Bettina Künzel: Kinder & Musik
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Martin Stroh, 02.05.2011
Bettina Künzel: Kinder & Musik. Was Erwachsene wissen sollten.
Kallmeyer Verlag
(Seelze/Velber) 2010.
128 Seiten.
ISBN 978-3-7800-1054-4.
24,95 EUR.
Reihe: Wie Kinder lernen.
Thema
Trotz aller Sonntagsreden ist die professionelle Musikausbildung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland seit PISA auf dem Rückzug. Komplementär zu der existentiellen Krise, in der sich die Musikpädagogik befindet, wird der Markt mit Büchern gespeist, die die Bedeutung der Musik für den Menschen und die Gesellschaft propagieren. 2001 hat Hans Günther Bastian das Taschenbuch „Kinder optimal fördern – mit Musik. Intelligenz, Sozialverhalten und gute Schulleistungen durch Musikerziehung“ als Fazit einer Langzeitstudie zum positiven Einfluss „erweiterten Musikunterrichts“ an sechs Berliner Grundschulen auf Kinder veröffentlicht. Der Deutsche Musikrat, der Dachverband Musikwirtschaft und Veranstaltungstechnik (DVMV) und der potente Musikverlag Schott haben diese Initiative unterstützt, der Autor war Liebling aller Frauenzeitschriften und durfte sogar eine Mozart-macht-klug-CD bei der Drogeriekette Rossmann herausbringen. Kurz darauf, 2003, versuchte der pädagogische Verlag Beltz mit Wilfried Gruhns Taschenbuch „Kinder brauchen Musik. Musikalität bei kleinen Kindern entfalten und fördern“ das etwas in Verruf geratene Gesamtbild der wissenschaftlichen Musikpädagogik zu korrigieren. Hier wurde nun die Gehirnforschung bemüht und den Eltern ins Stammbuch geschrieben, dass sie die natürliche musikalische Entwicklung des Kleinkindes liebevoll beobachtend begleiten und fördern sollten.
Inhalt und Diskussion
Das nunmehr in der Reihe „Wie Kinder lernen“ und „Was Erwachsenen wissen sollten“ erschienene Buch von Bettina Küntzel nimmt innerhalb dieserart Ratgeberliteratur eine neue Position ein. Trotz einiger für die Gesamtargumentation irrelevanten Ausflügen in die etablierte Wissenschaft (Gehirnforschung, Labor-Psychologie usw.) geht die Autorin Bettina Küntzel, die selbst praktizierende Musiklehrerin ist, von einer minutiösen Beschreibung dessen aus, was sie selbst beobachtet. Als Hilfsgeister dienen ihr mehrere Studentinnen der Universität Oldenburg, die in Bachelor- und Masterarbeiten Beobachtungsmaterial in Hülle und Fülle gesammelt haben: Was singen und spielen Kinder auf dem Schulhof, welche Bilder malen sie zu Musik, wie wichtig schätzen Kinder selbst Musik für ihr Leben ein, was kommt heraus, wenn Kinder machen dürfen, was sie wollen, und so weiter? Und so ist gut die Hälfte des vorliegenden Buches gefüllt mit systematisch geordneten Tatsachen.
Die tragende These des Buches ist, dass alle Erwachsenen nicht nur wissen sollten, wie Kinder im Alltag lernen, sondern dass sich aus diesem Wissen auch eine effektive Pädagogik ableiten lässt.
Diese These ist ungewöhnlich im Diskurs um Musikpädagogik. Bei Günther Bastian wurde beispielsweise nicht die konkrete Tätigkeit der Kinder beobachtet, spielte die Art der musikalischen Aktivität der untersuchten Kinder a gar keine Rolle.Vielmehr wurden vor und nach den Musikstunden umfangreiche Fragebogen ausgefüllt und die Antworten dann statistisch bearbeitet. Die hinter den Befragungsinstrumenten stehenden theoretischen Annahmen über Intelligenz, Sozialverhalten und Leistung haben das Ergebnis bestimmt. Bei Wilfried Gruhn wiederum wird das gesamte Leben des jungen Menschen einer neurologischen Entwicklungstheorie unterworfen und auf dieser Basis ein idealtypischer, systematischer Lernprozess abgeleitet. Bettina Küntzel indessen versucht ohne jegliche Vorgabe und theoretische Annahme aus der puren Alltagsbeobachtung pädagogische Schlüsse zu ziehen. Das ist einerseits naiv andererseits folgenschwer. Sie verfolgt dabei zwei Stoßrichtungen:
- kritisiert und korrigiert die Autorin so gut wie alle Annahmen der herrschenden Musikpädagogik über ein systematisch aufgebautes Curriculum für Musikunterricht. Die Pädagogik habe sich am Kind und nicht an der Musik zu orientieren. Die entlang der immanenten Systematik aufgebaute Pädagogik habe nichts mit der Vielfalt musikalischer Tätigkeiten zu tun, die man als sensible Lehrerin beobachten kann. Sie töte die meisten musikalischen Initiativen und Motivationen der Kinder ab. Sie entferne die Musikpädagogik aus der Lebenswelt der Kinder. Sie habe nichts mehr zu tun mit der Bedeutung, die Musik im Leben der Kinder hat. Sie nehme die Kinder nicht Ernst, sie diskriminiere viele Eigenaktivitäten, weil diese notwendigerweise oft unbeholfen oder medienorientiert sind. Die Medienschelte, auf der beispielsweise Günther Bastians pädagogische Ratschläge beruhen, kehrt Bettina Küntzel um, indem sie die Medien als wichtigen Bestandteil der kindlichen Lebensrealität betrachtet und bewertet.
- entwickelt die Autorin ausgehend von Alltagsbeobachtungen über die musikalische Tätigkeit von Kindern eine Pädagogik, die man als „flexibles Förderprogramm“ bezeichnen kann. Einerseits solle man die Kinder dort abholen, wo sie (musikalisch) sind. Andererseits solle man aber auch die Richtung, in die man die abgeholten Kinder führt, von den Kindern bestimmen lassen. So kann beispielsweise eine Lehrperson bevor sie mit Fingerübungen an einem Instrument loslegt, abwarten, bis das Kinde selbst seine Fingerfertigkeiten perfektionieren will. Freilich ist dieser radikal „schülerorientierte“ Ansatz keineswegs widerspruchsfrei. So wird derzeit mit dem Ziel eines „aufbauenden Unterrichts“ von der musikpädagogischen Fachwelt bemerkt, dass auch die musikbegeisterten Schüler/innen oft nicht weiter wissen und bei der Überwindung der Grenzen, die sie selbst bemerken, Hilfe benötigen und wünschen.
Die große Genauigkeit, mit der Bettina Küntzel beschreibt, wie Kinder mit Musik umgehen, bricht in den letzten Kapiteln des Buches an dem zuletzt genannten Widerspruch in sich zusammen. Das Modell einer radikal nach den Schülerwünschen ausgerichteten Unterrichtseinheit, über die Bettina Küntzel berichtet, ist als Exempel dafür, was alles möglich ist, gut zu gebrauchen, nicht jedoch als durchgehendes Prinzip von Unterricht. Denn erwartungsgemäß wollen Schüler/innen, sobald sie gefragt werden, was sie am allerliebsten im Musikunterricht machten, den eben aktuellen Hit selbst spielen. Und, nachdem dies mit viel Lehrergeschick innerhalb von 4 Wochen bewerkstelligt ist, kommt der nächste Hit dran. Und dann noch einer, und so soll das 10 oder 12 Jahre immer weiter gehen? Es kommt nicht von ungefähr, dass der abschließende Kompetenzen-Katalog von Bettina Küntzel keine Fertigkeiten, Fähigkeiten und Einstellungen, sondern nur die Beschreibung dessen, was Schüler/innen im Laufe ihrer Grundschulzeit erlebt haben sollen, enthält.
Fazit
Das Buch ist erklärtermaßen „für Erwachsene“ geschrieben. Vieles ist so formuliert, dass nicht Musiklehrer/innen sondern Laien gemeint sind. Einiges richtet sich jedoch wiederum eindeutig an praktizierende Lehrer/innen. Manches könnten interessierte Eltern verwenden, doch vieles ist für normale Eltern zu akademisch. Bedenkt man, dass heute an Grundschulen nur etwa 25% des vorgesehenen Musikunterrichts von Fachkräften erteilt wird und dass momentan die Vorschulerziehung musikalisch angereichert und Erzieherinnen mit elementarem musikpädagogischen KnowHow weiter gebildet werden (sollen), dann kann man als die genuine Zielgruppe dieses Buches alle Laien ausmachen, die pädagogisch tätig sind und oft nicht wissen, wie sie über das Absingen einiger Kinderlieder hinauskommen könnten. Erfreulich ist, dass das Buch sehr flüssig zu lesen ist, dass laufend Anregungen zur Selbstbeobachtung des Lesers gegeben werden und dass das Gesagte sehr anschaulich demonstriert wird. In musikpädagogischen Fachkreisen müsste das Buch eigentlich für Aufsehen sorgen und eine Wende einleiten. Nur leider wird man es als populärwissenschaftlich abtun können und daher nicht Ernst nehmen.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Martin Stroh
Em. Prof. für Systematische Musikwissenschaft an der Universität Oldenburg
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Es gibt 3 Rezensionen von Wolfgang Martin Stroh.
Zitiervorschlag
Wolfgang Martin Stroh. Rezension vom 02.05.2011 zu:
Bettina Künzel: Kinder & Musik. Was Erwachsene wissen sollten. Kallmeyer Verlag
(Seelze/Velber) 2010.
ISBN 978-3-7800-1054-4.
Reihe: Wie Kinder lernen.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10732.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.
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