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Claudia Schreier: Modularisierung in der beruflichen Bildung?

Rezensiert von Prof. Dr. Ruth Enggruber, 07.10.2011

Cover Claudia Schreier: Modularisierung in der beruflichen Bildung? ISBN 978-3-940625-14-4

Claudia Schreier: Modularisierung in der beruflichen Bildung? Ansätze aus der Benachteiligtenförderung in ausgewählten europäischen Ländern. Eusl Verlagsgesellschaft mbH (Paderborn) 2010. 462 Seiten. ISBN 978-3-940625-14-4. 39,00 EUR.

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Thema

Untersuchungen wie jene von Antje Funcke, Dirk Oberschachtsiek und Johannes Giesecke (2010) zeigen, dass junge Menschen ohne einen Berufsabschluss sogar dann in höherem Maße von Erwerbsarbeitslosigkeit und prekären Arbeitsverhältnissen betroffen sind, wenn sie über einen mittleren Schulabschluss verfügen. Der Abschluss einer anerkannten Berufsausbildung ist somit entscheidend für die ökonomischen und sozialen Zukunftsperspektiven der meisten Menschen. Das deutsche Berufsbildungssystem basiert auf dem dualen System, das von Baethge (2008) als „korporatistisch-staatliches Steuerungssystem“ bezeichnet wird. Denn mit Verena Eberhard und Joachim Gerd Ulrich (2010) formuliert - hat „der Staat der Wirtschaft die Rolle des Eingangswächters in die Berufsausbildung übertragen“. Vor allem seit Beginn des neuen Jahrtausends haben aufgrund dieses marktgesteuerten, überwiegend ökonomischen Interessen folgenden Zugangs zu Berufsbildung viele junge Menschen keinen betrieblichen Ausbildungsplatz mehr erhalten. Denn zum einen haben angesichts wirtschaftlich-struktureller und -konjunktureller Bedingungen viele Betriebe keine Ausbildungsplätze mehr angeboten. Zum anderen stellt für die meisten Jugendlichen mit Michael Friedrich (2011) eine duale Berufsausbildung „noch immer den Königsweg“ dar. So strebten im Ausbildungsjahr 2010/11 94 % der Jugendlichen mit einem Hauptschulabschluss (2008: 91 %) und 78 % mit einem mittleren Bildungsabschluss (2008: 80 %) an, eine duale Berufsausbildung zu absolvieren.

In Folge der hohen Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsstellenmarkt ist es nur noch weniger als der Hälfte der BewerberInnen gelungen, einen betrieblichen Ausbildungsplatz zu erlangen. Um die unvermittelt gebliebenen jungen Menschen zu „versorgen“, wurde das so genannte Übergangssystem geschaffen. Dort werden die rund 300.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf eine Berufsausbildung schulisch oder außerschulisch vorbereitet, obwohl nach den Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) über 40 % von ihnen bereits über die notwendige „Ausbildungsreife“ verfügen, direkt eine Berufsausbildung beginnen zu können. Angesichts der als „dramatisch“ zu bezeichnenden Expansion des Übergangssystems, dessen Maßnahmen für viele Jugendliche „Warteschleifen“ oder sogar die „Vorbereitung auf das Prekariat“ (Euler 2009) bedeuten, ist eine heftig und scharf geführte bildungspolitische Diskussion um die Flexibilisierung und Differenzierung der Berufsausbildung entbrannt. Als zentrales Instrument dazu gilt die Modularisierung, so dass die Berufsausbildung in einzelne Module zerlegt wird, die in ihrer Gesamtheit alle Inhalte der Ausbildungsordnung umfasst, so wie sie im Berufsbildungsgesetz für den jeweiligen Ausbildungsberuf geregelt ist.

Claudia Schreier geht in ihrer Dissertation auf diese heftigen bildungspolitischen Kontroversen, die in Deutschland zur Modularisierung der Berufsausbildung geführt werden, nur kurz ein (vgl. S. 109 ff.), weil sie für sie weniger relevant sind. Denn sie begrenzt ihre Untersuchungen auf die Berufsausbildungsvorbereitung und damit auf das Übergangssystem. Claudia Schreier beschäftigt sich „mit Modulen in der Benachteiligtenförderung im europäischen Kontext“ (S. 4). Untersuchungsleitend ist für sie die Frage, inwiefern es aufgrund der Heterogenität der Berufsbildungssysteme in Europa möglich ist, für die Berufsausbildungsvorbereitung von am Ausbildungsmarkt benachteiligten jungen Menschen „europaweit gemeinsame Grundlagen und Qualitätsstandards bei der Entwicklung, Gestaltung und Implementierung von Modulen zugrunde zu legen“ (S. 4). Neben Deutschland hat sie dazu die Modularisierungskonzepte in Belgien (Flandern), Portugal, Rumänien und Großbritannien (England) empirisch untersucht. Auf der Basis ihrer Forschungsergebnisse entwickelt sie „Dimensionen einer gelungenen Modularisierung“ für die Berufsvorbereitung. Damit strebt sie auch an, einen Beitrag zu mehr Transparenz und Vergleichbarkeit zwischen den verschiedenen in Europa zu findenden Ansätzen zur Berufsvorbereitung von am Ausbildungsmarkt benachteiligten Jugendlichen zu leisten.

Autorin

Claudia Schreier hat im Rahmen ihrer Mitarbeit in dem Projekt „Approval of modules in pre-vocational education und training“, das vom Berufsbildungsinstitut Arbeit und Technik der Universität Flensburg koordiniert und von 2005 bis 2007 im Rahmen des Programms Leonardo da Vinci von der Europäischen Kommission gefördert wurde, ihre Dissertation verfasst.

Entstehungshintergrund

Wie bereits erwähnt entstand die vorliegende Dissertationsschrift von Claudia Schreier im Rahmen ihrer Forschungstätigkeiten in dem oben genannten Entwicklungsprojekt. Dort wurde in Kooperation mit Instituten der beruflichen Bildung und Forschung in sieben europäischen Ländern ein durch ein E-Tool gestütztes System erarbeitet, „das eine Hilfe bei der Entwicklung von Modulen für die Berufsvorbereitung darstellen und gemeinsame Schwerpunktsetzungen ermöglichen soll“ (S. 10). In allen sieben beteiligten Ländern wurden sowohl Bildungsträger als auch mit Zertifizierung und Akkreditierung befasste Institutionen einbezogen, um eine möglichst hohe Praxisrelevanz und Akzeptanz zu erreichen.

Aufbau

Die beachtliche, knapp 418 Textseiten umfassende Dissertationsschrift von Claudia Schreier gliedert sich im Anschluss an die Einleitung in drei Teile, die insgesamt zehn Kapitel umfassen

„Teil I: Module in der Benachteiligtenförderung im Europäischen Kontext“

Hier werden zunächst die übergreifenden Fragen zur Modularisierung der Berufsausbildungsvorbereitung im europäischen Kontext geklärt.

Das 1. Kapitel beinhaltet eine „Abriss der beruflichen Bildung in Europa“.

Im 2. Kapitel wird die „Benachteiligtenförderung in Deutschland und ausgewählten Ländern“ dargestellt. Im Einzelnen wird hier näher auf die Berufsbildung generell und insbesondere für als benachteiligt geltende Jugendliche in Belgien, Dänemark, Portugal, Rumänien und Großbritannien eingegangen, obwohl Claudia Schreier Dänemark nicht in ihre empirische Forschung einbezogen hat.

Wiederum mit Dänemark, aber auch mit Österreich berücksichtigt Claudia Schreier auch im 3. Kapitel zur „Modularisierung in Deutschland und ausgewählten Ländern“ Länder, die sie nicht eingehender untersucht hat. Einführend zu diesem Kapitel ordnet sie Module theoretisch ein und differenziert sie als curriculare und ordnungspolitische Struktur sowie aus einer pädagogisch-didaktischen Perspektive als „Lernform“.

„Teil II: Modularisierung in der Benachteiligtenförderung - Empirische Untersuchungen zu Erwartungen und Chancen“

Im 4. Kapitel skizziert Claudia Schreier zunächst „Methodik und Forschungszusammenhang“ ihrer Untersuchung. Ihre Forschungsmethodologie und -methodik richtet sie an der Grounded Theory von Glaser und Strauss aus. In Deutschland hat sie sowohl Befragungen mit Jugendlichen als auch mit VertreterInnen aus Bildungseinrichtungen, Betrieben, Zertifizierungs- und Akkreditierungsinstituten sowie der Bildungsplanung durchgeführt. Im Wesentlichen wurde mit diesem Forschungsdesign auch in Belgien (Flandern), Portugal, Rumänien und Großbritannien (England) geforscht, wobei es dort jeweils leichte Abweichungen gibt, die Claudia Schreier zu Beginn des entsprechenden Kapitels differenziert erläutert. Im 5. Kapitel „Empirische Untersuchungen in Deutschland“ stellt Claudia Schreier ausführlich ihre deutschen Forschungsergebnisse vor.

Im Gegensatz dazu werden die Modularisierungsansätze in den anderen untersuchten europäischen Ländern im 5. Kapitel „Empirische Untersuchungen in ausgewählten Ländern“ zwar jeweils für sich, aber dennoch gemeinsam dargestellt. Dabei folgen alle Länderanalysen konsequent den gleichen Fragestellungen, d. h. im Einzelnen nach (1) der „Wahrnehmung von Modularisierungskonzepten“, (2) den „Eigenschaften eines gelungenen Moduls“, (3) den „Anforderungen an Module im Haniblick auf die Zielgruppe“ der als benachteiligt geltenden Jugendlichen, (4) der „Integration des ?Modularisierungskonzeptes? in die (vor)berufliche Bildung und (5) nach den jeweils vorhandenen Ansätzen zu „Assessment und Zertifizierung“.

„Teil III: Dimensionen einer gelungenen Modularisierung“

In diesem Teil führt Claudia Schreier ihre differenzierten Forschungsergebnisse mit den Entwicklungen in dem im Leonarda-da-Vinci-Projekt zusammen. Im 7. Kapitel „Dimensionen“ arbeitet sie zunächst insgesamt acht Handlungsfelder heraus, die sie jeweils auf der System, Institutionen und individuellen Ebene erläutert. Die auf diese Weise systematisch begründeten „Dimensionen einer gelungen Modularisierung“ wurden auch in dem im Projekt entwickelten E-Tool berücksichtigt.

Die Ergebnisse aus dessen „Testphase in Deutschland und den Partnerländern“ stellt Claudia Schreier im 8. Kapitel vor.

In ihrem 9. Kapitel fasst sie die „Antworten zur zentralen Fragestellung“ ihres Dissertationsprojekts prägnant zusammen. Im Einzelnen ging es ihr um die Antwort auf die folgenden sechs Detailfragen:

  1. „Welche Konzepte liegen der Arbeit mit Modulen zugrunde?“
  2. „Inwieweit beeinflusst der systemspezifische Kontext das Konzept?“
  3. „Inwieweit kann von den Ansätzen anderer Länder gelernt werden?“
  4. „Sind Module eine geeignete Lernform für die Zielgruppe?“
  5. „Welche Charakteristika weist ein gelungenes Modul auf?“
  6. „Welche Handlungsfelder/Dimensionen müssen berücksichtigt werden?“.

Schließlich skizziert sie in ihrem letzten und 10. Kapitel ihre „Einschätzungen für den deutschen Kontext“.

Fazit

In meiner Vorstellung wird deutlich geworden sein, dass Claudia Schreier mit ihrer Dissertationsschrift eine beachtenswerte, in sechs europäischen Ländern durchgeführte empirische Untersuchung zu den Modularisierungskonzepten in der Berufsvorbereitung für am Ausbildungsmarkt benachteiligte Jugendliche vorgelegt hat. Auf dieser Basis hat sie Dimensionen entwickelt, die bei einer gelungenen Modularisierung der Berufsvorbereitung in den verschiedenen Ländern Europas berücksichtigt werden sollten. Dabei kann auch das in dem Leonardo-da-Vinci-Projekt erarbeitete E-Tool weiterführende Anregungen geben, denn die damit in der Testphase erzielten Ergebnisse werden von Claudia Schreier positiv herausgestellt. Insgesamt ist diese Publikation somit meines Erachtens für alle VertreterInnen aus Bildungspraxis, -politik und -wissenschaft, die sich mit Fragen der Modularisierung der Berufsausvorbereitung beschäftigen, eine lohnenswerte und neue Perspektiven eröffnende Lektüre.

Allerdings sind die knapp 418 Textseiten zumindest in quantitativer Hinsicht eine Herausforderung für LeserInnen. Claudia Schreier hat mir jedoch die Durchsicht dieser im Umfang überaus anspruchsvollen „Lektüre“ erleichtert, in dem sie für mich ansprechend und gut verständlich schreibt und außerdem zu nahezu jedem Kapitel entweder eine aufschluss- und hilfreiche „Synoptische Zusammenfassung“ oder ein „Fazit“ oder eine „Zusammenfassung und Gesamteinschätzung“ gibt.

Abschließend wünsche ich mir, dass der von Claudia Schreier in ihrem Ausblick formulierte Hinweis aufgenommen und berücksichtigt wird, dass die Modularisierung nicht nur als Instrument in der Berufsvorbereitung für Jugendliche, die am Ausbildungsmarkt benachteiligt worden sind, untersucht und diskutiert werden sollte. In Gänze stimme ich Claudia Schreier zu, dass „modulare Strukturen insgesamt für die berufliche Bildung aller Jugendlichen in den Fokus der Forschungen“ (S. 417) genommen werden sollte. Denn ansonsten drohen jegliche Ansätze zur Modularisierung mit Stigmatisierungs- und Etikettierungsprozessen für junge Menschen verbunden zu sein, denen aufgrund wirtschaftlicher Bedingungen der Zugang zu einem betrieblichen Ausbildungsplatz verwehrt worden ist.

Rezension von
Prof. Dr. Ruth Enggruber
Hochschule Düsseldorf, FB Sozial- und Kulturwissenschaften
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Es gibt 62 Rezensionen von Ruth Enggruber.

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Zitiervorschlag
Ruth Enggruber. Rezension vom 07.10.2011 zu: Claudia Schreier: Modularisierung in der beruflichen Bildung? Ansätze aus der Benachteiligtenförderung in ausgewählten europäischen Ländern. Eusl Verlagsgesellschaft mbH (Paderborn) 2010. ISBN 978-3-940625-14-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10713.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.


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