Andrä Wolter, Gisela Wiesner et al. (Hrsg.): Der lernende Mensch in der Wissensgesellschaft
Rezensiert von Prof. Dr. Jochen Schmerfeld, 29.06.2012

Andrä Wolter, Gisela Wiesner, Claudia Koepernik (Hrsg.): Der lernende Mensch in der Wissensgesellschaft. Perspektiven lebenslangen Lernens.
Juventa Verlag
(Weinheim) 2010.
240 Seiten.
ISBN 978-3-7799-1322-1.
24,00 EUR.
CH: 39,90 sFr.
Reihe: Dresdner Studien zur Erziehungswissenschaft und Sozialforschung.
Thema
Das Thema ‚lebenslanges Lernen‘ wird aus verschiedenen Perspektiven und in Hinblick auf seine verschiedenen Aspekte beleuchtet.
Autorinnen
Der vorliegende Band ist im Arbeitszusammenhang des
Promotionskolleg
Lebenslanges Lernen, einer
fakultätsübergreifende Forschungseinrichtung der TU Dresden
entstanden.
Sprecher und betreuender Hochschullehrer des
Promotionskollegs ist Andrä
Wolter (Fakultät für
Erziehungswissenschaft, Institut für Allgemeine
Erziehungswissenschaft). Gisela
Wiesner(Fakultät
Erziehungswissenschaften, Institut für Berufspädagogik) ist Teil
des Leitungsteams des Kollegs. Claudia
Koepernik war
wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Dresden mit den
Forschungsschwerpunkten Weiterbildung und Lebenslanges Lernen.
Aufbau und Inhalt
Der einführende Text von Gisela
Wiesner, Andrä Wolter, Claudia Koepernik ‚Mit langem Atem -
lebenslanges Lernen in der bildungspolitischen und
bildungswissenschaftlichen Kritik‘ gibt einen Überblick über die
verschiedenen Beiträge.
Die ersten drei Artikel beschäftigen
sich mit dem Thema: Lebenslanges Lernen im Lebenslauf
Marcus Hasselhor und Cora
Titz gehen in ihrem Beitrag ‚Entwicklung individueller
Kompetenzen erfolgreichen lebenslangen Lernens‘ der Frage nach, „in
welchem Alter Menschen generell zu welchem Lernverhalten aufgrund der
verfügbaren ‚individuellen Kompetenzen erfolgreichen lebenslangen
Lernens‘ in der Lage sind.“ (21) Zur Beantwortung der Frage
untersuchen sie die kognitiven und die motivationalen Kompetenzen
jeweils bei Kindern bis 12 Jahre und bei Erwachsenen über 60 Jahre.
Die Antwort fällt wenig überraschend aus. In Bezug auf die
kognitiven Kompetenzen kommen sie zu den Ergebnis: „Kognitive
Kompetenzen sind zeitlebens zu entwickeln. Dies erfolgt am besten
durch den ständigen Gebrauch der eigenen kognitiven Möglichkeiten,
d.h. durch Übung und Training.“ (31) In Bezug auf die
motivationalen Kompetenzen stellen sie fest, dass für deren
Entwicklung die Zeit zwischen dem 10. Und dem 12. Lebensjahr
entscheidend sei und es folglich danach, vor allem im
Erwachsenenalter, schwierig sei, in diesem Bereich zu Veränderungen zu
kommen.
Rudolf Tippelt: ‚Demografischer Wandel und das
Lernen Älterer‘. Tippelt zeigt in seinem Beitrag die
Bedeutung des Lernens Älterer sowohl für das Individuum wie für
die Gesellschaft: Förderung der Autonomie und Selbständigkeit auf
der einen, Gewinn durch das entwickelte Erfahrungswissen auf der
anderen Seite. Hinsichtlich der Beteiligung an Weiterbildungen zeige
sich hingegen, dass die Beteiligung mit zunehmend Älter beginnend
bei den über 50-jährigen sinke. Dafür sei vor allem das bei vielen
Älteren vorherrschende negative Altersbild verantwortlich. Tippelt
empfiehlt eine didaktische Orientierung am situierten Lernen und
schließt mit dem Postulat: „Ältere sind daher in
Bildungsprozessen nicht die Objekte der Formung und des Trainings,
sondern sie sind Subjekte ihrer eigenen Bildungs- und
Lebensgestaltung.“ (49f)
Andrä Wolter verfolgt mit
seinem Beitrag ‚Die Hochschule als Institution des lebenslangen
Lernens‘ das Ziel, „ein erweitertes, mehrdimensionales
Verständnis von der Funktion der Hochschule als einer Institution
lebenslangen Lernens zu entwickeln“.(54) Dies zeigt er an einigen
Handlungsfeldern. Im Kontext des Bologna-Prozesses werde lebenslanges
Lernen als eine umfassende hochschulpolitische Strategie begriffen,
die darauf abziele, „das Studium im Blick auf alle Sequenzen der
Hochschulbildung zu flexibilisieren und auf die spezifischen
Bedürfnisse einer veränderten Klientel der Hochschule
auszurichten.“(58) Wolter kritisiert die deutschen Hochschulen,
weil sie bislang wenig dazu getan hätten, sich in diese Richtung
weiterzuentwickeln und benennt sechs Punkte der Erweiterung und
Öffnung der Hochschulen zur Ermöglichung lebenslangen Lernens:
- Öffnung des Hochschulzugangs für nicht-traditionelle Studierende
- Berufsbegleitende Studienangebote und Teilzeitstudium
- Erststudium als Weiterbildung und neue Studienberechtigtenpotentiale
- Anerkennung und Anrechnung beruflicher Kompetenzen
- Kooperative Studiengänge
- Wissenschaftliche Weiterbildung
- Weiterbildung für ältere Hochqualifizierte
- Nachberufliche Studienangebote
Das ‚systemisch inklusive‘ Konzept
des lebenslangen Lernens fordere die Hochschule als Institution
ganzheitlich, d.h. müsse zu einem umfassenden Strukturwandel der
Hochschule mindestens in der Gestaltung ihres Studien- und
Bildungsangebots und damit verbunden zu einer stärkeren
Berücksichtigung der nicht-tradionellen Zielgruppen führen.
Die
folgenden drei Artikel sind dem Thema: Lebenslanges und
informelles Lernen: Konzepte und Potentiale gewidmet:
Claudia
Koepernik: ‚Lebenslanges Lernen als bildungspolitische Vision.
Die Entwicklung eines Reformkonzepts im internationalen Diskurs‘
analysiert die Publikationen großer überstaatlicher Organisationen
wie UNESCO, OECD, Europarat oder Europäische Union zum Thema
lebenslanges Lernen zwischen den 1960er Jahre und der Gegenwart. Am
Anfang habe die Diagnose einer ‚Weltbildungskrise‘, verursacht
durch ineffiziente und ineffektive Bildungssysteme in den
Industrieländern gestanden, danach folge eine Phase der Stagnation
in den 1980er Jahren, die abgelöst werde von einer
Generalisierungsphase in den 1990er Jahren, die gekennzeichnet sei
durch die Forderung nach lebenslangem Lernen für alle. Gegenwärtig
sei eine Intensivierung dieser Diskussion zu beobachten: „Alle
Beteiligten (…) und die Bürger selbst müssen sich ihrer
Verantwortung für lebenslanges Lernen bewusst sein mit dem Ziel, ein
Europa aufzubauen, in dem jeder die Möglichkeit hat, sein
individuelles Potential voll zu entfalten“ (89). Sie schließt mit der
an die internationalen Organisationen gerichteten kritischen
Bemerkung, man hätte mehr Wert auf konkrete Forderung zur Umsetzung
lebenslangen Lernens als auf die Produktion von Papieren legen
sollen.
Klaus Künzel: ‚Perspektive und Begriff -
Informelles Lernen als wissenschaftliches Ordnungsproblem‘. Der
Autor beginnt seinen Beitrag mit der Feststellung, der Begriff des
informellen Lernens zeichne sich durch eine Unschärfe aus, die
möglicherweise nicht zu vermeiden sei. Er versucht einen Überblick
zu geben über die verschiedenen Diskurstypen und empirischen
Bezugspunkte, in denen dieser Begriff auftaucht bzw. an die er
angeschlossen ist. Im Ergebnis bleibt der Begriff für Künzel
bunt und vielgestaltig: „Informelles Lernen ist ein Kategorie
tätigen Lebens – einzelner Menschen, sozialer Gruppierungen,
kultureller Zusammenhänge. Seine vielen Gesichter offenbaren in
unterschiedlicher Ausprägung multiple Charakterzüge – mal
Werkzeug, mal spontanes Projekt, zumeist jedoch selbstbezügliche
Daseinsform.“ (106)
Bernd Overwien zeigt in seinem
Beitrag ‚Informelles Lernen im Rahmen lebenslangen Lernens‘, dass
der Begriff des informellen Lernens den des in Deutschland in den
1980er Jahren verbreiteten des Erfahrungslernens ersetzt habe und
insbesondere für das Verständnis von Lernen im betrieblichen
Kontext wichtig geworden sei. Bedeutungsvoll sei eine Beschäftigung
mit dem informellen Lernen auch deshalb, weil es zukünftig darum
gehe, die in informellen Lernprozessen erworbenen Kompetenzen zu
erfassen und formell anzuerkennen.
Wiederum drei Artikel behandeln
das Thema: Informelles Lernen: Arbeit und Beruf
Yvonne
Salman betrachtet das ‚Lernen im Arbeitsprozess im
Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen‘ – und identifiziert
sowohl differente Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern als
auch differente Strukturen von Arbeits- und Lernumgebungen. Eine
Lösung der sich daraus ergebenden Spannung in Form eine
Interessenausgleichs sieht sie in der Entwicklung von einer berufs-
und funktionsbezogenen zu einer prozess- und handlungsorientierten
Bestimmung von Lernen: „(…) der Bedeutungswandel von einer
berufs- und funktionsbezogenen betrieblichen Weiterbildung, die auf
die Verbesserung der Qualifikationen und dem Erwerb von fachlichem
Wissen und Können zielt, hin zu einem handlungs- und
prozessorientierten Weiterbildungsansatz, der zunehmend auf
Selbstorganisation, Eigenverantwortlichkeit, Ganzheitlichkeit,
Handlungs- und Prozessorientierung ausgerichtet ist.“ (140)
Birgit
Elend untersucht ‚Informelles Lernen und Lernpotenziale in der
Projekt- und Teamarbeit‘. Die generell als lernfördernd geltenden
Gruppenarbeitsformen werden hinsichtlich von vier
Vergleichskategorien untersucht: Gruppenaufgaben,
Entscheidungsfreiräume, Verantwortungsübernahme und Kooperation.
Damit werde ein heuristischer Rahmen abgesteckt für die Auswertung
einer qualitativen Fallstudie zum Lernen im Prozess der Arbeit. Die
Autorin kommt zum Ergebnis: „Sowohl Projekt- als auch Teamarbeit
erfüllen damit die Anforderungen an lernförderliche
Arbeitsorganisationsformen. Allerdings wird dies so nicht von den
Akteuren formuliert, sondern eher als persönliche Entwicklung, als
neue Perspektiven, Schwierigkeiten und Vorteile der Team- bzw. der
Projektarbeit.“ (165)
Katharina Schenk und Gisela
Wiesner beschreiben in ihrem Beitrag: ‚Ergebnisse lebenslangen
Lernens von Erwachsenenbildnern erfassen, bewerten und anerkennen?
die Entwicklung eines Instruments zur Erfassung von spezifischen
erwachsenenpädagogischen Kompetenzen. Damit verbinden sie die
Intention, sowohl einen Beitrag zur Professionalisierung der
Erwachsenenbildung als auch zur Weiterentwicklung von
Qualitätsmanagementsystemen in diesem Bereich zu leisten: es werde
„ein innovativer Kompetenzbilanzierungsansatz verfolgt, in dem
typische Arbeitssituationen von
Erwachsenenbildnern/Erwachsenenbildnerinnen, erwachsenenpädagogische
Kompetenzen und darauf gerichtete Indikatoren kompetenten Handelns
erarbeitet und empirisch hinsichtlich Validität, Objektivität,
Reliabilität und Praktikabilität überprüft werden.“(190)
Das
letzte Schwerpunktthema in diesem Band: Lebenslanges Lernen im
Hochschulsystem wird in den folgenden drei Beiträgen
behandelt:
Sieglinde Machocki und Elisabeth
Schwabe-Ruck: ‚Wege in deutsche Hochschulen aus historischer
und aktueller Perspektive‘ geben einen kurzen Überblick über die
historische Entwicklung des Hochschulzugangs in Deutschland vom
ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Im zweiten Teil ihres
beitrag analysieren sie die aktuellen Diskussionen. Sie kommen zu dem
Schluss, in den Wegen in die Hochschule spiegelten sich immer noch
die Strukturen der Herkunftsgesellschaft: „Die Wahrscheinlichkeit,
den Weg in die Hochschule zu finden, ist für ein Arbeiterkind
wesentlich geringer als für ein Beamtenkind. Der Zusammenhang
zwischen sozialer Herkunft und erreichter sozialer Platzierung
besteht fort, allerdings nun über organisierte Bildungsprozesse und
deren Resultate vermittelt.“ (216)
Ulf Banscherus:
‚Lernen im Bologna-Prozess‘ kritisiert die deutschen Hochschulen,
weil sie sich noch nicht mit aller nötigen Konsequenz als
Institutionen lebenslangen Lernens begriffen hätten. Es fehlen auf
Studierende mit nicht traditionellen Bildungsbiografien
zugeschnittenen Studienangeboten wie Teilzeitstudium und
weiterbildenden Bachelorstudiengängen. Mit einer Entwicklung der
Hochschulen in diese Richtung verbindet der Autor auch die Hoffnung
auf eine soziale Öffnung der Hochschulen.
Dana Frohwieser: ‚Der
Beitrag der gewerkschaftlichen Studienförderung zum Abbau von
sozialer Ungleichheit‘ beschreibt ein Forschungsprojekt, in dem die
Bildungs- und Berufswege von ehemaligen Stipendiaten der
Hans-Böckler-Stiftung untersucht wurden. Zum Zeitpunkt der
Entstehung des Artikels lagen wohl die Ergebnisse der Studie noch
nicht vor, dennoch bilanziert die Autorin, dass der Stiftung gelungen
sei, auch unter gegenüber ihren Anfängen veränderten
gesellschaftlichen Kontextbedingungen eine Zielgruppe zu erreichen,
die an Hochschulen deutlich unterrepräsentiert sei: „Zwar hat sich
die Zusammensetzung der ‚Klientel‘ der Stiftung nach Merkmalen
der familiären bzw. sozialen Herkunft durch den gesellschaftlichen
Wandel offenkundig deutlich verändert. Trotz dieses Wandels kann
aber die Studienförderung ihrem spezifischen Profil Erfolg verleihen
als Einrichtung, die der Idee der sozialen Öffnung des
Hochschulzugangs in besonderer Weise verpflichtet ist.“ (260)
Zielgruppen
Das Buch ist interessant für alle Leser, die sich einen aktuellen und ziemlich umfassenden Überblick über die unübersichtlichen und vielgestaltigen Diskussionen und Überlegungen zum Thema lebenslanges Lernen verschaffen wollen.
Diskussion
Trotz oder vielleicht auch wegen der gegenwärtigen Konjunktur, die das Konzept des lebenslangen Lernens in der bildungspolitischen und erwachsenenpädagogischen Landschaft erlebt, mangelt es diesem Konzept an theoretischer Fundierung. Das wird auch beim Lesen dieses Buchs deutlich. Zwar bekommt der Leser tatsächlich einen sehr guten Überblick über die verschiedenen Implikationen und Aspekte dieses Konzepts, aber diese Leerstelle wird nicht gefüllt. Dabei liegt es doch wohl auf der Hand, dass dieses Konzept (zusammen mit dem ebenso schlecht theoretisch ausgearbeiteten Kompetenzbegriff) das Erbe der für die deutsche Theorietradition spezifischen Bildungstheorie antritt. Es wäre also eine wichtige Aufgabe, den Zusammenhang unter Berücksichtigung der durch die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse notwendigen Korrekturen und Anpassungen des Bildungsbegriff herzustellen und zu diskutieren. Das findet sich in diesem Buch leider nicht.
Fazit
Das Buch ist trotz der unterschiedlichen wissenschaftlichen Qualität der einzelnen Beiträge sehr lesenswert und bietet viele Anregungen zu weiterer Beschäftigung mit einzelnen Aspekten des Themas. Der Leser bekommt einen guten Überblick über das facettenreiche und in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion bislang wenig systematisch behandelte Thema.
Rezension von
Prof. Dr. Jochen Schmerfeld
Professor für Pädagogik an der Katholischen Hochschule Freiburg
Es gibt 21 Rezensionen von Jochen Schmerfeld.