Johannes Jungbauer (Hrsg.): Familien mit einem psychisch kranken Elternteil
Rezensiert von Dipl. Sozialpädagogin Christina K. Göttgens, 17.12.2010
Johannes Jungbauer (Hrsg.): Familien mit einem psychisch kranken Elternteil. Forschungsbefunde und Perspektiven für die Soziale Arbeit.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2010.
254 Seiten.
ISBN 978-3-938094-69-3.
D: 26,90 EUR,
A: 25,60 EUR,
CH: 41,90 sFr.
Reihe: Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen
Thema
Aspekte rund um das Thema „Familien mit einem psychisch kranken Elternteil“ haben in den letzten Jahren im Fachdiskurs zunehmend an Bedeutung gewonnen. Dies geht einher mit der „Entdeckung“ der präventiven Angehörigenarbeit mit Kindern von psychisch kranken Eltern.
Psychische Erkrankungen sind bekanntermaßen weit verbreitet, werden jedoch oft schamhaft verschwiegen und tabuisiert. Die epidemiologische Tragweite des Themas ist aus repräsentativen Studien bekannt: Im Verlauf eines Jahres leiden ca. 4,5 Millionen der in Deutschland lebenden Erwachsenen an einer behandlungsrelevanten psychischen Störung. Schätzungsweise ein Viertel dieser psychisch Erkrankten sind Eltern; somit kann von mindestens 1 Million betroffener Kinder in Deutschland ausgegangen werden. In der Regel stellt eine psychische Erkrankung eine große Belastung dar – sowohl für den Betroffenen selbst als auch für seine Familienangehörigen. Dies gilt für minderjährige Kinder meist in besonderem Maße. Viele psychisch erkrankte Eltern sind überfordert mit der elterlichen Verantwortung. Doch wäre es falsch, die Erziehungskompetenz psychisch kranker Menschen generell in Frage zu stellen. Wichtig sind vielmehr differenzierte Erkenntnisse zu individuellen Belastungen, Ressourcen und dem Hilfebedarf in den betroffenen Familien.
Herausgeber
Johannes Jungbauer ist Dipl.-Psychologe und Professor für Psychologie an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHo NRW), Abteilung Aachen. Gleichzeitig leitet er das Institut für Gesundheitsforschung und Soziale Psychiatrie (igsp). Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte konzentrieren sich auf: Familienpsychologie, Entwicklungspsychologie, Prävention, Beratung und Training, Soziale Psychiatrie und Angehörigenforschung. 2002 erhielt er den Forschungspreis der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie. Jungbauer gilt als ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Sozialen Psychiatrie und insbesondere im Forschungsbereich „Familien mit psychisch kranken Menschen“. Seine Expertise zeigt sich u.a. an zahlreichen Veröffentlichungen und Vortragstätigkeiten in den o.g. Bereichen.
Entstehungshintergrund
Der vorliegende Band beinhaltet eine Zusammenstellung von ausgewählten Forschungsarbeiten zum Themenkreis „Familien mit einem psychisch kranken Elternteil“. Die Studien sind ursprünglich im Rahmen von Forschungsprojekten und Diplomarbeiten an der Kath. Hochschule Nordrhein-Westfalen in Aachen entstanden. Vor diesem Hintergrund entstand die Idee, die vorliegenden, ursprünglich voneinander unabhängigen Beiträge in der Schriftenreihe der KatHO NRW im Budrich Verlag zusammenzuführen.
Aufbau
Bei diesem Buch handelt es sich um eine Zusammenstellung einzelner, zum Teil erheblich überarbeiteter Originalstudien verschiedener Autorinnen und Autoren. Fünf der insgesamt sechs Beiträge basieren auf Diplomarbeiten und Forschungsprojekten, die vom Herausgeber betreut bzw. geleitet wurden. Der Band beinhaltet neben dem einleitenden ersten Beitrag des Herausgebers insgesamt weitere fünf Buchkapitel, die aus verschiedenen Blickwinkeln die Thematik „Familien mit einem psychisch kranken Elternteil“ beleuchten.
Inhalt
Zunächst erläutert der Herausgeber in einem Vorwort die Entstehung des Buches und seine Intention: Aufgrund des Entstehungszusammenhangs fokussieren die Beiträge des Buches vor allem die Perspektive der Sozialen Arbeit.
Der erste Beitrag „Wenn Eltern psychisch krank sind – Belastungen, Entwicklungsrisiken, Hilfebedarf“ stammt vom Herausgeber selbst und gibt einen kompakten Überblick zum aktuellen Forschungsstand. Des Weiteren nimmt der Autor im Sinne einer familiensystemischen ganzheitlichen Betrachtungsweise sowohl die Perspektive der psychisch erkrankten Eltern als auch deren Kinder ein. Hierbei wird die Lebenssituation der Betroffenen differenziert thematisiert. Dazu hat Jungbauer die Belastungen und den Hilfebedarf der einzelnen Familienmitglieder herausgearbeitet. Hierbei wurden vor allem das subjektiven Belastungserleben und die daraus resultierenden Entwicklungsrisiken sowie die Bewältigungsstrategien und Ressourcen der Betroffenen beschrieben. Schlussfolgerungen für die psychosoziale Praxis und die weitere Forschungstätigkeit runden das Kapitel ab.
Der zweite Beitrag „Familien mit schizophren erkrankten Eltern – Sichtweisen von Betroffenen, Partnern und Kindern“ stammt von Jutta Kinzel-Senkbeil und Johannes Jungbauer. Die Autorin und der Autor bieten einführend einen Exkurs zu den Krankheitsbildern „Schizophrenie und schizoaffektive Störung“ und deren Auswirkungen auf Betroffene und Familienangehörige an. Anschließend werden die Ergebnisse einer fallrekonstruktiven Familienstudie vorgestellt. Es handelt sich dabei um eine Teilstudie des von der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) geförderten Forschungsprojekts „Schizophrenie und Partnerschaft“. Basierend auf sieben fallbezogene Familienmonographien („Familienporträts“), in denen jeweils alle Familienmitglieder ihre subjektive Sichtweise in Bezug auf die psychische Erkrankung innerhalb ihrer Familie dargestellt haben, entstand so eine eindrückliche und lebensnahe Beschreibung der familiären Situation innerhalb der betroffenen Familien. Fallübergreifend werden zentrale Themen aufgegriffen, die insbesondere den Ausblick auf familienbezogene Hilfen in verschiedenen ambulanten und stationären Versorgungskontexten diskutieren. Der zweite Beitrag bietet somit über die individuelle Einzelfalldarstellung hinaus Schlussfolgerungen und Empfehlungen für die psychosoziale Praxis und gemeindepsychiatrische Versorgung.
Im dritten Beitrag „Entwicklungsstörungen bei Kindern psychisch kranker Eltern: Ergebnisse einer klinischen Einzelfallstudie“ analysieren die Autorin Kathrin Reininghaus und Johannes Jungbauer anhand von konkreten Einzelfällen die Entstehung kindlicher Entwicklungsstörungen im Kontext faktischer Belastungen. Anhand von vier qualitativen Einzelfallanalysen werden die Zusammenhänge zwischen einer elterlichen psychischen Erkrankung und kindlichen Entwicklungsproblemen beschrieben. Die zugrunde liegende klinische Einzelfallstudie zieht dabei die Erkenntnisse des Passungskonzepts ein und nutzt diese zur Analyse etwaiger Passungsprobleme. Basierend auf diese differenzierte Untersuchung werden abschließend Implikationen für Prävention und Intervention mit Kindern psychisch kranker Eltern vorgeschlagen; insbesondere für diejenigen Kinder, die ihrerseits bereits behandlungsbedürftige Störungen und Verhaltensauffälligkeiten entwickelt haben.
Im vierten Beitrag „Zwischen Autonomie und Verantwortung: Jugendliche mit psychisch kranken Eltern“ greift das Autorenteam Ingeborg Habers, Kirsten Stelling und Johannes Jungbauer die Perspektive von Jugendlichen mit einem psychisch kranken Elternteil auf. In einer qualitativen Interviewstudie wurden Jugendliche im Alter zwischen 15 und 21 Jahren befragt. Dabei fokussierte das Forschungsteam insbesondere die Lebenssituation der betroffenen Jugendlichen aus entwicklungspsychologischer Sicht, konkret unter Berücksichtigung alterstypischer Entwicklungsaufgaben. Die Befunde dieser Studie bieten hilfreiche Anhaltspunkte für die Planung von Unterstützungsangeboten für Jugendliche mit einem psychisch kranken Elternteil an. Somit liefert der vierte Beitrag neben der Skizzierung konkreter Unterstützungsmöglichkeiten für die Betroffenen darüber hinaus Schlussfolgerungen für Forschung und Praxis.
Der fünfte Beitrag „Kindeswohlgefährdung und Sorgerechtsentzug in Familien mit psychisch kranken Eltern: Eine perspektivenvergleichende Studie“ von Stephan Klein und Johannes Jungbauer greift das empfindliche Spannungsfeld zwischen Sorgerecht psychisch kranker Eltern und Kindeswohl der betroffenen Kinder auf. Eingangs wird ein kompakter Überblick zum Themenkomplex psychische Krankheit, Elternschaft und Sorgerecht geboten. Hiernach folgt die Darstellung rechtlicher Aspekte des Sorgerechts und eines prototypischen Ablaufs von Sorgerechtsentscheidungen aufgrund von Kindeswohlgefährdung. Anschließend wird die im Rahmen der Diplomarbeit des Erstautors durchgeführte Studie vorgestellt. Multiperspektivisch wurden hier Interviews zum Thema „Sorgerecht von psychisch kranken Eltern“ mit Experten verschiedener Berufsgruppen (Juristen, Sozialarbeiter, Mitarbeiter des Jugendamtes, u.a.) geführt. So konnte Deutungs-, Kommunikations- und Kooperationsmuster der in unterschiedlichen Helfersystemen behafteten Experten rekonstruiert werden. Abschließend werden die Ergebnisse diskutiert und Implikationen für die psychosoziale Praxis dargelegt.
Der sechste und letzte Beitrag in diesem Buch „Von der Theorie und Praxis: AKisiA – ein Hilfeangebot für Kinder psychisch kranker Eltern“ stammt von Vera Magolei und Johannes Jungbauer. Vorgestellt wird hier das Aachener Modellprojekt AKisiA („Auch Kinder sind Angehörige“), welches von der Deutschen Behindertenhilfe/Aktion Mensch gefördert wird. Als Kooperationsprojekt des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB), Ortsverband Aachen und der Katholischen Hochschule NRW (KatHo NRW), Abteilung Aachen bietet AKisiA seit Anfang 2009 präventive Hilfen für Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil an. In diesem Beitrag beschreiben die Autorin und der Autor den Transfer von theoretisch begründetem Wissen und Forschungserkenntnissen in die psychosoziale Praxis. Dabei wird kleinschrittig die Erarbeitung der Konzeption, die Vorbereitung und Planung der einzelnen Bausteine bis hin zur konkreten Beschreibung der praktischen Arbeit mit den KlientInnen von AKisiA dargestellt. Sowohl die individuelle Ausgangssituation der Versorgung psychisch kranker Eltern und ihrer Familien in Aachen als auch grundlegende Voraussetzungen wie beispielsweise die institutionelle Verankerung und Finanzierung von Projekten in die Versorgungslandschaft werden thematisiert. Darüber hinaus wird anhand von Prozessdokumentationen und Fallbeispielen ein bisheriger Erfahrungsbericht abgelegt und es werden Perspektiven für die Weiterentwicklung des Projekts beschrieben.
Diskussion
Dieses Buch ist eine insgesamt sehr gut lesbare und lesenswerte Zusammenführung praxisrelevanter Forschungsergebnisse zum Thema „Familien mit einem psychisch kranken Elternteil“. Indem ein vorwiegend qualitativer, fallrekonstruktiver Forschungszugang gewählt wurde, wurden die betroffenen Familienmitglieder als Experten in eigener Sache betrachtet. Durch unterschiedliche Studienteilnehmer und unterschiedliche Studiendesigns entsteht ein im umfassenden Sinne des Wortes „multiperspektivisches“ Gesamtbild. So wurden z.B. die subjektiven Belastungen, die durch eine psychische Erkrankung ausgelöst werden, sowohl bei Eltern als auch bei deren Kindern erhoben und analysiert. Weiterhin wurden professionelle Helfer, also Experten aus der Praxis (Familienrichter, Sozialpädagogen, usw.), in Interviews zu Lieferanten konkreter Erfahrungen aus der beruflichen Praxis – sie gaben wichtige Hinweise auf die Problemlagen, das Ressourcenpotential und dem konkreten Hilfebedarf ihrer Klienten und Klientinnen sowie der eigenen subjektiven Sicht beispielsweise bei Sorgerechtsproblematiken. Insgesamt wird ein breites Spektrum an praxisrelevanten Fragestellungen untersucht. Aus den Ergebnissen leiten die Autorinnen und Autoren vielfältige praxisrelevante Antworten und Empfehlungen ab.
Somit richtet sich das Buch an all jene, die direkt im psychosozialen Bereich mit psychisch kranken Menschen und ihren Familien arbeiten. Für diese Helferinnen und Helfer in psychiatrischen Kliniken, der gemeindenahen psychiatrischen Versorgung, den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie der komplementären psychiatrischen Versorgungslandschaft sind spannende und für die Praxis relevante Forschungsergebnisse übersichtlich und flüssig lesbar vom Herausgeber zusammengetragen worden. Für Entscheidungsträger in Politik, Gesundheitswesen und Jugendhilfe, die über die Installation bzw. (Weiter-)Finanzierung von präventiven Hilfen zu entscheiden haben, können die einzelnen Buchbeiträge forschungsbegründete Argumente bereitstellen. Auch in Bezug auf Sorgerechtsentscheidungen bei Familien mit einem psychisch kranken Elternteil sind Erkenntnisse erarbeitet worden, die für Entscheidungsträger etwa beim Familiengericht und dem Jugendamt nützlich sein können. Nicht zuletzt gibt das Buch vielfältige und sehr konkrete Anregungen für all diejenigen, die perspektivisch ein eigenes Konzept zur Bereitstellung von Familien mit einem psychisch kranken Elternteil entwickeln und in die Praxis umsetzen wollen.
Fazit
Die Auswirkungen von psychischen Erkrankungen auf das subjektiven Erleben aller Betroffenen innerhalb eines Familiensystems verdienen die Aufmerksamkeit all jener, die in professionellem Kontext Hilfen bereitstellen oder aber in irgendeiner Weise in dieses Familiensystem einwirken. Hierzu müssen die subjektiven Deutungsmuster der Betroffenen mit adäquaten Forschungsmethoden analysiert werden. Die in diesem Buch vereinten Forschungsbeiträge geben innovative Impulse für Theorie und Praxis. Das für viele Leser wichtigste und interessanteste Kapitel dürfte der letzte Beitrag über das Hilfeangebot „AKisiA“ sein, weil hier die erfolgreiche Implementierung eines Modellprojektes eindrücklich anhand vieler konkreter Darstellungen der breiten (Fach-) Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Hier wird nicht zuletzt deutlich, wie eine gelungene Verzahnung von Theorie und Praxis durch beständige Forschungstätigkeit und unmittelbare Praxisanbindung aussehen können. Für den Leser und die Leserin bleibt trotz der unterschiedlichen Themen ein erkennbarer roter Faden erhalten. Die einzelnen Kapitel lesen sich angenehm und auch ohne eingehende Vorkenntnisse. Deswegen ist das Buch prinzipiell auch für „Einsteiger“ in die Thematik geeignet. Ein kleines Manko ist vielleicht, dass sich in den einleitenden Abschnitten der Kapitel zum Teil ähnliche Darstellungen wiederholen (z.B. in Bezug auf die Prävalenz psychischer Erkrankungen). Dem steht allerdings der Vorteil gegenüber, dass man die einzelnen Beiträge auch unabhängig voneinander lesen kann. Deutlich wird bei allen Beiträgen die hohe Praxisrelevanz. Hier findet Forschung mit hohem Praxisbezug und nicht im Turmzimmer der Wissenschaft statt. Mit der vorliegenden, sehr empfehlenswerten Publikation wird dem gebührend Rechnung getragen.
Rezension von
Dipl. Sozialpädagogin Christina K. Göttgens
Promoviert zurzeit zum Thema „Evaluation von präventiven Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern: Grundpositionen, Diskurse und Konzepte. Eine sozialpädagogische Analyse.“ Diese Dissertation wird an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen bearbeitet und betreut.
Website
Es gibt 13 Rezensionen von Christina K. Göttgens.
Zitiervorschlag
Christina K. Göttgens. Rezension vom 17.12.2010 zu:
Johannes Jungbauer (Hrsg.): Familien mit einem psychisch kranken Elternteil. Forschungsbefunde und Perspektiven für die Soziale Arbeit. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2010.
ISBN 978-3-938094-69-3.
Reihe: Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen
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