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Georg Kneer, Markus Schroer (Hrsg.): Handbuch Spezielle Soziologien

Rezensiert von Prof. Dr. Gregor Husi, 29.06.2011

Cover Georg Kneer, Markus  Schroer (Hrsg.): Handbuch Spezielle Soziologien ISBN 978-3-531-15313-1

Georg Kneer, Markus Schroer (Hrsg.): Handbuch Spezielle Soziologien. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2010. 734 Seiten. ISBN 978-3-531-15313-1. 49,95 EUR.

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Thema

Seit langem schon wird in der Soziologie zwischen allgemeinen und speziellen Theorien differenziert. Georg Kneer und Markus Schroer gehen von dieser grundlegenden Unterscheidung aus, um die zeitgenössische soziologische Theorielandschaft zu sichten. Während das von ihnen ebenfalls herausgegebene «Handbuch Soziologische Theorien» über zwanzig allgemeine Theorien diskutiert, so widmet sich der hier rezensierte Band den sogenannten Bindestrich-Soziologien. Ähnlich unterscheidet beispielsweise Anthony Giddens in seinem dickleibigen einführenden Werk «Soziologie» «theoretische Zugänge», die er auch als «Meta-Theorien» bezeichnet, und «Theorien» im engeren Sinne. Letztere erklären bestimmte soziale Bedingungen oder Typen von Ereignissen, meist unterstützt durch empirische Forschung, und sind grundsätzlich widerlegbar. Gerade dies sind erstere nicht; er umschreibt sie als sehr allgemeine Sichtweisen.

Herausgeber

Georg Kneer ist Professor für wissenschaftliche Grundlagen an der Hochschule für Gestaltung Schwäbisch Gmünd.

Markus Schroer ist Professor für Soziologische Theorie an der Universität Kassel.

Aufbau

Das Buch enthält genau vierzig Beiträge in alphabetischer Reihenfolge, die über die Genese, die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der soziologischen Teildisziplinen informieren wollen. Auf eine weiter gehende Unterteilung des Handbuchs, dessen Teile mehrere Beiträge versammelt hätten, haben die Herausgeber bewusst verzichtet, offenbar, um Verbindungen zwischen den einzelnen Beiträgen offen zu halten. Sie gehen, ohne dies näher erläutern, von der soziologiegeschichtlichen These aus, «dass die Etablierung einzelner Bindestrichsoziologien mit einer auch ausserhalb der Soziologie zu beobachtenden Aufmerksamkeitskonzentration auf bestimmte Themenfelder und gesellschaftliche Prozesse einhergeht» (S. 9).

So führt ein kurzes Vorwort die vierzig Artikel ein, und zum Schluss ist ein Autorenverzeichnis beigegeben. Ein rahmender Beitrag der Herausgeber fehlt.

Inhalt

Nicht nur kommen im Band von Kneer & Schroer Bereiche zur Darstellung – wie etwa die Familiensoziologie oder die Arbeits- und Industriesoziologie –, die in Sammlungen spezieller soziologischer Theorien kaum je fehlen, sondern auch solche Bereiche, die meist unerwähnt bleiben. Man denke zum Beispiel an die Körpersoziologie, Militärsoziologie oder Thanatosoziologie, die sich Sterben und Tod widmet. Es fällt auf, dass neben einem Beitrag zur Kultursoziologie noch Architektur-, Musik-, Literatur- und Kunstsoziologie in eigenen Beiträgen abgehandelt werden sowie neben einem Beitrag zur Soziologie der Politik noch ein separater zur Soziologie der Sozialpolitik. Zur Arbeits- und Industriesoziologie kommen noch Beiträge zur Wirtschaftssoziologie sowie zur Konsumsoziologie hinzu. Die beiden Herausgeber orientieren sich bei ihrer Sammlung an den Sektionen und Ad-hoc-Gruppen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

Viele der Beiträge nehmen sich eines bestimmten gesellschaftlichen Subsystems – oder eines Teils davon – an, von der Religion bis zum Sport. Andere stellen die Bevölkerungssoziologie dar oder gehen auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ein, nämlich auf Geschlechter, Jugend, Generationen, Kindheit und Migration – das mittlere und höhere Alter haben nicht wie Kindheit und Jugend Platz für eigene Beiträge erhalten. Raumphänomene werden unter Architektur-, Land- und Agrar- sowie Stadt- und Raumsoziologie abgehandelt, aber das Thema Globalisierung fällt abgesehen von Politik und Wirtschaft weitgehend durch die bindestrichsoziologischen Maschen. Eine Soziologie der Zeit fehlt, aber Biographie und Sozialisation werden in zwei einzelnen Beiträgen thematisiert. Es findet sich zwar die mesogesellschaftliche Ebene in einem Beitrag zur Organisationssoziologie behandelt, nicht aber die mikrogesellschaftliche Ebene der Gruppe, desgleichen bleiben Soziale Bewegungen aussen vor. Entwicklung, Profession, Körper, soziale Kontrolle, soziale Ungleichheit, Technik, Umwelt sowie Wissen bilden die Stichworte für weitere Kapitel.

Natürlich lässt sich der Inhalt eines Handbuchs nicht referieren. Es sei denn gleichsam stellvertretend ein Beitrag exemplarisch herausgegriffen, und zwar zur Soziologie der Sozialpolitik: Stephan Lessenich beklagt darin, «sozialpolitische Interventionen im Modus von Geld und Moral» seien der Soziologie bislang fremd geblieben, obschon: «Soziologisch relevant sind diese letztlich, weil und insofern sie die im Rahmen staatlicher Herrschaft sich vollziehende, insofern politische Regulierung sozialer Beziehungen bewirken» (S. 556). Dennoch lässt sich eine Tradition der Sozialpolitikwissenschaft erkennen, die im deutschen Sprachraum bei Lorenz von Steins «Geschichte der sozialen Bewegungen in Frankreich» (1850) einsetzt und über Eduard Heimanns «Soziale Theorie des Kapitalismus» (1929) sowie Hans Achingers «Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik (1958) bis in unsere Zeit reicht, in der besonders die Arbeiten von Franz-Xaver Kaufmann auffallen. Letzterer sieht den Sozialstaat auf «Lebenslagen» einwirken, das heisst auf «Lebensverhältnisse natürlicher Personen in der Perspektive ihrer Teilhabe an den unter bestimmten historischen Bedingungen gegebenen gesellschaftlichen Möglichkeiten, und zwar unter dem Gesichtspunkt ihrer Vergleichbarkeit» (S. 556). Ziel seien denn vergleichbare gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten, und Sozialpolitik wirke auf das Verhältnis zwischen verschiedenen sozialen Klassen und Gruppen. Lessenich charakterisiert die Sozialpolitik deshalb als «Instrument gesellschaftlicher Relationierung» (S. 557). Die Fragen nach der richtigen Mischung von Staat, Markt, Haushalt und Verbänden bei der sozialpolitischen Steuerung und dem Vergleich unterschiedlicher Typen von Wohlfahrtsregimes müssen vor diesem Hintergrund diskutiert und beurteilt werden. Dabei scheint Sozialpolitik durchaus ambivalent. «Sie eröffnet Freiheiten – und schränkt Optionen ein; sie schafft mehr Gleichheit – und neue Ungleichheiten; sie produziert mehr Sicherheit und – eben dadurch – immer neue Unsicherheiten. Sie verwandelt unüberschaubare Gefährdungen in kalkulierbare Risiken – und diese im Zweifel wieder zurück in Gefahren» (S. 557). Für Lessenich ist Sozialpolitik daher «nicht nur ein Ort und Hort der Hilfe, Solidarität und Wohltätigkeit – sondern eben immer auch ein Instrument sozialer Steuerung, Kontrolle und Disziplinierung» (S. 557). Er stellt in der Folge fünf Wesensbestimmungen von Sozialpolitik näher vor:

  1. Modernisierung (funktionales Zusammenspiel verallgemeinerter Lohnarbeit und sozialpolitischer Sicherungsgarantien)
  2. Normalisierung (Erfüllung des marktwirtschaftlich-sozialstaatlichen Vergesellschaftungsprogramms durch unabweisbare materielle Zwänge und unreflektierte habituelle Prägungen)
  3. Umverteilung (tendenzielle Angleichung der durchschnittlichen Lebenschancen am oberen und am unteren Ende der sozialen Hierarchie; selektive Befreiung von Marktzwängen)
  4. Sicherung (Umwandlung von Gefahren in Risiken durch kollektive Versicherungen anstelle individueller Schuld und Sühne)
  5. Integration (Integration der Teilsysteme einer funktional differenzierten Gesellschaft und Integration der Teilgruppen einer sozial differenzierten, durch eine Vielzahl meist askriptiver Merkmale gespaltenen Gesellschaft durch institutionalisierte, generalisierte Solidaritäten)

Lessenich skizziert angesichts dieser fünf Deutungen im lockeren Anschluss an Georg Simmels Auffassung der Soziologie als «Wissenschaft von den Beziehungsformen der Menschen untereinander» (S. 563) die Perspektive der Relationierung: «Akteure ‹in Gesellschaft› können durch sozialpolitische Institutionen und deren Wirken (a) mit der ‹sozialen Ordnung› (bzw. der politischen Selbstbeschreibung derselben), (b) mit anderen Akteuren und/oder (c) mit sich selbst in eine bestimmte und bestimmbare Beziehung gesetzt werden; dies gilt für individuelle, kollektive und korporative Akteure gleichermassen» (S. 563). Bei allen handelt es sich um Machtrelationen. «Sozialpolitik im entwickelten Wohlfahrtsstaat ist mithin ein Instrument von Individualisierung und Autonomiegewinn, Normierung und Standardisierung, Ausgleich und Umverteilung, Sicherung und Kontrolle, Integration und Privilegierung» (S. 564). Der «aktivierende Sozialstaat» nun relationiert die drei genannten Verhältnisse neu, das heisst das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Individuen, Kollektiven und korporativen Akteuren sowie das Selbstverhältnis der Subjekte. Es vollzieht sich dabei ein «Übergang von der öffentlichen zur privaten Sicherheit, vom kollektiven zum individuellen Risikomanagement, von der Staatsversorgung zur Selbstsorge, von der Sozial-Versicherung zur Eigen-Verantwortung» (S. 564). Die Menschen werden sich selber und der Gesellschaft gegenüber verantwortlich. Es entsteht ein «unternehmerisches Selbst». Als «neoliberal» mag Lessenich diesen Sozialstaat nicht bezeichnen, da er sich nicht einfach zurückzieht. Vielmehr sei er «neosozial». Es etabliere sich «ein neues sozialpolitisches Relationierungsmuster, das die Subjekte gleichsam uno actu mit sich selbst (ihrem ‹Eigeninteresse›) und mit der gesellschaftlichen Gemeinschaft (dem ‹Gemeinwohl›) in Beziehung setzt» (S. 566). Auf diese Weise gelinge das sozialpolitische Krisenmanagement zumindest vorübergehend, da Individuen marktgängig und gesellschaftsfähig zugleich würden – freilich nicht ohne neue Widersprüche, zum Beispiel zwischen sozialpolitischer Aktivierung und sicherheitspolitischer Kontrolle.

Diskussion

Nur schon die Anzahl von vierzig Teilgebieten der Soziologie verblüfft. Die Publikation führt kurz und bündig sowie kompetent in diese sehr unterschiedlichen Bereiche ein.

Nicht ganz nachvollziehen kann man den Entscheid der Herausgeber, keinen rahmenden Beitrag verfasst zu haben. Tatsächlich hätte man sich erstens eine wissenschaftsgeschichtliche Darstellung und Analyse der verhandelten Teildisziplinen gewünscht, denn bei der Fülle soziologischer Inhalte fragt es sich, wann – und übrigens auch: wo – sie in der Geschichte der Disziplin erschienen sind und aufgrund welcher gesellschaftlicher Umstände dies geschehen ist. Und zweitens wäre ein systematischer Beitrag erwünscht, der die inhaltlichen Grundlagen erhellen würde, die eine Gliederung der soziologischen Teildisziplinen zu begründen vermöchten. Dies hätte wohl anhand handlungs- und gesellschaftstheoretischer Argumentation zu geschehen. Betrachtet man die Gliederung zum Beispiel in differenzierungstheoretischem Licht, werden die gesellschaftlichen Teilsysteme Bildung, Gemeinschaft (unter dem Stichwort Familie), Kunst, Medien, Gesundheit, Militär, Recht, Religion, Politik, Sport, Wirtschaft und Wissenschaft erkennbar. Als weitere Subsysteme hätten Verwaltung, Soziale Arbeit, Verkehr oder Unterhaltung thematisiert werden können. Umgekehrt vermögen die oben erwähnten (Sub-)Differenzierungen im kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Feld aus systematischer Sicht nicht so recht zu überzeugen. Weitere Ansatzmöglichkeiten einer Gliederung sind oben bei der Inhaltsangabe gestreift worden, ebenso werden hier thematische Lücken deutlich.

Von einem Handbuch hätte man im Übrigen auch mehr Visualisierungen von Sachverhalten erwarten dürfen.

Trotz dieser Mängel bietet das Handbuch sehr gute Ein- und Überblicke. Sie zeugen davon, dass die Spezialisierung auch in der Soziologie weit fortgeschritten ist. So kann man sich leicht und effizient gerade auch in Teilgebieten kundig machen, die einem bis dahin noch nicht nahe gekommen sind.

Fazit

Bei aller Kritik kann das Handbuch von Kneer & Schroer zur Lektüre sehr empfohlen werden. Interessierte können gezielt auf bestimmte Themen zugreifen und mit einer sachlich fundierten Darstellung rechnen. Sie können sich auch zu abschweifenden Lektüren verführen lassen.

Rezension von
Prof. Dr. Gregor Husi
Professor an der Hochschule Luzern (Schweiz). Ko-Autor von „Der Geist des Demokratismus – Modernisierung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit“. Aktuelle Publikation (zusammen mit Simone Villiger): „Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziokulturelle Animation“ (http://interact.hslu.ch)
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Es gibt 41 Rezensionen von Gregor Husi.

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Zitiervorschlag
Gregor Husi. Rezension vom 29.06.2011 zu: Georg Kneer, Markus Schroer (Hrsg.): Handbuch Spezielle Soziologien. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2010. ISBN 978-3-531-15313-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10602.php, Datum des Zugriffs 31.05.2023.


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