammelband schließt Karl-Josef Pazzini mit „Notizen zur Übertragung“ ab, indem er über die „Überschreitung des Individuums durch Lehre“ reflektiert. Mit der Metapher „Lehren hofft man“, macht er auf eine Differenz aufmerksam, bei der in der auf Machbarkeit und Nützlichkeit orientierten Weltsicht die Leerstellen und gleichzeitig die Bindungen, die Lehren und Lernen kennzeichnen, unsichtbar zu werden drohen. Die Übertragung, als Brücke und psychoanalytisches Merkmal, hat im Lehr- und Lernprozess eine Bedeutung, die bisher im pädagogischen Diskurs zu gering eingeschätzt wurde. Die Ungewissheit, die den Lernprozess bestimmt, muss Lehrern und Schüler, Lehrenden und Lernenden bewusst sein, denn „die Haltung zu dieser Ungewissheit ist wohl der mächtigste Erzieher und dann auch Bildner“.
Fazit
Die beim Hamburger Symposium zum Thema „Lehren bildet?“ formulierten, interdisziplinären Aspekte machen auf eine ungute und für die Gesellschaft unzuträgliche Entwicklung aufmerksam: „Anstatt zu lernen um zu leben, lebt er um zu lernen“. Die Folgen dieser auf (ökonomisches und kapitalistisches) Funktionen des Getriebes Mensch hin zu einem ein- und ausgerichtete Bildungsbewusstseins sind deutlich erkennbar und erlebbar, durch Egoismus, Selbstsucht und Gier. Auf der Strecke bleibt das, was Menschsein ausmacht: Gerechtigkeit, Solidarität und Humanität. So stellt sich das „Rätsel unserer Lehranstalten“ als ein Puzzle dar, das sich nur zu einem humanen Menschenbild zusammen fügen lässt, wenn wir Bildung, Lehren und Lernen „wie die Unruhe in einer Uhr“ anerkennen und austragen.
Die Unruhe, die jeden Lehrenden und Lernenden ergreifen sollte, um im Bildungsprozess auf direkt und indirekt wirkende Übertragungen zu achten und sie wahr zu nehmen, ist auch Lehrerinnen, Lehrern, Schülerinnen, Schülern, Professorinnen, Professoren und Studierenden anzuraten.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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