Frank Häßler, Wolfram Kinze et al. (Hrsg.): Praxishandbuch Forensische Psychiatrie [...]
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 30.03.2012
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Frank Häßler, Wolfram Kinze, Norbert Nedopil (Hrsg.): Praxishandbuch Forensische Psychiatrie des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters. Grundlagen, Begutachtung und Behandlung. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (Berlin) 2010. 760 Seiten. ISBN 978-3-941468-25-2. 139,95 EUR. CH: 141,00 sFr.
Thema
Das über 700 Seiten starke Praxishandbuch Forensische Psychiatrie bietet neben einer gründlichen Einführung in die Thematik ein umfassendes Nachschlagewerk für alle Belange forensischer Praxis. Die Perspektive des Bandes umfasst Entwicklungsaspekte des Kindes- und Jugendalters, ebenso alle relevanten Themen des Erwachsenenalters. Ausgehend von historischen Entwicklungslinien in der Psychiatrie und dem Strafrecht, werden ethische Fragestellungen, Grundsätze der Begutachtung, Kriminalprognostik und Behandlung forensisch relevanter Störungsbilder erörtert.
Autoren
Die Herausgeber des Bandes arbeiten als Klinikdirektor der Universitätsklinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter (Frank Häßler), Leiter der Abteilung für Forensische Psychiatrie an der Psychiatrischen Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München (Norbert Nedopil) und -bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2007- als Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik und Ärztlicher Direktor des Asklepios Fachklinikums in Lübben (Wolfram Kinze). Die über 80 Fachbeiträge des Bandes wurden von 35 namhaften Experten aus Forensischer Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Medizingeschichte, Sexualmedizin und Justiz verfasst.
Aufbau
Der gewichtige Band ist in zwei Abschnitte unterteilt.
- Zunächst werden unter der Überschrift „Basiswissen“ die historische Dimension der Kinder- und Jugendpsychiatrie und des Jugendstrafrechts, ethische Aspekte der Kinder- und Jugendforensik und umfassende Grundsätze zur forensisch-psychiatrischen Begutachtung erörtert.
- Abschnitt zwei zielt auf „Praxiswissen“, wobei grundlegende Überlegungen zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit, spezielle Deliktgruppen, unterschiedliche Behandlungsoptionen, Aspekte der kriminalprognostischen Einschätzung, familienrechtliche Aspekte, Überlegungen zur Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen, sowie abschließend internationale Perspektiven der Jugend- und Erwachsenenforensik aufgegriffen werden.
Abschnitt I: Basiswissen
In einem ersten Beitrag gibt Kathleen Haack einen Überblick zur Geschichte der (forensischen) Kinder- und Jugendpsychiatrie und des Jugendstrafrechts. Die Ausführungen machen deutlich, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie, besonders in ihrer fachlichen forensischen Vertiefung eine sehr junge wissenschaftliche Disziplinen darstellen, deren Entwicklung großteils erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. stattgefunden hat. Historische Stationen dieser Entwicklung werden aufgezeigt und der gegenwärtige Stand der Disziplin, der etwa erzieherische Maßnahmen im Jugendstrafrecht gegenüber Strafaspekten betont, rezipiert.
Mit ethischen Aspekten der Kinder- und Jugendforensik befasst sich ein eigener Beitrag von Heiner Fangerau. Der Beitrag gründet auf allgemeinen medizin-ethischen Grundsätzen und verweist auf die besondere Verantwortung professioneller Therapeuten in der Arbeit mit Kindern- und Jugendlichen, wofür u. a. „praktische Tipps zur ethischen Fallanalyse“ und Hinweise zu einer an ethischen Prinzipien orientierten Untersuchung und Begutachtung vermittelt werden.
Mit acht kürzeren Beiträgen wird der Bedeutung sachverständiger Gutachten (und Gutachter) im Strafverfahren in einem eigenen Unterabschnitt Rechnung getragen. Wolfram Kinze definiert Grundsätze zur Qualität forensischer Gutachten und zur Qualifikation der Gutachter, zur Stellung des Gutachters und gibt Hinweise zum Aufbau des schriftlichen Gutachtens, über die Vergütung bis hin zur Rechnungsstellung des Gutachters.
Ein weiterer Unterabschnitt befasst sich mit Erwartungen und Anforderungen an das Jugendstrafverfahren und die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Carl Christian Deutsch, Vorsitzender Richter am Landgericht Neubrandenburg, resümiert zunächst pessimistisch die geringe Wirksamkeit der erzieherischen Möglichkeiten des Sanktionssystems im Jugendstrafrecht, geht dann, großteils in Wiederholung der im Themenabschnitt Begutachtung dargestellten Grundsätze, auf die Rolle des sachverständigen Gutachters im Strafverfahren ein. Norbert Nedopil vertieft diese Ansätze in einem weiteren Text mit Überlegungen zum Übergangsalter und seine kriminologische Bedeutung. Dazu werden die einschlägigen Studien zum Kriminalitätsverlauf jugendlicher Straftäter, entwicklungsbedingte Probleme und ihre Behandlungsmöglichkeit, sowie die differenzierte Beurteilung und Abgrenzung von Reifeproblemen und psychischen Störungen behandelt.
Abschnitt II: Praxiswissen
Renate Schepker geht im zweiten, auf Praxisfragestellungen bezogenen Abschnitt auf die Grundlagen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, Einschränkung der Schuldfähigkeit) und die Besonderheiten in Bezug auf jugendliche Täter (Reife und Entwicklungsstand, Fakten zur Jugenddelinquenz etc.) ein. Der Schwerpunkt ihrer Ausführungen liegt darin, allgemein gültige juristische Variablen auf die Gruppe jugendlicher Straftäter zu übertragen und so die besonderen Bedürfnisse dieser Zielgruppe in Begutachtung und Behandlung zu berücksichtigen.
Aufbauend auf diesen grundsätzlichen Überlegungen, führt der folgende Unterabschnitt zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit in speziellen Deliktgruppen, bezogen auf Jugendliche Straftäter ein. Frank Häßler und eine Reihe von Co-Autoren geben hier in einem einheitlichen Raster Hinweise zur Rechtsnorm, Definition, Epidemiologie, Tat- und Tätertypologien und Forensischen Besonderheiten bezogen auf Diebstahls-, Gewalt- und Tötungsdelikte, Kindesmisshandlung und Kindestötung, Sexualstraftaten, Brandstiftung, Kfz-Delikte, Drogendelikte und polytrope Kriminalitätshandlungen. Neben der Darstellung aktueller statistischer Befunde legen die Autoren einen Schwerpunkt auf die Erfassung der Forensischen Aspekte der jeweiligen Jugenddelinquenz, wodurch eine lexikalische Erfassung der jeweiligen Täter- und Tattypologien und die Zuordnung zu Forensischen Fragestellungen ermöglicht werden. Die Ausführungen werden teilweise (z. B. im Kapitel zu Sexualstraftaten) mit exemplarischen Fallbeispielen vertieft.
Der folgende Abschnitt fokussiert auf spezielle Störungen und ihre mögliche Forensische Relevanz. In elf Kapitel geben Frank Häßler und weitere Autoren eine Definition der organisch bedingten psychischen Störungen, Abhängigkeitserkrankungen, schizophrenen Psychosen, affektiven, neurotischen und Belastungsstörungen, Störungen der Sexualpräferenz, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, Intelligenzminderung, Entwicklungsstörungen, hyperkinetische Störungen, sowie Störungen des Sozialverhaltens. Die Beiträge bieten neben Hinweise zur Epidemiologie, Diagnostik und Behandlung differenzierte Überlegungen zum Zusammenhang von Störung und Delinquenz, wobei die Ausführungen auch hier teilweise durch Fallbeispiele illustriert werden. Neben Hinweisen zu Störungsbild und Klassifikation der einzelnen Krankheitsbilder gehen die Autoren auf die besonderen Bedingungen der Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter ein.
In einem zusätzlichen Unterabschnitt gehen Günter Hinrichs und Norbert Nedopil den Ursachenkomplexen der Delinquenz nach. Hinrichs stellt dazu die gängigen soziologischen, psychologischen und neurobiologischen Erklärungsansätze zur Delinquenzgenese vor, wobei es nicht nur bei der Benennung von Risikofaktoren bleibt, sondern auch die Bedeutung von Schutzfaktoren, welche als Moderatorvariablen eine große Rolle spielen können, eingegangen wird. Nedopil geht in einem weiteren Beitrag auf die problematische Gruppe der Intensiv- und Serientäter ein. Ihm geht es um eine differenzierte Definition dieser Population, welcher er sich mit Rückgriff auf das Psychopathy-Modell von Hare und einem bio-psycho-sozialen Erklärungsansatz nähert.
Ein eigener Unterabschnitt, bestehend aus einem Beitrag, ist den besonderen Bedingungen psychotherapeutischer Behandlung delinquenter Jugendlicher im Maßregelvollzug gewidmet. Die Autoren Wolfgang Weissbeck und Frank Häßler haben ihre Überlegungen dazu an anderer Stelle breit publiziert (vgl. z. B. die Rezension https://www.socialnet.de/rezensionen/8072.php); die zentralen Aussagen wurden für den vorliegenden Artikel neu zusammengefasst.
Kriminalprognostische Aussagen haben in der Forensischen Psychiatrie eine besondere Bedeutung. Diesem Stellenwert entsprechend ist der Thematik ein eigener Abschnitt gewidmet, in dem Frank Wendt und Aglaja Stöver neben allgemeinen Überlegungen zur kriminalprognostischen Bewertung die modernen Methoden und Instrumente zur Einschätzung künftigen Deliktverhaltens referieren. Mit Verweis auf das „Prozessmodell der Urteilsbildung idiografischer Kriminalprognosen“, das Dahle 2006 im Handbuch Forensische Psychiatrie (vgl. die Rezension https://www.socialnet.de/rezensionen/5141.php) formuliert hat, beschreiben die Autoren eine gut in die Praxis übertragbare Verfahrensweise kriminalprognostischer Einschätzung, welche in einem weiteren Kapitel in Bezug auf konkrete Behandlungssituationen im Praxisalltag (Lockerungsentscheidungen, Diagnostikphase, Entlassung aus stationärer Unterbringung) gesetzt wird.
In drei weiteren Unterabschnitten gehen Marc Allrogen et al., Gunther Klosinski und Hartmut Bosinski auf die besonderen Anforderungen der Begutachtung in speziellen sozial- und zivilrechtlichen Bereichen ein. Dabei stehen die rechtlichen Rahmenbedingungen und die besonderen Fragestellung bei der ärztlichen Begutachtung bei Behinderung, bei Pflegebedürftigkeit, Eingliederungshilfe, Opferentschädigung und in der Frühförderung, sowie Problemstellungen im Sorge- und Umgangsrecht, Betreuung und Vormundschaft und die besonderen Aspekte und Probleme in der Anwendung des Transsexuellengesetzes im Mittelpunkt.
Unterbringungsfragen im Kontext von Kindesrecht, zivil- und sozialrechtlicher Unterbringung bei Minderjährigen, landesrechtliche Unterbringungsverfahren, sowie die zivil- und strafrechtliche Unterbringung Erwachsener sind Thema eines von Frank Häßler bearbeiteten Abschnitts. Neben der Beschreibung der rechtlichen Rahmenbedingungen legt der Autor Wert auf eine praxisrelevante Darstellung der Thematik.
Der letzte auf die deutsche Rechtspraxis bezogene Abschnitt bezieht sich auf den Themenbereich der Glaubhaftigkeitsbegutachtung und -beurteilung in Gerichtsverfahren. Wolfram Kinze benennt hier die juristischen Rahmenbedingungen und stellt umfangreiche methodische Aspekte der Begutachtung vor. Die Ausführungen bestechen neben der differenzierten Darstellung der Thematik durch ihre hohe Praxisrelevanz, die der eigenen beruflichen Tätigkeit des Autors geschuldet ist. Auch in diesem Abschnitt wird auf die besonderen Bedingungen des praktischen Umgangs mit Kindern und Jugendlichen eingegangen.
Im letzten Abschnitt des Praxishandbuchs nehmen Reinhard Haller, Ulrich Preuß, Marc Graf, Józef Gierowski und Norbert Nedopil einen internationalen Vergleich zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Jugend- und Erwachsenenforensik vor. Dem Leser erschließen sich so die juristischen und vollzugspraktischen Gegebenheiten in Österreich, Polen und in der Schweiz.
Zielgruppe
Das Praxishandbuch verfolgt einen fachübergreifenden, auf alle Altersgruppen bezogenen delikt- und störungsspezifischen Ansatz und spricht damit das gesamte Fachpersonal in den Bereichen Kinder- und Jugendpsychiatrie, Allgemeinpsychiatrie, Forensische Psychiatrie, aber auch in Arbeitsfeldern des Allgemeinen Sozial- und Gesundheitsdienstes und des (Jugend-)strafvollzugs und in der Justiz an. Die dezidierte Darstellung gutachterlicher Fragestellungen wird insbesondere medizinische und psychologische Gutachter ansprechen.
Diskussion
Die theoretischen und methodischen Grundlagen der forensischen Psychiatrie wurden in den vergangenen 15 Jahren erheblich ausdifferenziert. Das vorliegende Werk formuliert den Anspruch, diesen Wissensbestand umfassend darstellen und für die tägliche Praxis nutzbar machen zu wollen. Dafür haben die Herausgeber, welche selbst umfangreich an den Texten beteiligt sind, auf eine Gruppe international renommierter Experten gesetzt. Dadurch wird erreicht, dass die gesamte Bandbreite der Forensischen Psychiatrie des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters fachlich kompetent und mit einem erstaunlichen Praxisbezug dargestellt wird. Die klare Gliederung des Praxishandbuchs in einen Grundlagen- und Praxisteil, sowie die Untergliederung weiterer Unterabschnitte (z. B. mit störungsspezifischer und deliktorientierter Ausrichtung) erlauben eine rasche Orientierung, was durch das im Anhang verfügbare Stichwortverzeichnis und die dort versammelten Zusatzmaterialien noch unterstützt wird. Als Praxishandbuch zur konkreten Falleinschätzung greift das Werk Hinweise zu relevanten Risikofaktoren, aber auch relevanten Protektivfaktoren auf, wodurch eine besonders vertiefte Fallanalyse und Prognoseeinschätzung erleichtert wird. Teilweise ergeben sich in den Einzelbeiträgen gewisse Redundanzen, etwa in der Darstellung forensischer Gutachtenerstellung.
Der fach- und altersübergreifende Ansatz der Herausgeber erschließt die fachliche Expertise der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wodurch die längst fällige Verbindung der psychiatrischen Subdisziplinen und der Sektor übergreifende, gemeinsame Diskurs um die Bedingungen moderner Forensischer Psychiatrie ermöglicht und für die Praxis erschlossen werden. Der -mit einem eigenen Abschnitt umfangreiche- Blick über den deutschen Tellerrand hinaus nach Österreich, Polen und in die Schweiz wird die gegenwärtigen Bemühungen um eine internationale Weiterentwicklung der Disziplin unterstützen.
Fazit
Der hohe Preis für den Band mag zunächst abschrecken. Dafür bieten die Herausgeber allerdings ein gut lesbares, dabei immer fachlich und wissenschaftlich fundiertes Handbuch, das den gesamten Wissensbestand Forensischer Psychiatrie in einem Band erfasst. Der Anspruch, eine umfassende Darstellung der Grundlagen, Begutachtung und Behandlung in der Forensischen Psychiatrie zu verfassen ist wird voll erfüllt. Als Praxishandbuch in der täglichen Arbeit mit erwachsenen und jugendlichen Straftätern unverzichtbar.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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