Manfred Kappeler: Anvertraut und ausgeliefert
Rezensiert von Prof. Dr. Marga Günther, 16.03.2011
Manfred Kappeler: Anvertraut und ausgeliefert. Sexuelle Gewalt in pädagogischen Einrichtungen. Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH (Berlin) 2011. 272 Seiten. ISBN 978-3-89479-626-6. 19,95 EUR. CH: 33,50 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Gegenstand des Buches ist die sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen in pädagogischen Institutionen. Es ist eine Reaktion auf die im Jahr 2010 in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen zahlreichen Missbrauchsfälle in Einrichtungen der Heimerziehung, insbesondere derjenigen des reformpädagogischen Internats Odenwaldschule. Diese Aufdeckungen haben eine breite Diskussion innerhalb der Erziehungswissenschaften angestoßen, die deutlich macht, dass es sowohl an Analysen der Bedingungen zur Ermöglichung von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen sowie an pädagogischen Konzepten zu deren Verhinderung mangelt. Das Buch von Manfred Kappeler ist dem Anliegen gewidmet, diese Lücke zu schließen.
Autor
Manfred Kappeler verfügt über 25 Jahre Berufserfahrung als Sozialpädagoge u.a. in der Heimerziehung. Er ist analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche und war von 1989 bis 2005 Professor für Erziehungswissenschaften und Sozialpädagogik an der TU Berlin. Er ist Mitglied der 2010 gebildeten Expertenkommission zur sexuellen Gewalt in pädagogischen Einrichtungen und Sachverständiger im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages zur Aufklärung der Geschichte der Heimerziehung zwischen 1940 und 1970 in der Bundesrepublik Deutschland.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich in drei Teile und ist in einem essayistischen Stil verfasst. Es handelt sich also eher um eine kritische Analyse der sexuellen Gewalt in pädagogischen Institutionen und weniger um eine empirisch gesättigte Untersuchung.
Im einleitenden Teil geht es um eine Begriffsbestimmung. Der Autor differenziert zwischen Sexualität, sexueller Gewalt und sexueller Selbstbestimmung und diskutiert die Begriffe im Zusammenhang mit Macht sowie den machtvollen Diskursen über sie. Dem Autor geht es „um Aufklärung, nicht um Aufarbeitung“ (S. 13), dazu unterzieht er die sexuelle Gewalt in pädagogischen Einrichtungen einer „sprachkritischen Untersuchung von Gesprochenem und Geschriebenem“ (ebd.).
Im
zweiten Teil, der den
Hauptteil des Buches ausmacht, stehen die Mechanismen des Schweigens
und Verschweigens im Mittelpunkt. Hier werden die
Erziehungskonzeptionen katholischer Internate, evangelischer
Erziehungsheime sowie reformpädagogischer Schulen in Hinblick
auf die Frage erörtert, inwieweit diese Konzeptionen sexuelle
Gewalt an den ihnen anvertrauten Mädchen und Jungen möglich
machen konnten.
Kappelers
Analyse zufolge erscheint der sexuelle Missbrauch aufgrund des
theoretischen Überbaus der katholischen Kirche naheliegend. Eine
lebensfeindliche Sexualmoral der Kirche, gepaart mit dem
Zwangszölibat für Priester, bringt die Geistlichen in ein
Dilemma im Umgang mit ihrer Sexualität, mit der sie zudem völlig
allein gelassen werden. Die sexuellen Gewalttaten erscheinen somit in
ihrer Logik quasi als Ventil für die unterdrückten
Bedürfnisse der katholischen Geistlichen. Der Preis für die
Aufrechterhaltung einer repressiven Sexualmoral, so legen Kappelers
Ausführungen nahe, ist die gelebte Doppelmoral, zu der auch die
sexuelle Gewalt an Schutzbefohlenen zählt.
Die
evangelische Kirche hingegen unterscheidet sich in ihrer Sexualmoral
von der katholischen Kirche. Kappeler
streicht die Reformbestrebungen der Protestanten heraus und
beschreibt deren neue Sexualethik, die sich aus einem offenen
Diskussionsprozess entwickelt hat und deren Eckpfeiler die
Anerkennung von Veränderungen im Geschlechterverhältnis,
die Zulassung von Frauen zum Pfarramt und die Tolerierung von
Homosexualität darstellen. Dennoch gab es zahlreiche Taten
sexueller Gewalt auch in Erziehungsheimen evangelischer Trägerschaft
sowie in den evangelischen Pfarrhäusern. Die Pfarrhäuser
stellten eine wichtige Vermittlungsinstitution zwischen Kirche und
Gemeinde dar. Kappeler
stellt aufgrund seiner Analyse die These auf, dass früher die
patriarchale Zwangsehe evangelischer Pfarrer in sexualethischer
Hinsicht ein Pendant zum Zwangszölibat von Priestern der
katholischen Kirche war und entsprechend eine ähnliche
Doppelmoral begünstigte.
Die Analyse der
Gelegenheitsstrukturen im reformpädagogischen Internat
Odenwaldschule ist deutlich von der persönlichen Betroffenheit
Kappelers geprägt.
Die Zerstörung des hohen Ansehens, welches die Odenwaldschule
und ihr langjähriger Leiter innerhalb der
Erziehungswissenschaften genossen, ist eine herbe Enttäuschung
für die gesamte Disziplin. Kappeler
gibt seiner Betroffenheit offen Ausdruck und bemüht sich dennoch
um eine objektive Untersuchung der Frage, in welcher Weise die
pädagogischen Konzepte und ihre Umsetzung sexuelle Gewalt an
Kindern und Jugendlichen ermöglichen konnten. Dabei wird dem
Leser erschreckend deutlich, wie tief verwurzelt die Taten sexueller
Gewalt auch in reformpädagogischen Einrichtungen waren und sind.
Einzig die Verschleierung der Taten folgt einer anderen Logik. So
wurde in reformpädagogischen Kreisen Sexualität nicht
tabuisiert, sondern gerade offen thematisiert und praktiziert. Wer
sich dieser neuen Norm nicht anpasste oder unterwarf, galt als prüde
oder sexualfeindlich und damit als verwerflich. Der „pädagogische
Eros“ – ein vieldiskutiertes Konzept innerhalb der
Pädagogik – wurde zur Rechtfertigung einer distanzlosen
Nähe zu den anvertrauten Kindern und Jugendlichen missbraucht.
Im dritten Teil werden Überlegungen vorgestellt, wie in pädagogischen Einrichtungen ein wirksamer Schutz der Kinder und Jugendlichen vor sexueller Gewalt gewährleistet werden kann. Dabei geht es im Wesentlichen darum, die Mauer des Schweigens und Verschweigens, die grundlegend für die Ermöglichung der Taten ist, zu verhindern.
Diskussion
Kappeler untersucht in bemerkenswerter Offenheit die theoretischen Begründungen pädagogischer Einrichtungen und macht damit die Gelegenheitsstrukturen sexueller Gewalt transparent. Durch seine Ausführungen wird verständlich, aufgrund welcher Konzeptionen sich in angesehenen Erziehungsinstitutionen mitten in unserer Gesellschaft sexuelle Gewalt von Erwachsenen an Kindern und Jugendlichen ereignen kann. Sehr zu würdigen ist sein Anliegen, sich den Verstrickungen innerhalb der Disziplin der Erziehungswissenschaft mit den Tätern sexueller Gewalt in der Reformpädagogik zu stellen und eine Diskussion darüber anzustoßen.
Die einseitige Konzentration auf die theoretischen Konzepte, die hinter den pädagogischen Einrichtungen stehen, verstellt jedoch den Blick auf die tatsächlichen Strukturen und Mechanismen, durch die die Täter ihre Opfer und ihre Institutionen verstricken, um die Taten verdeckt zu halten. Anders als Kappeler in seinem Resümee darlegt, macht sein Vergleich der katholischen, evangelischen und reformpädagogischen Institutionen gerade ersichtlich, dass es weniger die theoretischen Modelle sind, die sexuelle Gewalt begünstigen oder verhindern. Vielmehr sollten die konkreten Institutionen, ihre pädagogischen Konzepte und die in ihnen tätigen Personen auf ihre Mechanismen der Verstrickung in die Taten untersucht werden. Unterbelichtet bleiben daher diejenigen Merkmale, die sich in allen Institutionen, in denen sexuelle Gewalt ausgeübt wurde, übergreifend finden. Erst dieser Vergleich ermöglicht das Aufdecken begünstigender und verhindernder Bedingungen für sexuelle Gewalt.
Fazit
Kappelers Buch ist eine wichtige Bestandsaufnahme zum Thema „Sexueller Gewalt in pädagogischen Einrichtungen“. Die leicht zu lesende Lektüre liefert für die aktuelle Diskussion über sexuelle Macht und Gewalt an Kindern und Jugendlichen in pädagogischen Kontexten wichtige Erkenntnisse und Impulse. Darüber hinaus bietet es eine Grundlage und gibt Anregungen für weitere Untersuchungen, die dringend anstehen.
Rezension von
Prof. Dr. Marga Günther
Professorin für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt
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Zitiervorschlag
Marga Günther. Rezension vom 16.03.2011 zu:
Manfred Kappeler: Anvertraut und ausgeliefert. Sexuelle Gewalt in pädagogischen Einrichtungen. Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH
(Berlin) 2011.
ISBN 978-3-89479-626-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10661.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
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