Daniel Bindernagel, Eckard Krüger et al. (Hrsg.): Schlüsselworte. Idiolektische Gesprächsführung [...]
Rezensiert von Dr. Mechthild Herberhold, 15.04.2011
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Daniel Bindernagel, Eckard Krüger, Tilman Rentel, Peter Winkler (Hrsg.): Schlüsselworte. Idiolektische Gesprächsführung in Therapie, Beratung und Coaching.
Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2010.
288 Seiten.
ISBN 978-3-89670-748-2.
D: 29,95 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: Kommunikation.
Thema
Die Sprache eines jeden Menschen ist so einzigartig wie sein Fingerabdruck - diese Annahme liegt der Idiolektik zugrunde. Das Konzept der Eigensprache geht auf den amerikanischen Arzt und Psychotherapeuten A. D. Jonas zurück, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch im deutschsprachigen Raum lehrte. Jonas hat mit seinem Ansatz einen Begriff aus der Linguistik für die Psychologie erschlossen und weitergeführt. Seiner Theorie zufolge spricht jeder Mensch eine ihm ganz eigene unverwechselbare Sprache, in der Aussagen über die Persönlichkeit, die Befindlichkeit, die jeweiligen Probleme und Bewältigungsansätze, das Verhalten und die Beweggründe deutlich werden. Ratsuchende werden als ExpertInnen für ihr eigenes Leben ernst genommen und wertgeschätzt. Aufgabe der beraterisch bzw. therapeutisch Tätigen ist dabei, genau hinzuhören, „an bestimmten Wendungen der Satzstruktur einzugreifen und nachzufragen und – vor allem das Wichtigste in dieser Therapie – sich belehren zu lassen“ (21).
Herausgeber und Autoren
Als Herausgeber zeichnen drei Fachärzte und ein Psychologe mit einer langen Erfahrung und Lehrtätigkeit in Idiolektik verantwortlich. Daniel Bindernagel (Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie), Eckard Krüger (Allgemeinmedizin, Homöopathie und Naturheilverfahren, Psychosomatik, MBSR), Tilman Rentel (Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie) und Peter Winkler (Diplom-Psychologe und psychologischer Psychotherapeut) engagieren sich in der Gesellschaft für Idiolektik und Gesprächsführung und vermitteln die Methode in berufsbegleitenden Ausbildungsgängen. Die Herausgeber haben selbst einen Großteil der Beiträge verfasst.
Weitere Artikel stammen von Horst Poimann (Facharzt für Neurochirurgie, Psychotherapeut, Ausbilder in Idiolektik), Hans Hermann Ehrat (Facharzt für Allgemeinmedizin, Ausbilder in Idiolektik), Andreas Speth (Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ausbilder in Idiolektik), Klaus Renfordt (Pfarrer und Religionslehrer, Graduierter Idiolektik-Gesprächberater) und Thorsten Ellensohn (Betriebsökonom, Wirtschaftstrainer und Coach, Ausbilder in Idiolektik).
Entstehungshintergrund
Die Herausgeber, die sich selbst als „die dritte Generation von ‚Idiolektikern‘“ (7) bezeichnen und seit Jahrzehnten intensiv mit diesem Ansatz befasst sind, legen mit diesem Band nicht nur einen „Querschnitt des gegenwärtigen Wissens der Idiolektik“ (7), sondern gleichzeitig eine faszinierende Einführung in die Methode und ihre zahlreichen Anwendungskontexte vor. Nach wie vor ist dieser Ansatz lediglich einem kleinen Kreis bekannt. Die meisten Beiträge wurden bereits in einer limitierten Vorabpublikation der Gesellschaft für Idiolektik und Gesprächsführung unter dem Titel „Ich spreche, also bin ich. Handbuch der Idiolektik“ (Bindernagel; Krüger; Rentel; Winkler 2008) veröffentlicht. Für die vorliegende Ausgabe wurden die ausgewählten Texte z.T. geringfügig überarbeitet und sind nun über den Buchhandel zugänglich.
Aufbau
Das Werk gliedert sich in zwei Hauptteile. In zehn Beiträgen werden die Grundlagen der Idiolektik (Teil I) vorgestellt. Weitere sieben Beiträge machen mögliche Anwendungsfelder (Teil II) von Allgemeinmedizin über Psychosomatik bis hin zu Seelsorge und Coaching anschaulich. Im Anhang finden sich Anmerkungen zur Ausbildung, ein Verzeichnis der Gesprächsbeispiele, ein Literaturverzeichnis sowie Kurzbiographien der Autoren.
Die Artikel bilden ein buntes Spektrum an Hintergrundinformationen, Anwendungskontexten und Praxisbeispielen.
I. Grundlagen der Idiolektik
Im 1. Beitrag „Die Eigensprache“ (Peter Winkler; David Jonas, 18-26) bekommen die LeserInnen das Konzept der Idiolektik leicht verständlich und anschaulich von Jonas selbst erklärt – Peter Winkler greift hier auf entsprechende Seminartranskripte zurück.
Mit der „Kunst des Fragens“, die gerade für idiolektisch arbeitende TherapeutInnen und BeraterInnen von Belang ist, befasst sich Eckard Krüger im 2. Kapitel (27-46). In diesem Kontext geht es bei Fragen nicht darum, Wissensinhalte zu erfahren, sondern die Ratsuchenden in ihrem jeweils eigenen Ausdruck zu unterstützen. Offene Fragen ermöglichen mehr Freiheit als geschlossene Fragen, die Antwort auf offene Fragen wird somit aufschlussreicher sein. Idiolektische Fragen sind kurz und prägnant, sie greifen die Bildsprache der Klientin/des Klienten auf und orientieren sich an Ressourcen.
Im 3. Kapitel geht Tilman Rentel den beiden Begriffen „Resonanz und Schlüsselworte“ nach (47-55). Wie in der Musik ermöglichen idiolektisch geschulte TherapeutInnen bzw. BeraterInnen mit ihrer „annehmenden Präsenz für die sprachlichem Äußerungen des Gegenübers einen Resonanzboden“ (47). Wenn die Begleitenden das Gesagte nicht auf der Sachebene, sondern wie ein Musikstück hören, d.h. mit Pausen, Rhythmen oder Melodien, dann treten Schlüsselworte durch eine besondere Platzierung, Betonung o.ä. hervor.
Ebenfalls von Tilman Rentel stammt der 4. Artikel zu „Bilder und Metaphern“ (56-68), über die sich „Emotionen, Bedürfnisse, Gedanken, Handlungen, Erinnerungen, Sehnsüchte, Zukunftsvisionen, Schutzfunktionen und Lösungen“ (56) mitteilen. Durch ressourcenorientiertes Fragen und den Einstieg in bildhafte Beschreibungen erscheinen Verbindungen in einem neuen Licht. Hier ist es besonders wichtig, so Rentel, die Formulierung dieser Zusammenhänge den Ratsuchenden zu überlassen.
David Bindernagel stellt in seinem Beitrag „Sprachentwicklung und Idiolektik (5. Kapitel, 69-84) Ergebnisse der Säuglingsforschung, d.h. zur vorsprachlichen Kommunikation vor. Für das idiolektische Gespräch leitet er unter anderem den Appell ab, stärker auf non- und paraverbale Signale zu achten bzw. zu reagieren. Zudem gehe es in der Idiolektik darum, die implizite und die explizite Ebene miteinander zu verbinden, und nicht – wie in den meisten therapeutischen Zusammenhängen üblich – das Implizite explizit werden zu lassen.
Im 6. Kapitel „Umgang mit Hypothesen – die Vogelperspektive“ (85-100) zeigt Peter Winkler auf, dass Hypothesen in der Idiolektik vorhanden und wichtig sind. Sie werden allerdings stets individuell formuliert, gelten in der Regel für den Gesprächsmoment und orientieren sich an den Ressourcen. Aufgabe der Beratenden ist es, Hypothesen in Form von Fragen anzubieten und die Zuständigkeit für Bestätigung oder Ablehnung beim Gegenüber zu belassen.
Wie „Idiolektik und Neurowissenschaften“ zusammenhängen, dieser Frage gehen Daniel Bindernagel und Horst Poimann im 7. Beitrag nach (101-128). Sie beschreiben den Aufbau von Gehirn und Zentralnervensystem und zitieren neuere Forschungen, wie vielfältige Gehirnregionen bei der Sprachverarbeitung und Spracherzeugung, insbesondere bei Humor, aktiv sind. Nicht minder interessant sind die Ausführungen zu „Gehirn, Psychotherapie und Freiheit in der Idiolektik“ (123 ff). Der idiolektische Ansatz geht davon aus, dass jeder Mensch „die Möglichkeit zur selbstbestimmten Veränderung und zur Auswahl von Handlungsalternativen“ (126) hat. Auf der Ebene des Gehirns zeige sich ebenso wie in der Eigensprache die Einzigartigkeit jedes Menschen, so die beiden Autoren.
Horst Poimann stellt die „Ressourcenorientierung in der Idiolektik“ näher vor (8. Kapitel, 129-141). Ausgehend von entsprechenden Interventionen bei Jonas führt er die Studien von Klaus Grawe an, der den Zusammenhang von Ressourcenaktivierung und Therapieerfolgen erforscht hat.
Im 9. Artikel „Idiolektische Psychotherapie – ressourcenorientiertes Kurzpsychotherapieverfahren mit neurowissenschaftlichen und evolutionären Grundlagen“ (142-162) stellen Daniel Bindernagel und Peter Winkler Wurzeln, Ziele, Modelle, Diagnose und Therapieprozess vor und ordnen diesen Ansatz in die Landschaft weiterer Psychotherapieverfahren ein. Als Indikation sehen sie alle Situationen, „bei denen innere Konflikte und Selbstabwertungen eine Rolle spielen“ (157).
Peter Winkler widmet sich im 10. Kapitel (163-174) der „Eigensprache des Körpers“, einem psycho-somatischen Denkmodell im buchstäblichen Sinne. Körpersymptome und -signale werden direkt aufgegriffen, dagegen bleiben (für die Ratsuchenden oft vorschnell) denkbare Verbindungen zur Lebenssituation zunächst unberücksichtigt, bis sie für die KlientInnen selbst zum Thema werden.
II. Anwendungsfelder
Nach den zehn Grundlagen-Artikeln im I. Teil stellt der II. Teil mit den Kapiteln 11 bis 17 „Ausgewählte Anwendungsfelder der Idiolektik“ vor.
Eckard Krüger berichtet Beispiele aus der „Allgemeinmedizin“ (11. Kapitel, 176-186): eine Patientin, die „ins Schwimmen geraten“ ist, einen Patienten, der seinen schmerzenden Rücken als „trockenen Weichholzstab“ beschreibt, und eine Patientin, der ihre Sorgen und Nöte buchstäblich „zu Herzen gegangen“ sind. Dabei wird deutlich, wie die Beschreibung von Körpererleben zu Einsichten über die eigene persönliche Situation führen kann.
Unter der Perspektive „Psychosomatik“ geht zunächst Hans Hermann Ehrat auf Symptome verschiedener Organsysteme ein („Archaische Relikte in der Psychosomatik“, Kapitel 12.1, 187-206). Viele Körperreaktionen haben ihre Wurzeln in der Entwicklungsgeschichte des Menschen und sind eher Überlebensmechanismen als Krankheiten. Beispielsweise reagiert die Nase auf meteorologische Kälte genauso wie auf menschliche Kälte. Ein idiolektischer Ansatz respektiert diese Symptome als Ausdruck der „inneren Weisheit“ (Jonas), mit belastenden Situationen umzugehen. Im Anschluss präsentiert Peter Winkler ein Transkript eines idiolektischen Gesprächs, das er zu Demonstrationszwecken im Rahmen einer Ausbildungsgruppe geführt hat („Interview: Eiserner Ring, organisches Holz und flüssiges Gold“; Kapitel 12.2, 206-216).
Tilman Rentel wendet Idiolektik in der „Traumatherapie“ an (13. Kapitel, 217-227). Er skizziert den Begriff Trauma und die Grundzüge der Traumatherapie, stellt anhand von mehreren Fallbeispielen idiolektische Gesprächsführung konkret vor und gibt Hinweise für die Arbeit mit traumatisierten Menschen.
Aus der ambulanten und stationären „Kinder- und Jugendpsychiatrie“ (Kapitel 14, 228-237) stammen die Erfahrungen und Gesprächsbeispiele von Andreas Speth und Tilman Rentel. Deutlich wird, wie „konsequentes Aufgreifen der Eigensprache […] den ‚Widerstand‘ der Patientin würdigt und den Schutzraum der Bilder […] nutzt“ (235).
Zum Themenbereich „Psychoonkologie und Palliative Care“ (Kapitel 15, 238-249) schildert Horst Poimann zunächst seine eigenen beruflichen und privaten Erfahrungen mit onkologischen Erkrankungen und erläutert die Grundbedürfnisse von Tumorkranken. Die Zeit ist gerade in diesen Kontexten spürbar begrenzt und „Versäumnisse und falsche Vorgehensweisen in der Anfangssequenz eines Gesprächs [können] kaum noch wieder ausgeglichen werden“ (245). Durch eine konsequente Orientierung an der Würde und den Wünschen der Betroffenen ermöglicht idiolektische Gesprächsführung einen Ausweg aus der starken Fremdbestimmung im Gesundheitswesen.
Idiolektische Gesprächsführung steht biblischen Inhalten und der in der Bibel häufig verwendeten bildhaften Sprache sehr nahe. Klaus Renfordt zeigt auf, wie Idiolektik in der „Seelsorge“ (Kapitel 16, 250-264) in der Bibelarbeit, im Religionsunterricht, bei seelsorglichen Gesprächen und bei Teamkonflikten hilfreich sein kann. „Idiolektik ist nicht nur Methode, sondern ein Stück Lebenshaltung“ (250).
Im 17. Kapitel schildert Thorsten Ellensohn aus seinen Erfahrungen im „Coaching“ (265-273) eine Begleitung einer Führungskraft. Idiolektik unterstützt BeraterInnen dabei, für ein gutes Gesprächklima zu sorgen, lenkt die Aufmerksamkeit darauf, was für die Ratsuchenden „wichtig und dringlich ist, was eine gute Lösung oder eine Ressource ist“ (266). Dieser Ansatz ist im Erstgespräch ebenso hilfreich wie in Krisensituationen.
Diskussion
Idiolektische Gesprächsführung geht von der Perspektive der Ratsuchenden aus, ist wertschätzend und respektvoll und fördert eine konstruktive Bescheidenheit auf Seiten der BeraterInnen bzw. TherapeutInnen. Die im vorliegenden Sammelband zusammengestellte Kombination von wissenschaftlichen Ausführungen, Erfahrungsberichten und 24 Gesprächsbeispielen macht das Buch leicht und spannend zu lesen. Es ist allen Fachkräften sehr zu empfehlen, die sich in Forschung, Therapie und Beratung mit Gesprächsführung und der Begleitung von Menschen befassen. Über die im Buch angesprochenen Anwendungsfelder hinaus ist Idiolektik beispielsweise in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung oder der Schwangerenkonfliktberatung denkbar. Nicht zuletzt lassen sich für jedes Gespräch auch in alltäglichen Kontexten wertvolle Impulse ableiten.
Die Auswahl der Themen führt dazu, dass (anders als in der erwähnten Vorabpublikation) alle Beiträge von Männern verfasst sind. Das Fachwissen von Frauen in der Anwendung und Lehre von Idiolektik bleibt hier daher unsichtbar. Dies wird auch durch den Sprachgebrauch verstärkt: Für Personengruppen bzw. Sammelbegriffe verwenden die Autoren (von einzelnen Ausnahmen abgesehen) praktisch durchgehend männliche Bezeichnungen – es ist die Rede von Ärzten, Therapeuten und Patienten. Frauen tauchen ausschließlich in Praxisbeispielen als Einzelpersonen auf und damit überwiegend als Klientin oder Patientin, lediglich an einer Stelle wird eine Expertin genannt. Bedauerlich ist zudem, dass der Sammelband nicht alle im o.g. Handbuch vorgestellten Anwendungskontexte aufgreift. So bleibt zu wünschen, dass kommende Veröffentlichungen sowohl die Kompetenz von Frauen als auch die Bezüge der Methode für Pädagogik, Pflege, Management und weitere Bereiche verdeutlichen.
Fazit
Das Buch ist allen zu empfehlen, die mit Menschen in beraterischen und therapeutischen Zusammenhängen arbeiten. Es ist kompakt, gut verständlich und für viele Arbeitsbereiche geeignet. Die Fülle an Hintergrundwissen und Gesprächsbeispielen regt dazu an, Idiolektik auch im eigenen beruflichen Kontext umzusetzen und mit den Äußerungen von anderen Menschen achtsamer umzugehen. Eine breite Rezeption ist diesem Buch zu wünschen.
Rezension von
Dr. Mechthild Herberhold
Ethik konkret, Altena (Westf.).
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