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Michael Gehler (Hrsg.): Die Macht der Städte

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 31.01.2011

Cover Michael Gehler (Hrsg.): Die Macht der Städte ISBN 978-3-487-14481-8

Michael Gehler (Hrsg.): Die Macht der Städte. Von der Antike bis zur Gegenwart. Georg Olms-Verlag (Hildesheim) 2011. 780 Seiten. ISBN 978-3-487-14481-8. 88,00 EUR.
Reihe: Historische Europa-Studien - Band 4.

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Das Janusgesicht der Städte

Dass die antiken Philosophen die polis, die Stadt, mit dem Staat gleichsetzten, hat mit der Bedeutung zu tun, die etwa Aristoteles dem menschlichen Lebewesen als zôon politikon, als politischem Lebewesen zuspricht, das als sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen in der Lage und darauf angewiesen ist, in Gemeinschaften zusammen zu leben. An eine weitere antike Betrachtung ist zu erinnern, dass nämlich die Menschen, die sich in Staaten (Städten) zusammen finden, dies um des guten Lebens willen tun. Wenn Alexander Mitscherlich (1965) von der „Unwirtlichkeit der Städte“ spricht und damit zur Gegenwehr gegen die herrschenden, kapitalistischen, ökonomischen und spekulativen Denkweisen der Städteplaner aufruft und zur Neuordnung des Grund- und Bodenbesitzes auffordert; oder wenn Oscar Niemeyer (1999) kritisiert, dass Brasilia sich aufgrund der Ungerechtigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft zu einem unmenschlichen Moloch entwickelt habe, „unmenschlich, kalt, unpersönlich und letztlich leer“; das Gegenteil von einer „menschlichen Stadt“, die er, zusammen mit Lucio Costa zwischen 1957 und 1960, geplant und gebaut habe, wird schon deutlich, dass Stadtentwicklung ein immanent wichtiger, gesellschaftlichen Prozess ist.

Bei der von den Vereinten Nationen organisierten Habitat-Konferenz von 1996 in Istanbul wurde das schwärzeste Bild einer katastrophalen Entwicklung der Megastädte weltweit gemalt; und in den Gated Communities separieren sich die Wohlhabenden von den Habenichtsen überall in der Welt durch Alarmanlagen, Zäunen, Mauern, Kameraüberwachung und bewaffneten Sicherheitskräften. Einher geht mit der Wucherung der urbanen Siedlungen die Kommerzialisierung, Wertschöpfung und Motorisierung der Innenstädte und damit die Entvölkerung der Geschäftsviertel nach Ladenschluss, wie das unkontrollierte Anwachsen der Slums und Bidonvilles an den Rändern, verbunden mit Kriminalisierung, unmenschlichen Wohn- und Lebensverhältnissen der Menschen. Die Magnetwirkungen, die von den Städten als Arbeitsplätze, Verdienstmöglichkeiten und Unterhaltung auf die Menschen ausgehen, hat, vor allem in den Entwicklungsländern und Regionen des Südens der Hemisphäre, zur Landflucht geführt und damit zur Verödung und Wertminderung der ländlichen Gebiete.

Die Entwicklung der Städte als Zentren des Geistes, des technischen Fortschritts, der Verlockungen, Versprechen und Triebfedern von Kreativität, Handel und Kommunikation, wie sie ursprünglich entstanden, hat sie ins Unkontrollierbare anwachsen lassen, und aus den „organischen Einheiten“ wurden „unbarmherzige Monotonieorte“. Die vielfältigen Versuche der Stadtplaner und Bevölkerungspolitiker, die urbanen Orte für die Menschen und nicht für den Kommerz und die Maschinen zu errichten, sind bisher (fast immer) gescheitert. Überall, selbst in Städten, die in der Geschichte der Menschheit sich als Metropolen des friedlichen und harmonischen kulturellen und multikulturellen Zusammenlebens der Menschen entwickelt haben – Tanger, New York, Bombay, Marseille, La Paz, Vancouver, Fez und andere – zeigen sich die zwei Gesichter von Menschlichkeit und Unmenschlichkeit. Die fortschreitende Verstädterung der Welt – zu Beginn des dritten Jahrtausends werden auf der Erde mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Städten leben – wird zu zahlreichen Ballungszentren, Megastädten, Metropolen und Agglomerationen von 30 Millionen und mehr Bewohnern führen, mit all den Folgen, die bereits heute in vielen urbanen Gebieten zu besichtigen und zu erleben sind: Die Menschen ersticken in schlechter Luft, ertrinken im Müll und verdursten zugleich aufgrund steigender Trinkwasserknappheit“ (FAZ vom 10.6.1996).

Entstehungshintergrund und Herausgeber

In der eher beschaulichen und überschaubaren (kleinen) Großstadt in Hildesheim, zwischen Hannover – Braunschweig – Hamburg gelegen, gibt es eine rührige und innovative Stiftungsuniversität. Ursprünglich aus einer Pädagogischen Hochschule entstanden, hat sie sich kontinuierlich zu einer renommierten Hochschule mit einer Reihe von Kompetenzinitiativen (wie etwa der Einrichtung des Weltmusikzentrums, den Instituten für Kulturpolitik, bildender Kunst und Kunstwissenschaft, Medien und Theater, interkulturelle Kommunikation und kreatives Schreiben und Literaturwissenschaft, Übersetzungswissenschaft und Fachkommunikation, um nur einige Institute zu nennen) entwickelt. Auch das Institut für Geschichte gehört dazu, das seit 2006 von Michael Gehler geleitet wird. Der Professor für Neuere und Neueste Deutsche und Europäische Geschichte, Jean Monnet-Chair für vergleichende europäische Zeitgeschichte und Geschichte der europäischen Integration, hat bereits mehrfach durch seine Forschungen und Initiativen die Fachwelt auf sich aufmerksam gemacht (vgl. dazu: Michael Gehler / Silvio Vietta, Hrsg., Europa - Europäisierung - Europäistik. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, Böhlau Verlag, Wien 2009, in: socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/9268.php). In mehreren Semestern, von 2007 bis 2008, wurde vom Institut, in Zusammenarbeit mit dem „Center for life long learning im Zentrum für Fernstudien und Weiterbildung, mehreren Instituten der Universität Hannover und dem Stadtarchiv von Hildesheim, Ringvorlesungen und öffentliche Vorträge zum Thema „Macht der Städte“ gehalten. Der Fragehorizont richtete sich dabei zum einen auf die Entwicklung der europäischen Städte angesichts der „historischen Betrachtung von Nationen und Staaten wie auch angesichts des Bedeutungszuwachses der Regionalorganisationen“; zum anderen sollte ein Bogen von der Antike bis zur Gegenwart mit der Frage gespannt werden, welche Einflüsse „die Macht und die Stellung einer Stadt in ihrem Aufstieg und Niedergang“ bestimmten, „welche Ereignisse ( ) den Machteinfluss einzelner Städte vergrößert oder sie aber in Mittelmäßigkeit zurückgeworfen (haben)“, sowie „welche Perspektiven ( ) die Stadt als Lebens- und Machtraum (hat(te)“.

Aufbau und Inhalt

Das umfangreiche, in der gewohnten professionellen Qualität des Hildesheimer Olms-Verlags gedruckte Buch wird in acht Kapitel gegliedert:

  1. Städte von der Antike bis zur Gegenwart.
  2. Hansestädte im historischen und aktuellen Kontext.
  3. Stadtentwicklung vom Mittelalter bis in die Neuzeit.
  4. Stadt und Religion.
  5. Hildesheim und Hannover im Vergleich.
  6. Metropolstädte Europas.
  7. Städte im Vergleich.
  8. Städte im historischen und aktuellen Mächtekontext – Städte in geschichtlicher Erinnerung.

Im ersten Kapitel referiert der Hannöversche Historiker Horst Callies (em.) über „Die Stadt in der Antike – Europas Erbe“. Dabei zeigt er die Entwicklung der „polis“ – Idee von Griechenland über Rom als eine „Stadt der Bürger“ auf, mit Formen von Selbstverwaltung und Steuereintreibung, freilich auch einer kaum als demokratisch zu bezeichnenden Ordnung der Herrschenden zu den Beherrschten; aber auch Unterschiede im Vergleich zu den in Europa üblichen Formen der städtischen Selbstverwaltung.

Auch der Historiker Carl-Hans Hauptmeyer aus Hannover informiert, wie sich die „europäische Stadt – von der Spätantike bis ins 21. Jahrhundert“ entwickelt hat. Dabei wird deutlich, „dass die sich zur gegenwärtigen Moderne hin öffnende Stadtgeschichte in Europa mit einem Zeitraum von circa 1000 Jahren vergleichsweise kurz“ bemessen ist. Am Beispiel von so genannten „gewachsenen Städten“, wie etwa Nördlingen, Soldin, von Residenzstädten wie z. B. Karlsruhe, von durch die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert sich entwickelnde städtische Regionen, wie etwa Barcelona, Berlin und durch die Globalisierung entstehenden weltweiten Wirtschaftszentren und Megastädten in Asien, Lateinamerika, Afrika, aber auch New York, London, Tokio, weist der Autor nach, dass „die europäische Stadt Motor für ökonomische Entwicklung, kulturelle Vielfalt und Demokratie geworden“ ist.

Das zweite Kapitel beginnt der Lübecker Archivar Jan Lokers, indem er über „die Hanse – Von der Kaufmannslust zum Städtebund“ informiert und sich damit auseinandersetzt, was die Hanse war, wie sie entstand, worauf sich ihre Macht gründete und warum dieser Städtebund endete. Dabei setzt er sich damit auseinander, dass sich die Macht der Hanse nur in der mittelalterlichen Situation und des Zeitgeistes entwickeln konnte und nimmt kritisch Stellung zu den verklärerischen und nostalgischen Versuchen, den Städte- und Machtbund als ein Beispiel für ein vereintes Europa zu etablieren.

Die Historikerin und Lehrbeauftragte am Historischen Seminar der Leibnitz-Universität Hannover, Annette von Boetticher, nimmt den kritischen Faden von Jan Lokers mit ihrem Beitrag „Hanse und Hansestädte – Vom mittelalterlichen Städtebund zur Neuen Hanse Interregio“ auf. Es seien die vielfältigen Wirtschafts- und Rechtspositionen, die von der „traditionellen“ Hanse bis auf heutige städtische, regionale und supranationale Politik wirken, die es lohnen, bei den Bemühungen um den europäischen Zusammenschluss den wirtschaftlichen und kulturellen Erfahrungsschatz der Hanse einzubeziehen. In diesem Zusammenhang informiert sie über die Gründungen von zwei Initiativen – „Die Hanse“, die von der niederländischen Hansestadt Zwolle initiiert wurde, und die „Neue Hanse Interregio“, des im Rahmen der Euregio-Initiativen der EU entstandenen Kooperationsverbundes Bremen und Niedersachsen mit den niederländischen Provinzen Drenthe, Friesland, Groningen und Overijssel.

Im dritten Kapitel setzt sich der Osnabrücker Historiker und Vorsitzende der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Thomas Vogtherr, mit dem Stadtrecht in Nordwestdeutschland auseinander: „Die Stadt und ihr Recht“. Er erinnert daran, dass die Erforschung der Stadtgeschichte ein typisch deutsches Thema und eine Domäne der Rechtshistoriker sei. Er arbeitet die Unterschiede zwischen Stadt- und Landrecht heraus und betrachtet dabei die verschiedenen Organisationsformen, Machtkonstellationen und politischen Entwicklungen an der gegenseitigen Bedeutung der Rechtssprüche: „Stadtluft macht frei“ und „Landluft macht eigen“. Es ist das Recht, das die Funktion und die Macht der mittelalterlichen Städte bestimmte, und zwar sowohl als Wirkung auf die Menschen, die in der Stadt leb(t)en, als auch in der Struktur und den Wirkungen über die Stadtmauern hinaus, im positiven, freiheitlichen, wie im negativen, unfreiheitlichen Sinne. Der Autor warnt davor, „die mittelalterliche Stadt zu einem Idealbild für die Gegenwart zu stilisieren“.

Annette von Boetticher greift mit ihrem Beitrag „Niedersächsische Städte im Mittelalter und der Frühen Neuzeit – Besonderheiten und Ausblick“ erneut in den Diskurs ein . Von Wolfenbüttel als „geplante Idealstadt“ bis zur „Universitätsstadt Helmstedt“ zeigt die Autorin an der stadt-, bevölkerungs- und kulturgeschichtlichen Entwicklung von Goslar, Lüneburg, Celle, Hannover, Braunschweig und Hildesheim die Prozesse der Stadtentwicklung auf und setzt sich mit den je unterschiedlichen Stadtpolitiken und Trends auseinander, eine Balance zwischen den historischen, mentalen und sentimentalen „Erinnerungen“ und den zeitgemäßen Erfordernissen zum Zusammenschluss in Metropolregionen zu finden.

Der geschäftsführende Gesellschafter des Hamburger Instituts für Firmen- und Wirtschaftsgeschichte, Sven Tode, stellt in seinem Beitrag „Stadt und Raum“ Überlegungen zum Stadt-Land-Verhältnis in der Frühen Neuzeit am Beispiel des Bauernkrieges an. Er setzt sich mit den unterschiedlichen, die Historiografie beeinflussenden wissenschaftlichen Definitionen des Begriffs „Stadt“ auseinander und macht dabei deutlich, dass es die administrativ-politischen, die kultisch-kulturellen und die ökonomischen Aspekte sind, die die Unterschiede zwischen „Ackerbürger“ und „Stadtbürger“ ausmachten und, am Beispiel des Bauernkrieges verdeutlicht, dass „die Abgrenzung der Stadt vom Land …in der rechtlich, kulturell-konfessionell und vor allem funktional-räumlich wie topographisch verfassten Lebenswelt der frühneuzeitlichen Stadt-Bürger und Land-Bauern… wirkungsmächtig genug, um eine soziale Bewegung …scheitern zu lassen“.

Der Bamberger Historiker Mark Häberlein referiert über die „oberitalienischen und die oberdeutschen Städte im Zeitalter der Renaissance“, indem er ihre Beziehungen, Einflüsse und Wechselwirkungen darstellt. An zahlreichen Beispielen macht er auf die Kontakte zwischen den Städten, sowohl als „Kultur-Importe“ wie als „Re-Importe“, sowohl in den Handelsbeziehungen, als auch der Handwerker- und Künstlerwanderungen und als Wissenstransfer durch Studienaufenthalte, aufmerksam und fragt, inwieweit die transalpinen Verbindungen, etwa von Florenz und Venedig nach Augsburg, auch Auswirkungen auf republikanisches Gedankengut gehabt haben.

Der Hannöversche Historiker und langjährige Vorsitzende im Beirat für Gedenkstättenarbeit des Landes Niedersachsen, Herbert Obenaus, spricht über „Wanderungsbewegung, Urbanisierung und städtische Macht im 19. Jahrhundert“. Bevölkerungswachstum und Industrialisierung bewirkten eine Binnenwanderung, die als „größte Bevölkerungswanderung der deutschen Geschichte“ bezeichnet werden könne. Die städtebaulichen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen und Folgen verdeutlicht der Autor am Beispiel Hannovers. Diese „städtische Atmosphäre“, die durch die urbane Trennung von Arbeit und Wohnung sichtbar wurde, verstärkte sowohl die verbindenden, als auch die trennenden Elemente der verschiedenen sozialen Schichten in der Stadt.

Der Promotionsstudent an der Universität Rostock, Marko Gebert, stellt an seinem Forschungsthema „Von der Festungsstadt zur Großstadt – Die Entwicklung Kölns in der Zeit von 1815 bis 1930“ dar. Er diskutiert die verschiedenen Phasen der Entwicklung, von der preußischen Inbesitznahme von 1815 bis 1870, dann bis zum Ersten Weltkrieg und schließlich bis 1933, wobei er die unterschiedlichen Mentalitäten, Meinungen und Machtpositionen der Herrschenden in Beziehung setzt zu den Ohnmächten der Beherrschten und einen Bogen spannt von den Wirkungen des preußischen Militärs auf die Stadtentwicklung hin zu der Amtszeit des Oberbürgermeisters Dr. Konrad Adenauer.

Axel Priebs, Geograph und als Honorarprofessor an den Universitäten Hannover und Kiel tätig, setzt sich mit Suburbanisierungsprozessen auseinander, wie sie die „europäische Stadt im Wandel“ nicht nur durch Macht- und Einflusssphären in den sich bildenden Metropolregionen zeigt, sondern auch durch Konflikte bestimmt und durch Konfliktmanagement bei der Planung, Etablierung und Koordinierung beeinflusst werden kann. Der Autor zeigt einen siedlungsstrukturellen Gestaltungsbedarf in den Stadtregionen auf, der sich in der Spannweite von Idealbildern einer bewahrten Stadt, einer Stadt der kooperierenden Zentren, der ausgelaugten Stadt, bis hin zu einer Stadt der künstlerischen Welten bewegt.

Der Demographie- und Anthropogeograph Bernhard Köppen stellt in seinem Beitrag „Ohne Einwohner keine Stadt: Die Hoffnungsformel ’Reurbanisierung’ für die deutschen Städte zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ die Möglichkeiten und Schwierigkeiten dar, die sich im Reurbanisierungsdiskurs für die Städte zeigen und in Programmen wie „Wohnen in der Innenstadt“ propagiert werden. Er diagnostiziert eine „neue Unübersichtlichkeit“ bei der Stadtentwicklung, indem die Trends hin zur Urbanisierung eher egoistisch denn politik-systematisch betrieben wird, weder die Probleme im Blick zu haben, die sich aus einer anhaltenden Suburbanisierung ergeben, noch zu bedenken, dass eine „Reurbanisierung nur davon lebt…, ihr Umland demographisch leerzufegen“.

Im vierten Kapitel „Stadt und Region“ werden die vielfältigen Aspekte in diesem Spannungsverhältnis diskutiert. Imke Scharlemann vom Institut für Geschichte der Hildesheimer Universität, zeigt am Beispiel der Bettelorden auf, wie sich ihre Ansiedlungen, ihre Tätigkeiten und ihr Ansehen in der mittelalterlichen Stadt darstellten. Es sind die Franziskaner, Dominikaner, Karmeliter und Augustiner-Eremiten, deren Geschichte und Ansiedlung in der Stadt die Autorin untersucht und herausarbeitet, welche positiven Wirkungen für die soziale Fürsorge, für Seelsorge und Studium die Bettelmönche ausübten, aber auch welchen Widerständen sie ausgesetzt waren.

Der Historiker und Romanist, Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim, Peter Müller, formuliert mit seiner Frage „Reformation oder Revolution in norddeutschen Städten?“ Überlegungen für ein Forschungsprojekt, das im besagten Spannungsverhältnis bisher historiografisch wenig bearbeitet ist. Stellt die Einführung der Reformation eine Zäsur auch in der Entwicklung von Städten dar? Es ist zu wünschen, dass die interessante Projektabsicht, die sich im Vergleich von historischen Abläufen der Einführung der Reformation in den Städten Braunschweig, Bremen, Goslar, Göttingen, Hamburg, Hannover, Hildesheim und Lüneburg vollziehen soll und neben der geschichtlichen Erkenntnisse über die Motive und Vorgehensweisen insbesondere der Handlungsträger, auch die Frage danach stellen will, „warum die Gedanken der Reformatoren in den Städten so starke Wirkung hatten, dass sie in nur wenigen Jahren eine jahrhundertealte Ordnung stürzen konnten“, realisiert werden kann.

Der Theologe und Leiter des Landeskirchlichen Archivs Hannover, Hans Otte, fragt: „Mehr Kirchen?“, indem er über die Auseinandersetzungen in der lutherischen Stadt Hannover informiert. Sollen, so lässt sich vielleicht kurz fragen, die Gläubigen in die (Prediger-)Kirche kommen, oder soll die Kirche zu den Gläubigern gehen, also Kirchengebäude errichtet werden außerhalb der (Markt-)Kirche? Die Vertreter eines orthodox-erwecklichen und eines liberalen Modells stritten darüber heftig miteinander; doch die Hannoversche Geistlichkeit und Kirchenführung, die in der Parochialkirche mit der Schlüsselrolle des Pfarrers die erstrebenswerte pastorale Lösung vertraten, setzte sich, im Vergleich mit Entwicklungen in anderen Städten und Regionen, die mit dem Vereinsmodell andere Wege gingen, durch.

Das fünfte Kapitel geht auf die historischen Auseinandersetzungen ein, die sich in vielfältigen Formen, mächtigen Standortbestimmungen und teilweise obskuren Ausprägungen über Jahrhunderte zwischen den Städten Hannover und Hildesheim vollzogen und nach wie vor aktuell ereignen. Der Hildesheimer Archivdirektor und Honorarprofessor der Universität Hildesheim, Herbert Reyer, stellt die Frage Nietzsches, was geschehen wäre, wenn das und das nicht eingetreten wäre, an den Anfang seiner Untersuchungen über „Hildesheims Bedeutungswandel von der mittelalterlichen Metropole zur Kreisstadt von heute“. Die unterschiedlichen, historischen Entwicklungen der „Stadtwerdung“ der beiden (ungleichen) Städte, die sich in „Hildesheims Niedergang und (dem) Aufschwung Hannovers“ darstellten, haben zwar Hildesheim den über Jahrzehnte hin diskutierten, abgewehrten und schließlich vollzogenen Verlust des Status einer Bezirkshauptstadt gekostet und Hannover erhalten, jedoch die (nicht offizielle, „gefühlte“) Benennung Hildesheims als die „heimliche kulturelle Hauptstadt Niedersachsens“ gebracht – natürlich nicht anerkannt und misstrauisch beäugt von den Städten Hannover, Braunschweig…

Der Leiter des Hannöverschen Stadtarchivs (bis 2010), Karljosef Kreter, öffnet die Bestände des Archivs und gibt Auskunft, wie Hannover Landeshauptstadt wurde, wobei er, gewissermaßen Reyer antwortend, die „(Un-) Gleichzeitigkeiten mit Blick auf Hildesheim“ darstellt. Zu den vielfältigen Quellenmaterialien, die der Autor heranzieht, um die Entwicklung Hannovers vom Dorf zur Stadt, „ein Ort am Weg zwischen Hildesheim und Bremen“, aufzuzeigen, gehört auch die „Ebstorfer Weltkarte“, die in den Ausmaßen von 3,50 x 2,92 Metern (das Original ist 1943 in Hannover bei einem Bombenangriff verbrannt; es sind jedoch Reproduktionen vorhanden) die mittelalterliche Weltsicht abbildete. Der Autor zeichnet die vier Entstehungsphasen Hannovers nach und weist, nicht ohne mit den mahnenden Zeigefinger auf Gottfried Wilhelm Leibniz’ Aussage verweisend, „eine Hauptstatt … die jenige statt zu nennen, die den grösten nutzen im Lande hat, und hingegen wiederumb dem Land den grösten nutzen bringt“.

Im sechsten Kapitel werden ausgewählte Metropolstädte Europas vorgestellt. Der Wiener Historiker Georg Rigele zeigt in seinem Beitrag „Von der kaiserlichen Residenzstadt zur roten Metropole“ die Entwicklung der österreichischen Hauptstadt von der Gründerzeit bis zur Gegenwart auf. Er lässt mehrere Phasen Revue passieren, von der „Macht der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt“, über „Wien als Bevölkerungsmagnet“ dem „Machtverlust, Flüchtlingselend, blanke Not“ während des Ersten Weltkriegs, dem „Glanz und Scheitern des Roten Wien“ zwischen 1919 und 1934, „Wien als ’bundesunmittelbare’ Stadt“, „Wien im Nationalsozialismus“, als „Bundeshauptstadt und sozialdemokratische Stadtverwaltung in der Zweiten Republik“, und schließlich der Bedeutungszuwachs Wiens durch den „Fall des Eisernen Vorhangs und europäische Integration“, mit einer richtungsweisenden Dreieckskonstellation Wien – Budapest – Prag.

Der Prager Historiker Jiří Pešek informiert über „Macht in der Stadtgeschichte Prags: Von der Gründung der Prager Karls-Universität bis zur Gegenwart“, indem er die historischen Verläufe der Stadtentwicklung von der Zeit des böhmischen Königs und römischen Kaisers Karls IV. im 14. Jahrhundert, über die Zeit der Habsburger, den Wirrungen im Dreißigjährigen Krieg, dem „Versinken Prags in die Provinzialität“ durch die fatalen Folgen des österreichischen Erbfolgekriegs und der Kriege mit Preußen, dem Wiederaufstieg als das „goldene slawische Prag“ Ende des 19. Jahrhunderts, den Auswirkungen der nationalsozialistischen Besatzung und der Befreiung durch die Rote Armee, der gewaltsamen Beendigung des „Prager Frühlings“ 1968, bis hin zu der längst nicht vollzogenen europäischen Integration, eingeht. Dieses Wechselspiel von Macht und Ohnmacht, Beherrschung und Verfall lässt sich, so der Autor auch heute „als eine stabile Funktion in der Geschichte Böhmens, Tschechiens und Mitteleuropas“ deuten.

Im siebten Kapitel wird ein Vergleich zwischen verschiedenen Städten im gleichen Raum und zur gleichen Zeit vorgenommen. Der Würzburger Landeshistoriker Helmut Flachenecker stellt in seinem Beitrag „Zwei verschiedene Welten in Franken“ dar – Nürnberg und Würzburg zwischen Reichs- und Regionalbindung. Weil ein geographischer Raum erst durch menschliches Planen und Erfassen zu einem Ort der Herrschaft und der Inbesitznahme wird, gehören Zentrum, also Stadt, und Peripherie dazu, um einen Mittelpunkt bilden zu können. Die Bischofsstadt Würzburg und die Reichsstadt Nürnberg haben im Mittelalter je unterschiedliche territoriale Ordnungen ausgeprägt, die von den jeweiligen Herrschaften bestimmt waren. Diese geschichtlichen Entwicklungen brachten auch unterschiedliche Blickwinkel und Mentalitäten bei den Stadtbürgerschaften zutage, die heute noch spürbar und wirksam sind.

Die österreichische Wissenschaftsautorin Bettina Gartner stellt mit der These, dass sich die Weltgeschichte an jedem Ort anders abspiele, eine Fallstudie der Geschichtsschreibung von Städten am Beispiel von „Bruneck (Südtirol) und Weißenburg (Elsass) in der Zwischenkriegszeit“ vor. Die Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg zwischen Österreich und Italien, sowie Deutschland und Frankreich beruhten auf unterschiedlichen, mentalen und emotionalen Unterschieden: „Alle Bestrebungen und Bemühungen, die von staatlicher Seite unternommen wurden, um die gewonnenen Gebiete zu assimilieren, fanden in Südtirol gegen den Willen der Betroffenen, im Elsass mit ihrer grundsätzlichen Übereinstimmung statt“. Die verschiedenen Ausgangspositionen haben ohne Zweifel Auswirkungen auf Akzeptanz oder Widerstand, und nicht zuletzt auch auf die kulturelle und nationale Identität der Menschen.

Im achten und letzten Kapitel werden Fragen und Probleme von ausgewählten Städten im historischen und aktuellen Mächtekontext diskutiert und nach den geschichtlichen Erinnerungen gefragt. Der Historiker Hans Heiss, Abgeordneter des Südtiroler Landtags und Lehrbeauftragter an den Universitäten Bari, Trient, Innsbruck und Hildesheim, diskutiert am Beispiel der Stadt Bozen / Bolzano Aspekte der „Europäische(n) Stadt der Übergänge“ im 20. Jahrhundert. Angesichts der rasanten Veränderungen, wie sie sich in der Urbanisierung des 21. Jahrhunderts, hin zu riesenhaften Agglomerationen und Megastädten darstellen, sind Fragen bedeutsam, wie sich die „europäische Stadt“ in ihrer Entwicklung verändert hat. Die verschiedenen Phasen von gewaltsamen und gewaltlosen, gelingenden und scheiternden Formen von Integrationsbemühungen, bis hin zum „kleinen Südtiroler Mauerfall von 1989“, können ein Exempel sein für eine nachhaltige und zukunftsträchtige Entwicklung im regionalen und globalen Rahmen.

Die Politikwissenschaftlerin an den Universitäten Marburg und Hildesheim, Andrea Fleschenberg, Süd- und Südostasien-Expertin, analysiert in ihrem Beitrag „(0hn-)Macht und Mächte in Kabul“, wie sich in diesem historischen Schmelztiegel unterschiedlicher Völker, Kulturen und Religionen die verschiedenen historischen, sozialen, kulturellen und politischen Herausforderungen in der afghanischen Hauptstadt heute darstellen und von der Bevölkerung wahrgenommen werden. Denn trotz der vielfältigen internationalen Hilfs- und Aufbaumaßnehmen zeigt der Human Poverty Index, der den Anteil der Armut in einem Land misst, dass Afghanistan an der Spitze der am stärksten von Armut betroffenen Länder liegt. Die Anwesenheit der zahlreichen internationalen Organisationen, Botschaften und Schutztruppen haben zu einem Preisanstieg für Lebensmittel, Dienstleistungen, Mieten und Grundstückspreisen und einer erhöhten Nachfrage nach Wohnungen, Häusern und Bürogebäuden geführt, die das traditionelle Gleichgewicht von Wohlhabenheit und Armut in der Bevölkerung ins Extreme zerrissen hat: „Als Fahrer einer Nichtregierungsorganisation verdient man … monatlich um ein Vielfaches mehr als ein Universitätsprofessor“. Die Arbeitslosenrate liegt bei rund 40%; die Altstadt platzt aus allen Fugen, die Slumgebiete an den Rändern der Stadt wachsen; die hochfliegenden Pläne zum Bau einer Trabantenstadt im Nordosten Kabuls für mehrere hunderttausend Zuwanderer aus den ländlichen Gebieten stellen für die Betroffenen keine Hoffnung dar. Die Bauvorhaben im Kabuler Stadtviertel „Shirpur (Löwenkind) werden von der Bevölkerung mittlerweile mit „Shirckoor“ (geplündert von Löwen) bezeichnet.

Zum Abschluss des Tagungsbandes reflektiert Michael Gehler in seinem Beitrag „Von Babylon bis New York“ die Bedeutung der Städte als historische Gedächtnis- und Merkorte für die Geschichtsvermittlung. Er greift dabei die Auffassung auf, dass es nicht möglich sei, das individuelle Gedächtnis des Menschen vom sozialen Gedächtnis zu trennen. Im kollektiven Gedächtnis der Menschen nehmen insbesondere stadtgeschichtliche Bilder, wie etwa Babylon, als eine Stadt angeblicher Sittenlosigkeit und Untugend, eine besondere Bedeutung ein; ebenso griechische Städte, wie Olympia und Athen, als Städte sportlicher Leistung und Legenden; oder San Francisco als von permanenter Zerstörung durch Erdbeben bedrohten Stadt; Florenz, als die Stadt der Kultur und der schönen Künste, der Moskauer Kreml als Macht- und Augsburg als Handelszentrum, Paris als Stadt der Revolution, Konstantinopel als Herrschaftsort, das zerstörte Dresden als Orte der Rache der Sieger, Berlin als (koloniale und faschistische) Ordnungsmacht; und schließlich mit dem 11. September 2001 die terroristische Zerstörung der Zwillingstürme des New Yorker World Trade Center. Es sind kollektive Erinnerungsdaten und –orte, die sich für die Geschichtsschreibung und –vermittlung als besonders bedeutsam erweisen und unter bestimmten Kategorien, wie etwa „Städte der Legenden“, „Residenzstädte“, „Weltkulturerbestätten“, „Städte des Terrors“, „Mega- und Weltstädte“, usw., subsumieren lassen.

Fazit

Der umfangreiche Sammelband, entstanden aus einer Initiative von interdisziplinär wirkenden Wissenschaftlern der Universitäten Hildesheim und Hannover, titelt eine historische und aktuelle, kulturelle, gesellschaftliche und politische Tatsache: „Die Macht der Städte“. Die mehr als 20 Autorinnen und Autoren stellen dabei die vielfältigen, zeitgeschichtlichen Entwicklungen, Besonderheiten und Machtverhältnisse in antiken, mittelalterlichen und heutigen Städten dar. Durch Einklang und Differenz der einzelnen Beiträge wird eine wichtige Erkenntnis sichtbar: Stadtentwicklung, historisch und aktuell, ist nicht etwas, was man auf Flaschen ziehen und auf Einheitspläne zeichnen kann; weil Städte, ob als „Orte unter der Burg“, oder als Megazentren, immer Lebensräume für Menschen sind. Die Rezeption und Reflexion darüber, wie Städte entstanden, gewachsen und vergangen sind, ist deshalb für das kollektive Gedächtnis der Menschen, historisch und aktuell, lokal und global, lebens- und überlebenswichtig.

Das Buch ist seinen Preis wert. Zwar wird der Verkaufspreis von 88 Euro die Veröffentlichung nicht zu einem Bestseller machen, und sie wird nicht in allzu vielen Bücherschränken zu finden sein; doch in öffentlichen Büchereien, Schul- und Universitätsbibliotheken sollte das Buch verfügbar sein – zumal der Anspruch, den das Autorenteam erhebt, „eine Mischung von sachkundigen, kompetenten und wissenschaftlichen Beiträgen zur Stadtgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart“ vorzulegen, erfüllt wird. Der Verlag sollte sich durchaus überlegen, das Buch auch als eine preisgünstigere Paperback-Ausgabe anzubieten.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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ISSN 2190-9245