Jan Wulf-Schnabel: Reorganisation und Subjektivierungen von sozialer Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Dahme, Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt, 25.01.2011
Jan Wulf-Schnabel: Reorganisation und Subjektivierungen von sozialer Arbeit.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2011.
329 Seiten.
ISBN 978-3-531-17775-5.
34,95 EUR.
Reihe: Perspektiven kritischer sozialer Arbeit - Band 10.
Thema
Das vergangene Jahrzehnt hat im Sozialsektor der Bundesrepublik grundlegende Änderungen hervorgebracht. Durch die Einführung von Wettbewerbselementen und prospektiven Entgelten hat sich der Erbringungskontext sozialer Dienste verändert und eine Sozialwirtschaft entstehen lassen: die Leistungserbringer verstehen sich und agieren vielfach als Sozialunternehmen mit entsprechender Geschäftsfeldpolitik. Diese Änderungen haben auch Auswirkungen auf das traditionelle Verbändesystem, weil in allen Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege eine stärkere Differenzierung zwischen unternehmerischer, anwaltschaftlicher und Mitgliederorientierung zu beobachten ist. Das neue unternehmerische Selbstverständnis und der bleibende Kostendruck führen dabei zu Änderungen in der Personal- und Tarifpolitik, die nicht ohne Folgen für das professionelle Selbstbild und die Handlungsorientierungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bleiben.
Aufbau …
Das Buch gliedert sich in zwei Teile: In den ersten drei Kapiteln werden die theoretischen Grundlagen entwickelt, im zweiten Teil wird in Kapitel 4 und 5 ein konkreter Forschungsprozess nachgezeichnet und die Ergebnisse dargestellt. Das abschließende 6. Kapitel enthält ein Plädoyer für ein partizipatorisches Sozialmanagement professioneller Organisation in der Sozialen Arbeit.
… und Inhalt
Im theoretischen
Teil der Arbeit geht es dem Autor im Wesentlichen darum, den
Begriff der Subjektivität zu verdeutlichen und seine
Besonderheiten mit Bezug auf die Soziale Arbeit zu klären.
Subjektivität meint ein Doppeltes: 1.) als von außen an
die Individuen herangetragene Anforderung des Arbeitsprozesses meint
sie dessen subjektive Verarbeitung und die darauf bezogenen
veränderten Handlungen; 2.) als von den Individuen ausgehende
Prägung desselben meint sie eine Verstärkung von
Subjektivität. Jan Wulf-Schnabel spricht im Folgenden mit
Bezug auf die Soziale Arbeit von „gefangener
Subjektivierung“. Auf Grund der Besonderheiten sozialer Dienste
– es handelt sich um personenbezogene Handlungen, deren
Ergebnisse nur in Koproduktion zustande kommen – erfordert
Soziale Arbeit ein situativ offenes Handeln und Improvisation,
weshalb standardisierte und taylorisierte Arbeitsabläufe an ihre
Grenzen stoßen. Dies bedeutet auch, dass das arbeitsbezogene
Regulationsniveau eher gering ausgeprägt ist und das berufliche
Selbstverständnis hier eine größere Rolle spielt als
in anderen Berufen. Unter gefangener Subjektivierung versteht der
Autor ein konstitutives Merkmal Sozialer Arbeit, das aus der
Interaktion mit den Adressatinnen und Adressaten resultiert: die
Interpersonalität erzeugt quasi singuläre Bezugnahmen und
Verhaltensweisen, die aus den Anforderungen der Adressatinnen und
Adressaten resultieren und nicht beliebig wiederholbar und abrufbar
sind. Die Handelnden sind „gefangen“ in einer
Subjektivierung, die ihnen die soziale Interaktion immer wieder
abverlangt, die aber nicht gemessen werden kann und sich einer
Standardisierung entzieht.
Dieser Tatbestand
führt dazu, dass in Folge der Ökonomisierung sozialer
Dienste eine wettbewerbliche Subjektivierung einer lebensweltlichen
Subjektivierung gegenüber tritt. Während ein
wettbewerbliches Ökonomieverständnis Soziale Arbeit als
Faktor für Produktivität und Profit ansieht, zielt eine
lebensweltliche Subjektivierung auf die gesamte soziale Situation.
Der Autor entfaltet auf der Basis dieser theoretischen
Überlegungen zunächst eine Argumentation, die die
geschlechtsspezifischen Besonderheiten von Sorgetätigkeit
verdeutlichen und als bestimmende Größe für alle
Handlungsfelder der Sozialen Arbeit von Bedeutung sind. Hier ergibt
sich schon ein erster Bezug zur Bestimmung der Prekarität von
sozialen Tätigkeiten, da familiale Kontexte eine bedeutende
Rolle spielen, wenn es um die soziale Absicherung einer Person geht.
Der theoretische Teil des Buches schließt mit einer Betrachtung
der Folgen des Ökonomisierungsprozesses, die Schnabel als
„Entgrenzung“ bezeichnet, die Folge des Wettbewerbs ist
und sich auf die Gesamtheit der Arbeitsbeziehungen im sozialen
Dienstleistungssektor auswirkt.
Mit diesen Auswirkungen beschäftigt sich der zweite Teil des Buches, der auf der Basis eines konkreten Forschungsprozesses die (veränderten) Anforderungen an das Personal in sozialen Diensten untersucht. Bei dem ausgewählten Forschungsfeld handelt es sich um einen Landesverband der Arbeiterwohlfahrt und als Referenzfeld um einen AWO-Kreisverband. Die Arbeiterwohlfahrt eignet sich deshalb besonders gut für die Überprüfung der Subjektivierungsthese, weil sie in den letzten Jahren eine grundlegende Restrukturierung der Verbandsorganisation vorgenommen hat, die in einer Differenzierung von Unternehmensorganisation und Mitgliederorganisation ihren Ausdruck findet. Aus dieser Differenzierung resultieren veränderte Anforderungen für die Koordination von sozialpolitischen Akteuren und unternehmerischen Akteuren, was insbesondere zu neuen Organisationsformen des Ehrenamts führt, die stärker als zuvor auf der betrieblichen Ebene angesiedelt sind. Für die Verbändeforschung besonders interessant sind die nachfolgenden Analysen der Auswirkungen des Ökonomisierungsprozesses auf verschiedene Dimensionen der Arbeits- und Personalsituation. Hier bestätigen sich viele bislang nur allgemein vorliegende Befunde, bspw. der anhaltende Anstieg des Personalbestandes bei gleichzeitiger deutlicher Veränderung der Beschäftigungszeiten, insbesondere hin zu Teilzeitarbeit. Empirisch nachzeichnen kann der Autor aber auch bislang nur allgemein behauptete Tatbestände mit Blick auf die Entgeltentwicklung und die Personalkosten. Es besteht hier ein nachweisbarer Zusammenhang zwischen den Verschiebungen im Entgeltsystem und dem Rückgang der Personalkosten für die AWO SH, ein Tatbestand, der in der aktuellen Diskussion um die Tarifentwicklung in sozialen Diensten insbesondere von den Unternehmensverbänden der Spitzenverbände geleugnet wird. Belegen lassen sich auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Entwicklung der Einrichtungen der AWO mit entsprechenden Folgen insbesondere für die schlechter bezahlten Tätigkeiten, die überwiegend von Frauen ausgeübt werden.
Die Restrukturierungsprozesse in der AWO verlangen den Beschäftigten auf verschiedenen Ebenen eine verstärkte Anpassungsbereitschaft ab – so das Resümee von Jan Wulf-Schnabel. Zugleich – und das ist kein Widerspruch – wird den Arbeitenden auch eine erhöhte Autonomiefähigkeit bei der Aufgabenerfüllung abverlangt, weil institutionelle Steuerungsebenen wegfallen. Schnabel interpretiert diese Verschiebungen als Ausdruck einer Neuordnung des Sozialen. Die AWO muss einerseits den Imperativen des Ökonomisierungsprozesses Folge leisten und dessen Maximen in das eigene Selbstverständnis integrieren, zum Anderen ist sie aber selbst Akteur und Produzent dieses Ökonomisierungsprozesses, sie muss die organisationsinternen Aufteilungen von Haupt- und Ehrenamt neu koordinieren und dies hat grundlegende Auswirkungen auf die Aufgaben und Arbeitsgebiete der Professionellen. In den nachfolgenden Kapiteln beschreibt der Autor auf der Basis qualitativer Interviews unterschiedliche Dimensionen dieser Auswirkungen mit Blick auf Arbeitszeit, Arbeitsorganisation, Belastungen und Kompensationen. Besonders interessant sind hier auch die empirischen Untersuchungen zu den Folgewirkungen für Ehrenamtliche jenseits des verstellenden Blicks auf die Normativität des sog. Bürgerschaftlichen Engagements.
Das Buch endet mit einem Fazit, dass die widersprüchlichen Auswirkungen des Ökonomisierungsprozesses zusammen fasst: es kann keine Rede davon sein, dass mittels Wettbewerb und betriebswirtschaftlicher Steuerung eine effiziente Organisation in der Sozialen Arbeit hergestellt worden sei, vielmehr entwickeln die beteiligten Akteure eigensinnige Rationalitäten, die sich reinen Instrumentalisierungen entziehen und anderen Handlungslogiken folgen. Der Autor plädiert deshalb für ein partizipatorisches Sozialmanagement professioneller Organisationen Sozialer Arbeit, was sich primär daraus begründet, dass die Wohlfahrtsverbände auf ein professionelles Management Sozialer Arbeit angewiesen sind, was – und hier kann man dem Autor nur zustimmen – diesen Organisationen eine stärkere politische Rolle zuweist und abverlangt als dies in der Vergangenheit der Fall war.
Diskussion
Das vorliegende Buch ist aus einem Dissertationsprojekt heraus entstanden. Demzufolge sind die theoretischen Begründungen in einen breiten Kontext gestellt, der auf die Subjektivierungsthese fokussiert ist, weshalb aber auch andere wichtige Argumentationslinien vernachlässigt werden (bspw. die Rolle des Staates im Ökonomisierungsprozess). Auch wäre es an der ein oder anderen Stelle von Vorteil gewesen, wenn der Autor bereits vorliegende Daten und Studien über die Freie Wohlfahrtspflege (bspw. Entwicklung der Tarifstruktur im Sozialsektor, geschlechtsspezifische Besonderheiten der Personalsituation, Organisationsprozesse in der Wohlfahrtsverbände) im Zusammenhang mit seiner Argumentation herangezogen hätte.
Das Buch zeichnet sich dadurch aus, dass es dem Autor gelingt, die These der „gefangenen Subjektivierung“ auf Basis eines konkreten Organisationsentwicklungsprozesses zu verdeutlichen und die Folgen für die Soziale Arbeit aufzuzeigen. Die im Rahmen des konkreten Forschungsprozesses gewonnenen Erkenntnisse enthalten in vielen Dimensionen Einsichten, die für die gesamte Verbände- und Sozialarbeitsforschung von Bedeutung sind und zukünftig nicht ignoriert werden sollten. Es gelingt dem Autor nicht nur zu verdeutlichen, dass die Ökonomisierung Sozialer Arbeit konkrete Auswirkungen auf alle Dimensionen des Arbeitsprozesses hat, er zeigt auch die widersprüchlichen und keineswegs stromlinienförmigen Reaktionen der verschiedenen handelnden Akteure im Rahmen einer solch grundlegenden Restrukturierung.
Fazit
Ein empfehlenswertes Buch für alle in Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit Tätigen, die durch diese Studie ihre Kenntnisse über theoretische und praktische Dimensionen des Ökonomisierungsprozesses nicht nur erweitern können, sondern zugleich auch fundiertes empirisches Material geliefert bekommen, wie grundlegend die Veränderungen in den sozialen Diensten und in der Sozialen Arbeit bereits fortgeschritten sind. Angesichts der gesellschaftspolitischen wie aber auch wirtschaftlichen Bedeutung dieses Arbeitsfeldes (bspw. hinsichtlich sozialstaatlicher Grundsatzfragen und des Genderproblems, in arbeitsmarktpolitischer Hinsicht wie als Segment sozialwirtschaftlicher Dienstleistungserbringung) ist es erschreckend, wie wenig bislang über die Produktionsbedingungen Sozialer Arbeit geforscht wird. Dieses Buch hilft eine Lücke zu schließen.
Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Dahme
Jg. 1949, Professor für Verwaltungswissenschaft am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule Magdeburg-Stendal
Forschungsschwerpunkte: Kommunale Sozialverwaltung und soziale Dienste.
Website
Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt
Professor i.R. für Sozialmanagement, Verwaltung und Organisation am Fachbereich Sozialarbeit der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe Bochum
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Zitiervorschlag
Heinz-Jürgen Dahme, Norbert Wohlfahrt. Rezension vom 25.01.2011 zu:
Jan Wulf-Schnabel: Reorganisation und Subjektivierungen von sozialer Arbeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2011.
ISBN 978-3-531-17775-5.
Reihe: Perspektiven kritischer sozialer Arbeit - Band 10.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10736.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.
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