Werner Petermann: Anthropologie unserer Zeit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 30.12.2010
Werner Petermann: Anthropologie unserer Zeit. Peter Hammer Verlag (Wuppertal) 2010. 200 Seiten. ISBN 978-3-7795-0297-5. 24,00 EUR.
Die Suche nach den Wesenszügen des Menschen
Die Suche nach dem ontologischen Gefüge des menschlichen Daseins ist ein uraltes Begehren menschlichen Denkens und Forschens, über alle Zeiten hinweg. Als zôon logon echon unterscheidet Aristoteles den Menschen von anderen tierischen und pflanzlichen Lebewesen – und indem er ihm Vernunft- und Sprachbegabtheit zuspricht: Es ist die Fähigkeit und Angeborenheit, sozial zu handeln und auf Gemeinschaftsleben angewiesen zu sein, die den Menschen zum zôon politikon, zum politisch denkenden und handelnden Lebewesen macht. Die Denkrichtungen und Wissenschaften, die sich damit auseinandersetzen, sind, je nach ihren theoretischen und praktischen Frage- und Bestandsfundamenten, entweder philosophischer, biologischer, psychologischer oder kultureller Art. Die Frage „Was ist der Mensch“ wird somit unterschiedlich zu beantworten sein. Dabei tut sich sofort das Problem auf, dass es die Antwort darauf nicht gibt; es sei denn, sie wird religiös beantwortet – dann braucht es nämlich keiner weiteren Fragen. Dass wissenschaftliches Denken damit nicht zufrieden sein kann, leuchtet ein und begründet die „Lehre vom Menschen“, wie die Anthropologie bezeichnet wird; allerdings untergliedert in verschiedenen wissenschaftlichen Ansätzen: Dem geisteswissenschaftlichen Ansatz mit der Kultur-, Sozial-, Industriesoziologie, der philosophischen, theologischen und historischen Anthropologie, den naturwissenschaftlichen Disziplinen, mit der biologischen und forensischen Anthropologie, und weiteren Bereichen, wie der kybernetischen, pädagogischen und sozialwissenschaftlichen Anthropologie und der anthropologischen Medizin.
Die Kulturanthropologie hat sich im 20. Jahrhundert aus der Volks- und Völkerkunde entwickelt und stellt den Menschen als „Kulturträger“ in den Mittelpunkt des Fragens und des Bewusstseins, „dass jedes Menschenleben sich im Rahmen eines Kulturganzen abspielt, dass jeder Mensch, in bescheidenem oder hervorragendem Maße an dieser Kultur mitformt und damit eine schicksalhafte Bedeutung für diese hat; dass schließlich diese Kultur die Art seiner sämtlichen Betätigungen bestimmt…" (vgl. dazu auch: Erich Rothacker, Probleme der Kultur-Anthropologie, Bonn 1948). Die unterschiedlichen Auffassungen und zu kulturellen Identitäten, aber auch zu Ideologien, wie etwa rassistischen Höherwertigkeitsvorstellungen, und „Leitkultur“- Forderungen führenden Einstellungen haben im wissenschaftlichen Diskurs immer wieder auch die Forderungen nach einem Ganzen der menschlichen Bestimmtheit hervorgebracht und die Auseinandersetzungen darüber, was Kultur ist, belebt, bis hin zu den globalen gesellschaftlichen Diskussionen, ob der Mensch ein homo oeconomicus, ein homo sociologicus oder vielleicht ein homo humanicus sei. Nehmen wir die Definition von Kultur, als „ Gesamtheit des Besitzes an materiellen und geistigen Gütern sowie an Fähigkeiten und Organisationsformen“ (vgl. dazu: Alfred Hettner, Der Gang der Kultur über die Erde, 1969) oder als„Gesamtheit der Formen menschlichen Zusammenlebens“ (UNESCO), wird deutlich, dass die Suche nach den Wesenszügen der Menschen in der sich immer interdependenter, entgrenzender (und ungerechter?) sich entwickelnden Welt dringlicher wird, soll die Menschheit als Humanum überleben können. Die Erwartungshaltungen, wie sie sich etwa in der „Systemischen Anthropologie“ und in weiteren theoretischen Konzepten der Humanwissenschaften verdeutlichen, dass andere und weiterführendere, anthropologische Antworten gefragt sind als die der neoliberalen und macht-machbaren Ideologien und Gesellschaftskonzepten. Sie sollten global- und nachhaltigkeitsorientiert sein und mit dem „’Wir’ des wissenschaftlichen Anspruchs… die ’Anderen’… nicht länger aus-, sondern einschließ(en)“. Damit wird in der Ausdifferenziertheit alltäglichen und wissenschaftlichen Denkens herbei gesehnt, was dem Begriff „Anthropologie“ entspricht, nämlich das Ideal einer Universalwissenschaft vom Menschen.
Forschungsstand in der Anthropologie
Die vielfältigen Projekte und Initiativen, in der EINEN Welt die Grundlagen zu erkennen, wie ein friedlicheres, gerechteres und humaneres Zusammenleben der Menschen durch die Vielfalt ihres Daseins erkannt und realisiert werden können, machen eins deutlich: Das Denken und Forschen im Elfenbeinturm der jeweiligen Disziplinen ist genau so obsolet, wie das Einlullen des Einzelnen und der Gesellschaft im nationalen, kulturellen und ethnischen Gartenzaun. Es bedarf, soll das transkulturelle Denken und Handeln zum Grundprinzip menschlichen Lebens werden, eines empathisch vernetzten Daseins (vgl. dazu auch: Michael Bommes, Veronika Tacke, Hrsg., Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft, Wiesbaden 2011, in: www.socialnet.de/rezensionen/10342.php).
Das ist der Zeitpunkt, die Frage nach der Zielsetzung und Bedeutung der Anthropologie als Wissenschaft heute zu stellen. Eine Antwort darauf kann zum einen in einer Darstellung des geschichtlichen Werdens, der Entwicklung und der für die Zunft wichtigen Etappen und Wegemarkierungen liegen, wie sie der Münchner Ethnologe, Philosoph, Ägyptologe und Schriftsteller Werner Petermann mit seiner 2004 erschienenen „Geschichte der Ethnologie“ gibt (Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2004). Eine andere, weiterführende Antwort formuliert Werner Petermann, indem er in seinem Buch „Anthropologie unserer Zeit“ verdeutlicht, dass eine Zustandsbeschreibung, schon gar eine Bestandsaufnahme der Wesenheit der Anthropologie derzeit nur als „Assemblage“ möglich sei, nämlich einem Ensemble von Verschiedenem und Unterschiedlichem, aus dem sich jedoch etwas Eigenes entwickeln kann.
Aufbau und Inhalt
Der Autor reagiert mit seinem Buch auf die auch die Anthropologie erreichte Wende als Cultural Turn, indem er das „ Ende der Gewissheiten“ aufzeigt (vgl. dazu auch: Michael M. Thoss / Christina Weiss, Hrsg., Das Ende der Gewissheiten. Reden über Europa, München 2009, in socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/7917.php), die sich mit dem Tod des großen Anthropologen Claude Lévi-Strauss (2009) ankündigt. In der Darstellung der seitdem sich vollziehenden Diskurse und Positionsbestimmungen in der wissenschaftlichen Community macht er einen doppelten Wandel in der Anthropologie aus: „Vom Studium der soziokulturellen Strukturen menschlichen Lebens…, zum Studium der Formen menschlichen Lebens…“, verbunden mit Änderungen in der Methodik wissenschaftlichen Fragens und Forschens. Der „Kulturfluss“ (cultural flow) als permanente und globalisierte Einflussnahme, stellt dabei nur eine der zahlreichen diskutierten Anthropologien dar, geschuldet der Tatsache einer global sich entwickelnden Welt; und die als Reaktion darauf entstehenden Auseinandersetzungen um den Kulturbegriff und die Begrifflichkeiten kulturellen Denkens uns Handelns der Menschen als holistisch oder fraktal, hegemonial oder transkultural, fundamental oder global. Es sind dabei immer gedachte und von Einzelnen oder in Schulen entwickelten Systembildungen, wie etwa die Weltsystemtheorien, wie sie vom US-amerikanischen, neomarxistischen Sozialwissenschaftler und Wirtschaftshistoriker Immanuel Wallerstein und anderen entwickelt wurden; oder die vom britischen Sozialanthropologen Frederic Barth gedachten Prämissen eines „kulturellen Konstrukts…, das es empirisch zu dekonstruieren gelte, indem man die aus sozialen Prozessen hervorgegangenen kulturellen Muster … erforscht und die gegenseitige Abhängigkeit ihrer Elemente untersucht“; oder die des schwedischen Sozialanthropologen Ulf Hannerz entwickelte Idee der „Welt im Zustand der Interkonnektivität“ und damit gleichsam einer spezifischen Zuordnung des Lokalen und Globalen in den (inter-)kulturellen Kommunikationsfluss; oder die vom indischen Anthropologen Arjun Appadurai eher pessimistische Einschätzung: „The world we live in now seems rhizomic…, even schizophronic…“; oder die aus dem US-amerikanischen Diskurs entstandenen Cultural Studies mit dem Modell des „Circuit of Culture“.
Weil es zum Fluss der Globalisierung nur die nicht gewollte Alternative der Ethnisierung und Nationalisierung geben kann und darf, ist die Frage, wie das Regionale mit dem Lokalen zusammen kommen könne und wie sich beide mit dem Globalen vertrügen, eine wichtige und notwendige Denk- und Handlungsleistung (vgl. dazu auch: Michael Gehler / Silvio Vietta, Hrsg., Europa – Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, Böhlau Verlag, Wien 2009, in socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/9268.php). Die Versöhnung von Raum und Kultur als zentrales Organisationsprinzip der traditionellen anthropologischen Wissenschaften, gerät durch die globale Ausweitung des Raums in ein Missverhältnis (vgl. dazu auch: Christian Berndt / Robert Pütz, Hrsg., Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn, transcript Verlag, Bielefeld 2007, in: socialnet Rezensionen unter socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/6651.ph)
.In der globalisierten Welt findet sich die Anthropologie in einer „gleichzeitigen Welt“, die sich in drei „Übertreibungen“ darstelle: der Überfülle an Ereignissen in einer medialen Überinformation, der Übersteigerung des Räumlichen und einer Individualisierung des vermeintlich Habhaftbaren durch den Menschen; diese Analyse trifft der französische Anthropologe Marc Augés mit seiner Theorie „Anthropologie Géneralisée“. Der kalifornische Sozial- und Kulturanthropologe Paul Rabinow knüpft an Michel Foucault an, wenn er, sich beziehend auf die klassischen Positionen anthropos – Mensch und logos – Vernunft, die Grenzen menschlicher Vernunft befragt und eine „Anthropologie des Zeitgenössischen“ entwirft. Schließlich ist infolge der (amerikanischen) Postcolonial Studies die Frage nach der Hybridität der Kultur(en) zu stellen: „Kultur speist sich immer aus einer Vielzahl von Quellen“ (vgl. dazu auch:. Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt, Hrsg., Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Unrast-Verlag, Münster 2005, Rezension in BerlinerLiteraturkritik).
Fazit
Der Gang durch die Diskurse der Anthropologie in der globalisierten Zeit ist eine kluge, knapp gefasste Einführung in ein Wissenschafts- und Forschungsfeld, bei dem die deutschen Stimmen relativ leise und eher zufällig daherkommen: „So etwas wie eine charakterisierbare deutsche Anthropologie… gibt es derzeit nicht zu erkennen“. Die deutschen Anthropologen allerdings bemühen sich redlich, Anschluss an den internationalen anthropologischen Diskurs zu finden. Wenn es künftig nicht bei der aktuellen „Rückerinnerung“ in der akademischen, theoretischen und praktischen wissenschaftlichen Arbeit bleiben soll, bedarf es eines neuen Aufbruchs und eines Ausbruchs aus den Orchideennischen an den Universitäten; und es ist notwendig, dass sich die Gesellschaft darauf besinnt, dass die Standort- und Wertbestimmung über den Anthropos eine wichtige Denk- und Handlungsherausforderung in der globalisierten Welt darstellt. Die Anthropologie sollte sich ernsthafter darum bemühen, ihre Pfunde der Interdisziplinarität auf die gesellschaftliche Waagschale zu legen. Es gibt eine Reihe von interessanten Ansätzen dazu (vgl. dazu: Jörn Rüsen / Henner Laas, Hrsg., Interkultureller Humanismus, Schwalbach/Ts., 2009, socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/8537.php, sowie: Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, Campus Verlag, Frankfurt/M., 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9048.php)
Das Buch „Anthropologie unserer Zeit“, das in der Trickster Edition des Peter Hammer Verlags erschienen ist – im übrigen ist Trickster ein Urgestein in der inter-, transkulturellen, ethnologischen und anthropologischen, literarischen Landschaft, die mit der ethnologischen Zeitschrift „Trickster“ Denkpfähle setzte und seit 1996 durch den Peter Hammer Verlag weitergeführt wird – ist ein notwendiger und wichtiger Baustein für Studierende der sozialwissenschaftlichen Fächer und ein Puscher und Anreger für ein kooperatives und vernetztes Denken und Forschen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 30.12.2010 zu:
Werner Petermann: Anthropologie unserer Zeit. Peter Hammer Verlag
(Wuppertal) 2010.
ISBN 978-3-7795-0297-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10567.php, Datum des Zugriffs 14.12.2024.
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