Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Erich Hollenstein, 02.08.2011
Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik.
Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2011.
4., völlig neu bearbeitete Auflage.
1817 Seiten.
ISBN 978-3-497-02158-1.
D: 79,90 EUR,
A: 82,10 EUR,
CH: 115,00 sFr.
Unter Mitarbeit von K. Grunwald, K. Böllert, G. Flösser und C. Füssenhäuser.
Entstehungshintergrund und Aufbau
Die vierte völlig neu bearbeitete Auflage des Handbuchs Soziale Arbeit stellt in der Folge von der ersten Auflage aus dem Jahr 1984, einen unverzichtbaren Begleiter der Entwicklung der Sozialen Arbeit dar. Im Titel, der vor der gegenwärtigen Neuauflage immer noch die beiden Begriffe Sozialarbeit/Sozialpädagogik enthielt, ist jetzt die Soziale Arbeit als Leitbegriff in den Vordergrund gerückt. Dies deutet auf ein erhöhtes Selbstverständnis bezüglich der Disziplin und der Profession der Sozialen Arbeit. Bezeichneten 1984 die Herausgeber die Veröffentlichung des Handbuches noch als riskantes Unternehmen wird 27 Jahre später von der Präsentation des gegebenen Entwicklungstandes der Sozialen Arbeit gesprochen.
Um den Gegenstand der Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit angemessen zu erfassen, dient ein alphabetisches Verzeichnis mit 177 Artikeln bzw. Stichworten von „Abweichendes Verhalten“ bis zur „Zivilgesellschaft“.
Dem alphabetischen Verzeichnis folgt ein systematisches Verzeichnis gegliedert nach 17 Stichwortfeldern. Solche Felder stellen Verknüpfungen, Zusammenhänge und Korrespondenzen zwischen den Stichworten her.
Titel der Stichwortfelder sind z.B.
- Geschichte und Theorie,
- Planung und Management,
- Handlungskompetenzen und Methoden.
Das als Beispiel gewählte Stichwortfeld Lebensphasen gliedert sich dann wie folgt nach den Stichworten:
- Alter,
- Eltern und Elternschaft,
- Erwachsenenbildung,
- Familie,
- Generationen,
- Jugend,
- Jugendkulturen,
- Kindheit,
- Tod und Hospizarbeit.
Die gesamte Vernetzung der Stichworte erleichtert natürlich den Umgang und die Arbeit mit dem Handbuch. Abgeschlossen wird die Veröffentlichung durch das Autorinnen- und Autorenverzeichnis sowie durch ein umfängliches Sachregister.
Die Textgestaltung, insbesondere ausgezeichnet durch die zweispaltige Seitengestaltung, unterscheidet sich von früheren Auflagen und bietet einen deutlich höheren Lesekomfort gegenüber diesen Auflagen.
Inhalt
Die Herausgeber definieren ihr Verständnis der Sozialen Arbeit im Vorwort: „ Wir verstehen Soziale Arbeit als integriertes Konzept von Sozialpädagogik und Sozialarbeit in der Stabilisierung und Fortschreibung ihrer Traditionen, Erfahrungen und Erkenntnisse, als sozialwissenschaftlich orientiert, gesellschafts- und sozialpolitisch engagiert und interdisziplinär offen“ (ebd., S.V).
Des Weiteren soll das Handbuch den Eigensinn der Sozialen Arbeit stärken und aktuelle gesellschaftliche Rahmenbedingungen thematisieren. Diesbezüglich genannt werden die mit dem Neoliberalismus einhergehende Bedeutungszunahme des Ökonomischen mit der Folge neuer Lebenslagen der Verelendung und Exklusion. Ein prägnantes und aktuelles Beispiel für solche Prozesse ist die zunehmende Ökonomisierung und Vermarktung der Kultur- und Lebensqualität von (Innen-)Städten mit der Folge verschärfter Exklusionsprozesse hinsichtlich bereits problembelasteter Wohngebiete und Stadtteile.
Im Stichwort „Stadtentwicklung“ (Hartmut Häußermann) wird dies anschaulich dargestellt. Die Herausgeber verweisen aber auch auf die fortdauernde Pluralisierungsentwicklung und der damit einher gehende Entgrenzung von Institutionen und Lebensmustern in der gegenwärtigen Gesellschaft. In diesem Zusammenhang sei auf das Stichwortbeispiel „Jugend“ (Matthias D. Witte/Uwe Sander) verwiesen, in dem die Entgrenzung der Jugendphase beschrieben und analysiert wird.
Einige ausgewählte vergleichende Hinweise zwischen der jetzigen und der 2. völlig überarbeitete Auflage von 2001 ermöglichen einen Zugang zu dem immensen Werk. Bei den Stichwortfeldern sind z.B. neu hinzu gekommen „Ethik, Werte, Normen“ sowie „Kooperation und Vernetzung“. Weggefallen oder in neue Zuordnungen gebracht worden sind die Stichwortfelder „Wohlfahrtsstaat“, „Forschung“, „Psychisches und physisches Wohlbefinden“ sowie „Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe“. Der Wegfall des letzten Stichwortfeldes erstaunt, wie sich auch die Systematik innerhalb des systematischen Verzeichnisses kaum erschließt.
Dringt man intensiver in das Stichwortspektrum ein, ist ein neuer Schwerpunkt im entwicklungspsychologischen Bereich festzustellen. Neu findet sich „Entwicklung“ (Rolf Oerter), „Gefühle, Emotionen Affekte“ (Burkhard Müller) „Bindungsbeziehungen: Aufbau, Aufrechterhaltung und Abweichung“ (Lieselotte Ahnert) und, etwas großzügig gesehen, „Neurobiologie“ (Manfred Spitzer). Diese Stichworte finden sich u.a. in dem neuen Stichwortfeld „Entwicklung und Sozialisation“ wieder und insgesamt wird damit der Kindheit und den entsprechenden Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit und insbesondere der Jugendhilfe (z.B. „Hilfen zur Erziehung“, „Schule und Soziale Arbeit“) verstärkt Rechnung getragen.
Dass „Gemeinwesenarbeit“ als Stichwort wegfällt und „Sozialraum“, „sozialraumbezogene Methoden“ und „Stadtentwicklung“ neu hinzukommen entspricht einerseits einer Weiterentwicklung der Sozialen Arbeit unter dem Gesichtspunkt der Sozialraumorientierung, andererseits reduziert sich damit auch der von Dieter Oelschlägel immer wieder vorgetragene politische Handlungsansatz der Gemeinwesenarbeit innerhalb der Sozialen Arbeit auf kommunaler Ebene.
Eine Anpassung auf neuere Theorieentwicklung zeigt auch die leichte Verschiebung des Stichwortes „Klasse, Schicht- und Klassengesellschaft“ zu nunmehr „Klasse, Schicht, Milieu“ (Michael Vester). Strukturierter und an Transparenz gewinnend ist der jetzige Stichwortkomplex zum Thema „Profession“ verglichen mit der Auflage von 2001. Dieses wichtige Thema ist nunmehr aufgeschlüsselt nach „Profession“ und „Professionalität“ (beide von Bernd Dewe/Hans-Uwe Otto) sowie „Berufs- und Professionsgeschichte der sozialen Arbeit“ (Thomas Rauschenbach/Ivo Züchner).
Die dargestellten punktuellen Zugänge belegen die Weiterarbeit im Rahmen der überarbeiteten Neuauflage und zeigen im Verbund mit den vorausgehenden Auflagen, dass der Charakter des Handbuches auch der eines Arbeitsbuches ist. Die ausgewählten Beispiele dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Handbuch auf die gesamte aktuelle Diskussionslage, den gegebenen Forschungsstand und die vorhandenen Praxisfelder und Praxisentwicklungen in der Sozialen Arbeit Bezug nimmt.
Diskussion
Das Handbuch will, folgt man dem Vorwort, theoretische Diskussion, Forschung und Praxis der Sozialen Arbeit präsentieren. Dies ist gewiss kein riskantes Unterfangen wie eingangs angemerkt, dafür aber ein anspruchsvolles Vorhaben. Die Organisation der Stichwortdarstellung, die Strukturierung der Stichworte und Stichwortfelder, die Verständlichkeit des Textes, der Praxisbezug usw. könnten zu einer Summe kritischer und sicherlich berechtigter Anmerkungen führen. Dies wäre auch bei einer alternativen Handbuchkonzeptionen kaum vermeidbar. Denn das Handbuch bzw. die Handbuchreihe folgt hochkomplexen und sehr dynamischen Vorgängen in der Gesellschaft und der auf sie bezogenen Sozialen Arbeit. Vorgänge, deren Erfassung und Analyse nicht zur Befriedung aller denkbaren Ansprüche führt. Der Wert und Verdienst des Handbuches ist, in großen Zeitabständen Soziale Arbeit umfangreich zu dokumentieren und zu diskutieren, Begründungszusammenhänge und Standortjustierungen darzustellen sowie Rückblicke und Ausblicke auf Theorie und Praxis zu ermöglichen.
Fazit
Das vorgelegte Handbuch stellt ein Grundlagenwerk für die Soziale Arbeit und die Sozialpädagogik dar. Das gilt für Fachleute, die eher an einer theoretischen Durchdringung interessiert sind, wie auch für jene Fachleute, die in der alltäglichen Berufspraxis stehen. Für Studierende der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik liegt ein umfassender Studienbegleiter vor, dessen Nutzung allerdings gelernt sein will.
Rezension von
Prof. Dr. Erich Hollenstein
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Zitiervorschlag
Erich Hollenstein. Rezension vom 02.08.2011 zu:
Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2011. 4., völlig neu bearbeitete Auflage.
ISBN 978-3-497-02158-1.
Unter Mitarbeit von K. Grunwald, K. Böllert, G. Flösser und C. Füssenhäuser.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10712.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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