Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Gerlinde Malli: "Sie müssen nur wollen". Gefährdete Jugendliche [...]

Rezensiert von Prof. Dr. Titus Simon, 25.05.2011

Cover Gerlinde Malli: "Sie müssen nur wollen". Gefährdete Jugendliche [...] ISBN 978-3-86764-297-2

Gerlinde Malli: "Sie müssen nur wollen". Gefährdete Jugendliche im institutionellen Setting. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2010. 198 Seiten. ISBN 978-3-86764-297-2. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 36,90 sFr.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Thema und Entstehungshintergrund

Die vorliegende Arbeit wurde an der Karl-Franzens Universität Graz im Fachgebiet Kulturanthropologie als Dissertationsschrift eingereicht und dient dem Erwerb eines Doktorates der Philosophie. Sie ist Bestandteil des zwischen 2004 und 2008 angelegten Forschungsprojekts „Sie müssen nur wollen. Eine kulturwissenschaftliche Bestandsaufnahme sozialer Umbrüche in jugendlichen Lebenswelten“. Dieser Hinweis begründet unter anderem, weshalb die Auseinandersetzung mit dem interaktiven Geschehen zwischen Institutionen und Jugendlichen, deren Verhalten als abweichend bewertet wird, nicht vorrangig dem Primat der Bewertung pädagogischer Prozesse und Verläufe folgt. Die zentrale Fragestellung bezieht sich vor allem darauf, wie kulturelle und soziale Transformationsprozesse auf die Lebenswelten der Jugendlichen einwirken, wie diese darauf reagieren und welche Handlungsoptionen diesen bleiben. Das Kernstück der empirischen Erhebungen sind 60 verstehende Interviews mit 40 Jugendlichen. Diesen gingen teilnehmende Beobachtungen in verschiedenen Gruppen voraus, die in städtischen Räumen und in betreuenden Institutionen angetroffen wurden.

Aufbau und Inhalt

Die einleitenden Darstellungen der Jugendphase als Übergang sind knapp, folgen puristisch einigen klassischen Linien der Subkulturforschung. Wichtig ist allein der Hinweis, dass die Gegenwartsgesellschaft kaum noch die psychosozialen Voraussetzungen bietet, die eine Gestaltung des Übergangs zwischen Jugend- und Erwachsenenphase im Sinne des von Erikson als psychosoziales Moratorium bezeichneten Prozesses ermöglicht. Die Gegenwart bietet (vermeintlich?) keine Orte für Moratorien. Folglich sind institutionalisierte Formen Sozialer Arbeit aus der Sicht der Autorin ausschließlich Teil des wohlfahrtstaatlichen Arrangements, das soziale Integration verspricht und Beträge zur Aufrechterhaltung einer sozialen Ordnung leistet. Das nachfolgende Kapitel besteht aus einer gerafften Skizze zu gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, wobei im Kern vor allem Altbekanntes über die Veränderungen der Arbeitsgesellschaft reproduziert wird. Das Methodenkapitel betont die Notwendigkeit eines „verstehenden“ Zugangs zur Zielgruppe, streift historische Erhebungsbeispiele – von der Marienthalstudie über Feldforschung zum ethnopsychoanalytischen Gespräch – und begründet die Auswahl der Beobachtungs- und Fragetechniken.

Aufmerksamkeit verdient das Buch vor allem in den Kapiteln 4, 5 und 6. Hier werden unter Hereinnahme von Institutionsanalysen und Fallstudien „Logiken des Ausschlusses“, „Logiken der Eingliederung“ und „Logiken der Hilfe“ vorgestellt.

Der institutionelle Rahmen des 4. Kapitels ist der „Holzhof“, eine stationäre Langzeiteinrichtung der Suchthilfe, die sich an ehemals suchtkranke junge Männer richtet. Dessen Konzept deutet die Autorin als Kombination traditioneller Herrschaftstechniken mit „neosozialen Selbsttechnologien“. Während erstere vor allem der „Abkühlung des überhitzten Adoleszenzpotentials“ dienen, eröffnet das therapeutische Konzept – in der Tradition der bekannten Stufenprogramme – im weiteren Verlauf wachsende Selbstgestaltungsoptionen. Die Analyse des „Falles Andreas“ erschließt beispielhaft die Drogenkarriere eines befähigten Jugendlichen, dessen adoleszente Schwierigkeiten mit den Erziehungsschwächen einer überforderten allein erziehenden Mutter und den Reaktionen der umgebenden Institutionen einen „Fall“ ausformen, in dem es über zahlreiche Erziehungsversuche, Diagnosen und Interventionen zu einem (vorübergehenden) Scheitern kommt. Diese Fallstudie wird, wie auch die nachfolgenden, mit längeren Ausschnitten aus dem Interviewmaterial illustriert. Die nachfolgende analytische Ausdeutung der wirksam werdenden Logiken des Ausschlusses gehört zu den Stärken des Buches.

Das nachfolgende 5. Kapitel hat einen ähnlichen Aufbau. Über die Auseinandersetzung mit den „Logiken der Eingliederung“ wird beispielhaft anhand der Situation von Jugendlichen nachgedacht, die sich in einem zwölfwöchigen Kurs befinden, in dem arbeitslose Jugendliche Berufsorientierung und Bewerbertraining erhalten. Anbieter ist ein „Verein für Jugend und Arbeit“, der seit Beginn wachsender Jugendarbeitslosigkeit das ganze Spektrum staatlich geförderter Maßnahmen angeboten hat. Längst ist man abgekommen vom Vorrang der Integration. In der Phase der „neuen Ungewissheit“ gibt es für „Risikojugendliche“ keine verlässlichen Optionen mehr. „Riscflecting“ lautet das neuen Zauberwort: Wenn schon die Integration in sichere Arbeits- und damit Lebensverhältnisse nicht mehr gelingt, muss die Risikokompetenz der Jugendlichen, also deren Fähigkeit, mit den Risiken ihres Alltags leidlich umgehen zu können, erhöht werden. Der Verlauf einer erfolglosen beruflichen Integration wird am „Fall Lena“ beschrieben. Auch hier ergeben die Beschreibungen der problematischen institutionellen Weichenstellungen und das Interviewmaterial eine hilfreiche Verdichtung, die Fallverstehen ermöglicht, ohne dass Auswege aufgezeigt werden können.

Die nachfolgenden Betrachtungen der „Logiken der Hilfe“ beschreiben anhand der „Fallanalyse Jana“ die Beiträge, die behördliches und institutionelles Handeln zum Scheitern oder zum Rückzug von Personen aus den traditionellen Netzwerken der Hilfe leisten. Hoch institutionalisierte Formen der Hilfe sind häufig sehr unflexibel und an ein kontrollierbares Maß der Mitwirkung gebunden. Wer diesen Anforderungen nicht gerecht werden kann, wird „ausgestoßen“. Die nachfolgenden Fallanalysen führen konsequenterweise in die Lebenswelt der Straßenszenen. Sophia und Max sind ein Paar, das sich in der Lebenswelt der Straßenpunkszene kennengelernt hat, die sich um den Grazer Jakominiplatz ausgebildet hat. Das Pendeln zwischen Straßenkultur, niedrigschwelliger Versorgung und vorübergehender, oftmals wieder abbrechender Unterbringung ist charakteristisch. Zu stellen ist die Frage nach den besonderen Haltefaktoren, die diese Pendelbewegung verlangsamt oder „an einer guten Stelle“ zum Stillstand kommen lässt. Etwas überraschend stellt die Autorin in der Auswertung dieses Kapitels unter dem Stichwort „Familienkapital“ jene Ressourcen in den Mittelpunkt, die allgemein einen hilfreichen Sozialisationshintergrund bilden. Für ihre „Fälle“ ist diese Ressource in aller Regel nicht mehr zu (re)aktivieren.

In der abschließend vorgenommen Zusammenschau wird nochmals die Diskrepanz des Hilfeverständnisses vieler helfender Instanzen und dem Grad der tatsächlichen Zielerreichung deutlich. Dies wird besonders an den Fällen sichtbar, die bereits als Angehörige einer „zweiten oder dritten Armutsgeneration“ dauerhaft in den Staus der „fürsorgebedürftigen Problemfälle“ gepresst werden. Der im Unterschied zur Elterngeneration scheinbar schamlose Umgang Jugendlicher mit den sozialstaatlichen Geld- und Dienstleistungen korrespondiere mit dem Wegbrechen stabiler Familienstrukturen und der Auflösung „sozialmoralischer Milieus“. Dies fördere die Entwicklung individualisierter kultureller Ausdrucksformen, die der Expressivität des Einzelnen Raum schafft.

Fazit

In den Theorieteilen bildet das Buch Teile der in Deutschland bereits seit vielen Jahren geführten Diskurse um die Veränderungen der Arbeitsgesellschaft und die darauf bezogenen Paradigmenwechsel sozialstaatlicher Lösungsansätze ab. Dass dies nicht umfangreicher und differenzierter geschieht, hat vermutlich seinen Grund darin, dass in Österreich ein mit den Hartz IV-Gesetzen vergleichbarer tiefer Einschnitt bislang unterblieben ist. Es fällt auf, dass die Autorin an keiner Stelle die intensiv geführte deutsche Debatte um eine Neuverortung Sozialer Arbeit im „fordernden Sozialstaat“ aufgreift. Die Arbeit gewinnt in den Stellen, an denen die umfangreich vorgestellten Fallstudien nicht nur typische Verläufe jugendlicher Desintegrationsprozesse darstellen, sondern den Zusammenhang zwischen Logiken der Hilfe, institutionellem Handeln und prägnanten Selbstfindungsphasen herausarbeiten. Die Institutionen und die handelnden Akteure Sozialer Arbeit sind weitaus mehr von den Forderungen und Wünschen des gesellschaftlichen Mainstreams beeinflusst, als es ihrer Selbstwahrnehmung entspricht. Die Antwort der Autorin scheint klar zu sein: es geht (auch) um „Learning in precarity“, um die Bereitstellung von Lernhilfen für das Überleben außerhalb der traditionellen Berufsbiographien. Offen bleibt die Frage nach den Wiederaneignungsoptionen für eine „parteiliche Jugendhilfe“.

Rezension von
Prof. Dr. Titus Simon
lebt in Wolfenbrück, einem Weiler mit 140 Einwohnern; lehrt zu ausgesuchten Themen in Magdeburg und St. Gallen und schreibt kritische Heimatromane.

Es gibt 7 Rezensionen von Titus Simon.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245