Ludwig A. Pongratz: Kritische Erwachsenenbildung
Rezensiert von Mag. Harald G. Kratochvila, 06.04.2011
Ludwig A. Pongratz: Kritische Erwachsenenbildung. Analysen und Anstöße. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2010. 181 Seiten. ISBN 978-3-531-17685-7. 24,95 EUR.
Aufgeklärte Erwachsenenbildung
„Wir fangen leer an
Ich rege mich. Von früh
auf sucht man. Ist ganz und gar begehrlich, schreit. Hat nicht, was
man will.
Vieles schmeckt nach mehr
Aber wir lernen auch zu
warten. Denn was ein Kind wünscht, kommt selten rechtzeitig. Ja,
man wartet sogar auf das Wünschen selber, bis es deutlicher
wird. Ein Kind greift nach allem, um zu finden, was es meint. Wirft
alles wieder weg, ist ruhelos neugierig und weiß nicht, worauf.
Aber schon hier lebt das Frische, Andere, wovon man träumt.
Knaben zerstören, was ihnen geschenkt wird, sie suchen nach
mehr, packen es aus. Keiner könnte es nennen und hat es je
erhalten. So rinnt das Unsere, ist noch nicht da.“ (Bloch
1985, 21)
Damit beginnt der erste
Teil, kleine Tagträume genannt, aus dem Buch „Das Prinzip
Hoffnung“ von Ernst Bloch. „Vieles schmeckt nach
mehr“ kann als Metapher dafür gelesen werden, dass
Erwachsen werden damit zu tun hat, den Dingen immer mehr Bedeutungen
beigeben zu können … zwar wird immer wieder vom
glorreichen Zustand der Kindheit gesprochen, in der der Phantasie
keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen und den Dingen beliebige
Bedeutungen gegeben werden können, doch das ist unrichtig –
die kindliche Phantasie mag flottieren, doch erst im Erwachsenenalter
gelingt es im allgemeinen Benennungen nicht einfach beliebig zu
wechseln, sondern sie auch zu erhalten.
Den Dingen eigene Bedeutung zu geben, und diese Bedeutungen auch angemessen zu kommunizieren, das bestimmt das Leben erwachsener Menschen in unserer Gesellschaft. Immer wieder trifft man dabei als Individuum auf Versuche, das Spektrum dieser Bedeutungsarbeit zu verengen – Medien versuchen den Dingen und Ereignissen einen einheitlichen Namen, einheitliche Bedeutung zu geben – „Bild Dir Deine Meinung“ ( dass das auch kritisch hinterfragt wird, zeigt sich in Reaktionen wie dieser: www.sueddeutsche.de/medien)
Wie auch immer: Folgt man dem bekannten Diktum des Philosophen Immanuel Kant, dann ist „Aufklärung … der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderes zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere auda! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung … Es ist so bequem unmündig zu sein.“ (Kant 1911, 227)
Dieses Gefühl der Bequemlichkeit wird immer dann in Frage gestellt, wenn gewohnte Denk- und Handlungsmuster in Frage gestellt werden – Skeptizismus und Kritik sind unbequem (vgl. dazu auch: Gabriel 2009)
„An dieser Stelle schafft sich mit Macht die Frage nach einem entsprechenden Menschenbild Geltung. Hält man sachlich irreführenden Assoziationen mit anschaulicher Bildlichkeit fern, so bezieht sich dieser Begriff auf zentrale Vorstellungen davon, worum es im Leben von Menschen primär, wesentlich oder unverzichtbar geht.“ (Liebsch 2010, 139) Für viele Autoren kristallisiert sich aus solchen Überlegungen zu den wesentlichen Grundbedingungen menschlichen Lebensvollzugs ein Begriff heraus, der zwar nicht sehr eng fassbar ist, der aber eine ungeheure Wirkung entfaltet – der Begriff der Individualität bzw. Subjektivität. „Die Situation ist paradox. Eine Erziehung ohne Individuum ist unterdrückend, repressiv. Wenn man aber versucht, Individuen so heranzuziehen, wie man Pflanzen züchtet, die man mit Wasser begießt, dann hat das etwas Schimärisches und Ideologisches. Die Möglichkeit ist allein, all das in der Erziehung bewußt zu machen, also etwa … anstelle der blinden Anpassung die durch sich selbst durchsichtige Konzession zu setzen dort, wo das unausweichlich ist, und auf jeden Fall anzugehen gegen das schlampige Bewußtsein. Das Individuum würde ich sagen, überlebt nur als Kraftzentrum des Widerstandes.“ (Adorno 1997, 118)
Das Kraftzentrum des Widerstands speist sich aus individueller Kritikfähigkeit und einem aufgeklärten Bewusstsein – so lautet der Tenor solcher Positionen. Für Ludwig A. Pongratz, der vor kurzem einen Sammelband zur kritischen Erwachsenenbildung vorgelegt hat, gilt das auch. Es stellen sich daher Fragen, in welchem institutionellen Rahmen, durch welche Eigenschaften und Haltungen bzw. durch welche Art von Wissen, dieses aufgeklärte Bewusstsein gefördert und eingeübt werden kann (vgl. Kratochvila 2010b)
Zum Autor – Ludwig A. Pongratz
Ludwig A. Pongratz ist Professor für Pädagogik an der TU Darmstadt (www.tu-darmstadt.de) und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Themen der Bildungspolitik und der Bildungsreform. In seinen Publikationen setzt er sich immer wieder für eine aufgeklärte „Bildung“ ein (vgl. auch das Literaturverzeichnis auf seiner homepage: www.ludwig-pongratz.de). In dem Sammelband „Kritische Erwachsenenbildung“ greift er zum Teil auf ältere Arbeiten zurück und „ergänzt sie durch neuere Analysen zu bildungstheoretischen, bildungspolitischen, erkenntnistheoretischen oder didaktischen Problemstellungen.“ (Pongratz 2010, 7).
Aspekte einer aufgeklärten Erwachsenenbildung
„Denn der Markt kann nicht das ersetzen, was den Kern kritischer Erwachsenenbildung ausmacht: die Kraft zur Selbstreflexion.“ (Pongratz 2010, 108-109) Diese Kraft zur Selbstreflexion fehlt, so die gängige Diagnose, im Bildungskanon der heutigen Gesellschaft. Es wäre einfach dessen Fehlen alleine am Fehlen gleichnamiger Kurse oder Seminare festzumachen – das braucht es gar nicht. Selbstreflexion ist eine Haltung, die jeder für sich einüben muss. Dieses Einüben läuft im Idealfall didaktisch angeleitet ab, aber die viel wichtigere Bedeutung hat „Selbstreflexion“ als Bildungsideal, an etwas, woran sich Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung bzw. der Erwachsenenbildung orientieren können. Das Bildungsangebot ist fast unüberschaubar geworden – gerade in den Bereichen, in denen es keine geschützten Berufsbezeichnungen gibt (im Coaching, in der Beratung, usw.) werden von den verschiedensten Stellen Lehrangebote öffentlich gemacht. Dazu kommt, dass es keine einheitlichen (systematischen) Ideen zur Frage gibt, was denn Bildung überhaupt sei (die Fragen nach dem Wesen einer Sache ist mittlerweile verpönt, der Beliebigkeitsdiskurs ist normativ geworden).
Ludwig A. Pongratz greift in seiner Aufsatzsammlung einige Themen aus dem Bereich Bildung heraus, um sie einer kritischen Analyse zu unterziehen, die an manchen Stellen durchaus auch polemisch wird. Seine Diskussionsbeiträge stehen unter der Idee, sich zunächst genauer mit dem „Anspruch des Menschen auf Selbstverfügung“ (Pongratz 2010, 7) auseinander zu setzen, wenn das Feld der Erwachsenen- und Weiterbildung bearbeitet wird. Der Autor argumentiert dafür, dass „Selbstverfügung“ und „Selbstvermarktung“ nicht gleichgesetzt werden dürfen.
In seinen Aufsätzen weist Ludwig A. Pongratz immer wieder darauf hin, dass Bildung und Weiterbildung bzw. Ausbildung sich nicht auf eine Form des Produktcharakters reduzieren lassen ohne die grundlegende Idee der Bildung zu verraten – „denn Bildung im modernen Sinn zielt nicht mehr auf „Nach-Bildung“ (in der Nachfolge Christi), sondern auf „Hervorbringung“, auf eine wachsende Selbstgestaltung und Selbstverfügung des Menschen, auf die Entwicklung seiner eigenen Kräfte und Anlagen; kurz: auf die Konstitution von Subjektivität.“ (Pongratz 2010, 29; vgl. auch Kratochvila 2010b) – Subjektivität ist dieser Auffassung zufolge mehr als die bloße Summe der Zertifikate und Bildungsabschlüsse, die man in seinem Leben gesammelt hat, wie Treuepunkte bei einer Supermarktkette (vgl. Pongratz 2010, 153)
Fazit – Wichtige Stimme gegen den „Ausbildungswahn“ und „lebenslanges Lernen“
„So gesehen trägt die forcierte Etablierung von Marktmechanismen im Bildungsbereich nicht zur Expansion von Bildung, sondern von Halbbildung bei.“ (Pongratz 2010, 109) – diese „Kommerzialisierung des Bildungssektors“ zeigt sich an vielen Beispielen - die Etablierung von Privatuniversitäten oder anderer Bildungseinrichtungen, die „Zertifizierungswelle“ bei Seminaren, Workshops, und Weiterbildungsveranstaltungen usw. Ludwig A. Pongratz gelingt es, diese Entwicklungen in den Blick zu bekommen und seine Position klar und „bissig“ zu formulieren – dabei kommen inhaltliche Analysen nicht zu kurz, auch wenn gerade in seiner Auseinandersetzung mit der „konstruktivistischen Erwachsenenbildung“ in seiner Polemik etwas überzogen ist (gerade weil seine Position in dieser Frage inhaltlich überzeugt). Besonders interessant sind seine Analysen zu Begriffen/Konzepten wie „Kompetenz“, „Selbstreflexion“ oder „Bildung“. Das Buch wird für alle von Interesse sein, die sich Gedanken zum Bildungssystem machen, sei es, weil sie selbst gerade „in einer Ausbildung stecken“, sei es, weil sie sich schon öfters gefragt haben, was hinter der Entwicklung des Bildungssystems steckt – welche Leitideen, Leitmotive, Leidgedanken. Das Buch hält dabei, was es verspricht – es liefert Analysen und Anstöße und kann damit ein wichtiger Impuls dafür sein, sich näher mit diesen Fragen auseinander zu setzen. „Mehr geht nicht, echt nicht.“ (www.tv-media.at)
Um nochmals dem Autor das Wort zu geben: „Subjektivitätsfördernde Erwachsenenbildung steht quer zu den marktgängigen Instrumentalisierungs- und Vernutzungsstrategien. Ihr zentraler Terminus lautet nicht „Optimierung“ oder „Effizienz“, sondern „Bildung“. Mit ihm schließt sie an die Aufklärungstradition der Moderne an.“ (Pongratz 2010, 45)
Literatur
- Adorno, T. W. (1997 [1971]). Erziehung zur Mündigkeit - Vorträge und Gespräche. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag
- Bloch, E. (1985 [1959]). Das Prinzip Hoffnung Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp
- Gabriel, M. (2009). Skeptizismus und Idealismus in der Antike. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag
- Kant, I. (1911 [1784]). Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Kants Populäre Schriften. P. Menzer. Berlin (GER), Georg Reimer: 225-236
- Kratochvila, H. G. (2010a). „Von Menschen und Wissen – Was schaffen Universitäten überhaupt?“ (www.socialnet.de/rezensionen/9602.php)
- Kratochvila, H. G. (2010b). „Der Mensch als Autodidakt? Über Sprache und das Schreiben darüber.“ (www.socialnet.de/rezensionen/9401.php)
- Liebsch, B. (2010). Renaissance des Menschen? Zum polemologisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart. Weilerswist (GER), Velbrück Wissenschaft
- Schwemmer, O. (1986). Ethische Untersuchungen. Rückfragen zu einigen Grundbegriffen. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp
Rezension von
Mag. Harald G. Kratochvila
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Zitiervorschlag
Harald G. Kratochvila. Rezension vom 06.04.2011 zu:
Ludwig A. Pongratz: Kritische Erwachsenenbildung. Analysen und Anstöße. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2010.
ISBN 978-3-531-17685-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10707.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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