Cornelia Muth, Annette Nauerth (Hrsg.): Vertrauen gegen Aggression
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 11.01.2011

Cornelia Muth, Annette Nauerth (Hrsg.): Vertrauen gegen Aggression. Das dialogische Prinzip als Mittel der Gewaltprävention.
Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2010.
189 Seiten.
ISBN 978-3-89974-628-0.
19,80 EUR.
Reihe: Wochenschau Wissenschaft.
Destruktive Kräfte, die der Menschheit schaden
Die philosophische Erkenntnis, dass der Mensch ein zôon politikon, ein politisch denkendes, sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen ist, das nach eu zên, einem guten Leben strebt und dazu fähig ist, wie dies Aristoteles postuliert hat, lässt sich als die eine (gute) Seite menschlichen Daseins auf der Erde denken. Auf der anderen Seite ist die Aggression, als Zwang und Zerstörungsneigung, ein „typisches Artmerkmal des Menschen“ (Alexander Mitscherlich); aber auch: „Das Gewaltsame ist widernatürlich“, wie dies Aristoteles in De Caelo (Über den Himmel) feststellt. In diesem Zwiespalt befinden wir uns, wenn wir über Gewaltprävention reden, also über die moralische, erziehliche, didaktische und methodische Absicht, gewaltsames Denken und Tun aus den Köpfen und Fäusten der Mitmenschen, insbesondere der jungen, zu bringen. Zahlreiche Analysen, Handlungsanweisungen, Ratgeber und Erzählungen liegen darüber vor (z. B.: Jochen Raue, Aggressionen verstehen. Psychoanalytische Fallstudien von Kindern und Jugendlichen, Verlag Brandes & Apsel, Frankfurt/M., 2008, BerlinerLiteraturkritik; sowie: Jörg Schmitt-Kilian: "Ich mach euch fertig!". Gütersloher Verlagshaus, 2010 in: socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/9752.php.
Entstehungshintergrund und Herausgeberinnen
Insbesondere in der sozialpädagogischen Arbeit gibt es vielfältige theoretische und praktische Überlegungen, wie der (steigenden?) Aggression von Kindern und Jugendlichen begegnet werden kann, und zwar sowohl in lokalen, als auch in globalen Bezügen. Die beiden Sozialwissenschaftlerinnen von der Fachhochschule Bielefeld, Cornelia Muth (deren Forschungsarbeiten zur gewaltfreien Kommunikation wir bereits vorgestellt haben: Cornelia Muth, Hrsg.: […] nach Trainings zur gewaltfreien Kommunikation, ibidem-Verlag, Stuttgart 2010, in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/10095.php) und Annette Nauerth, informieren über eine Forschungs- / Seminararbeit, das als „Dante-Projekt“ in einem dreijährigen Lern- und Aufklärungsprozess realisiert wurde. Weil dort, wo Vertrauen als authentischer Dialog grundgelegt ist, negative Gewalt nicht stattfindet, so die erkenntnisleitende Annahme, können sich Erkenntnisstrukturen entwickeln, die auf dem dialogischen Prinzip Martin Bubers und Konzepten der Gestaltpsychologie beruhen. Das Lehr-, Lern- und Forschungsprojekt (Praxisentwicklungsforschung) „Vertrauen wider Gewalt und Aggression“ war aufgelegt und mit Mitteln der NRW-Forschungsförderung ausgestattet. „Dante“ – Projekt deshalb, weil mit Dantes „Göttliche Komödie“ der poetisch-pädagogische Rahmen gesetzt wurde. Mit der in den Gestaltpsychologien entwickelten Auffassungen, dass „Aggression als konstruktive Kraft zu verstehen (ist), die Menschen für Veränderungen existentiell brauchen“, aber negative Aggression zerstörerisch wirkt, wird der Dialog als vertrauensbildende Maßnahme benutzt, um „das Wahrnehmungsvermögen von MultiplikatorInnen in der Sozialen Arbeit für Gewaltprävention zu vertiefen“.
Aufbau und Inhalt
Beim Lehr- und Forschungsbericht zeichnen die beiden Herausgeberinnen als wissenschaftliche Leiterinnen des Projektes verantwortlich, während die beteiligten Mitarbeiterinnen zu jeweils spezifischen Fragestellungen der forschenden Reflexion Stellung beziehen. Sie gliedern den Band in zwei Kapitel. Im ersten werden die Grundlagen des Dante-Projektes vorgestellt und diskutiert, als „Forschen auf dem schmalen Grad“, während im zweiten Teil „der dialog-phänomenologische Weg als wissenschaftlicher Bildungsprozess“ aufgezeigt wird.
Die Auswahl von Dante Alighieris „Göttliche Komödie“ als didaktischer Dreischritt - Hölle – Läuterung - Einsicht – kann als geschickte Motivation zur Erfahrung von Aggression – Misstrauen – Vertrauen gewertet werden. Auf dem Weg von der Hölle über den Läuterungsberg zum Paradies verbinden sich Fiktion und Wirklichkeit, was Cornelia Muth mit ihrer Reflexion über „intersubjektives Forschen auf Dantes Spuren“ eindrucksvoll darlegt und in den vielfältigen dialogorientierten und didaktischen Fragen öffnet für Erkenntnisse für Wahrheit und Gewahrseinskeit
Die beiden Sozialpädagoginnen Susanne Mariyam Hüser-Granzow und Sabine Peter berichten über ihre Seminararbeit, indem sie danach fragen: „Was hat die mittelalterliche Komödie mit Sozialer Arbeit heute zu tun?“. Die persönlichen Konstellationen bieten dabei nicht nur den professionellen Zugang als Dialogprozessbegleiterinnen und Gestaltpädagoginnen, sondern auch die in der „Komödie“ angelegte interreligiöse Auseinandersetzung mit dem christlich-islamischen Dialog; und mit den Methoden des Statuentheaters ließen sich Dialogszenen herstellen, die sowohl den literarischen, als auch den sozialpädagogischen Anspruch verdeutlichten.
Die Sozialpädagogin und Doktorandin an der Universität Bielefeld, Susanna Matt-Windel diskutiert „Gütekriterien dialog-phänomenologischer Forschung“, indem sie besonders auf die Zielsetzung des Projektes verweist, „eigene Gewalt- und Aggressionspotentiale gewissenhaft zu erkunden“ und im Erkennen und Erleben von Vertrauensbildung Wege zur Selbst- und Fremdwahrnehmung zu erkennen.
Als „Spurensuche“ werden
die verschiedenen individuellen, subjektiven und gruppenspezifischen
Wahrnehmungen und Erfahrungen vorgestellt, die sich bei der
Projektarbeit ereigneten. Im Mittelpunkt steht dabei die Denkhilfe
des persischen Mystikers Dschalal ad-Din Muhammad Rumi (1207 –
1273) in der Übersetzung von Annemarie Schimmel:
Vor der Vorstellung
von
recht machen
und falsch
machen
ist ein Feld.
Da will ich mich mit Dir treffen.
Die Erzieherin und Sozialarbeiterin Jana Leismann reflektiert mit der Metapher „Flügel des Selbst“ die im „DialogRaum“ vorherrschenden Situationen und Befindlichkeiten der Zuneigung, des Begrenztseins und des Widerstands; und Susanna Matt-Windel diskutiert daran anschließend die Befindlichkeiten „Angst und Zorn – aus der Perspektive der integralen Philosophie“. Mit den Gegenpolen Angst – Vertrauen und der Paralyse Zorn, in den „polaren emotionalen Qualitäten von Zerstörung und Mut“, zeigen sich Potentiale, die hinführen zu dem, was Vertrauen macht.
Wenn wissenschaftliches Forschen nicht nur beobachtet, analysiert und bewertet, sondern den Forscher auch bewegt, wäre eine gelingende Lern- und Erkenntnissituation erreicht, etwa, wenn Cornelia Muth in ihrem „Selbstbekenntnis“, indem sie über „Respekt vor der Andersheit statt Beschämung“ Auskunft gibt. Indem sie ihren „empathisch-introspektiven Pol“ als Forscherin und Lehrerin offen legt und dabei neben ihren kognitiven Einsätzen auch ihre emotionalen Befindlichkeiten aufdeckt, macht sie den „schmalen Grat“ deutlich, auf dem es zu wandern gilt, soll der Dialog zu Vertrauen führen.
Die Professorin für Naturwissenschaftliche Grundlagen der Gesundheitsberufe am Fachbereich Wirtschaft und Gesundheit der Fachhochschule Bielefeld, AnnetteNauerth, setzt sich mit ihrem Beitrag „Schmerz und Abwertung“ mit den Äußerungen der am Dante-Projekt teilnehmenden Studierenden auseinander und legt in ihrem Werkstattbericht offen, mit welchen Denkansätzen und Methoden sie die ausgewählten Dialoganlässe analysiert.
Sabine Peter verdeutlicht schließlich die „Grenzwerte“, die sich beim Dialogisieren im Projekt ereignet haben und „gemeinsames Denken, Selbstaufklärung und die Verbindung von Theorie und Praxis“ ermöglichten. Es ist die im Sinne von Paulo Freire (vgl. dazu: Kira Funke: Paulo Freire, Waxmann Verlag, Münster/New York/Berlin/München, 2010, in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/10306.php) geforderte Bewusstseinsbildung, die eine dialogische Bildung zustande bringt, die den destruktiven Kräften von Aggression und Gewalt entgegen zu setzen vermag, was nicht zerstört, sondern aufbaut.
Fazit
Bei der Erforschung von Aggression kommt es darauf an, zum einen die adäquaten Konzepte und Methoden zu strukturieren, zum anderen aber bei der Praxisentwicklungsforschung dafür zu sorgen, dass eine Meta-Kommunikation, in unserem Fall in der Gestalt des Gestalt-Supervisionsteams, die blinden Flecken und Leerstellen identifizieren hilft (vgl. dazu auch: Robert Feustel / Maximilian Schochow, Hrsg., Zwischen Sprachspiel und Methode. Perspektiven der Diskursanalyse, transcript Verlag, Bielefeld 2010, in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/10559.php. Noch ein anderer Aspekt wird im Zusammenhang mit Aggressions- und Gewaltzunahme in der Gesellschaft viel zu wenig diskutiert und allzu verharmlosend dargestellt: In der vom US-amerikanischen Psychologen und Gewaltforscher Craig A. Anderson kürzlich durchgeführten Studie zeigt sich, dass es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen gewaltsamen Computerspielen und aggressivem Denken, Fühlen und Verhalten und einer Verringerung von Empathie gibt. Es sind die Einflüsse, die vorwiegend aus der Mitte unserer Gesellschaft kommen.
Es sind die zementierten und fundamentalen Ursachen für aggressives, zerstörerisches Verhalten, die sich z. B. bei der Jugendkriminalität in einem Scham-Wut-Zyklus auswachsen und Formen von Beschämung kaum zulassen, die, wie dies in der 3sat-Scobel-Sendung zur Thematik am 9.12.2010 formuliert wurde, zur Erkenntnis führt: „Wir haben es mit Menschen zu tun und das ist und bleibt immer beunruhigend“; freilich möchte man dabei hinzufügen – aber hoffentlich hoffnungsvoll. Denn das ist der Sinn und die Hoffnung bei der Gewaltprävention. Die wohltuende und überzeugende Subjektivierung bei der Darstellung des Lehr- und Forschungsprojektes „Vertrauen gegen Aggression“ kann als exemplarisch für wissenschaftliches Arbeiten betrachtet werden.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 11.01.2011 zu:
Cornelia Muth, Annette Nauerth (Hrsg.): Vertrauen gegen Aggression. Das dialogische Prinzip als Mittel der Gewaltprävention. Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2010.
ISBN 978-3-89974-628-0.
Reihe: Wochenschau Wissenschaft.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10589.php, Datum des Zugriffs 30.11.2023.
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