Ulrike Schildmann (Hrsg.): Umgang mit Verschiedenheit in der Lebensspanne
Rezensiert von Prof. Dr. Albrecht Rohrmann, 24.01.2011

Ulrike Schildmann (Hrsg.): Umgang mit Verschiedenheit in der Lebensspanne. Behinderung - Geschlecht - kultureller Hintergrund - Alter. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2010. 384 Seiten. ISBN 978-3-7815-1761-5. D: 24,90 EUR, A: 24,90 EUR.
Thema
Der ‚Umgang mit Verschiedenheit in der Lebensspanne‘ bezeichnet eine neue Perspektive mit der die sonderpädagogische Forschung Anschluss an aktuelle sozialwissenschaftliche Diskurse sucht. In ihrer Einleitung und einem weiteren Beitrag umreißt die Herausgeberin die Bedeutung dieses Ansatzes für das Verständnis von Behinderung und die professionelle Orientierung von Fachkräften. Bereits der Blick auf Statistiken zur Feststellung von Behinderungen belegen Zusammenhänge zu Alter, Geschlecht und kulturellen Hintergründen. „Was jeweils innerhalb der einzelnen Lebensabschnitte als ‚behindert‘ (oder von Behinderung bedroht) verstanden wird, lässt sich kaum unter diesem einzigen Begriff der Behinderung erfassen“ (43). Der Blick auf die gesamte Lebensspanne kann zur Überwindung der professionellen Konzentration auf einzelne Lebensphasen und deren isolierten Institutionen beitragen. Der Ansatz ist daher geeignet, um die Verhältnisse zwischen Geschlecht, Alter, kulturellem Hintergrund und Behinderung als Ausdruck sozialer Ungleichheit zu verstehen und um pädagogische Konzepte zum Umgang mit Verschiedenheit zu entwickeln.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband dokumentiert die Beiträge der 45. Arbeitstagung der Dozentinnen und Dozenten der Sonderpädagogik in deutschsprachigen Ländern, die vom 1. bis 3. Oktober 2008 in Dortmund stattfand. Das Thema der Tagung greift einen Forschungsschwerpunkt der Fakultät für Rehabilitationswissenschaften der Technischen Universität Dortmund auf, die die Tagung ausgerichtet hat. Ulrike Schildmann als Herausgeberin vertritt dort als Professorin das Lehrgebiet ‚Frauenforschung in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung‘.
Aufbau
Das Sammelwerk gliedert sich in drei Hauptteile. Im ersten Hauptteil werden die Hauptvorträge wiedergegeben. Im zweiten und dritten Hauptteil werden Beiträge aus Arbeitsgruppen wiedergeben, die im Teil II spezifischen Lebensphasen und Übergängen zugeordnet werden und im Teil III Ausführungen zu ‚theoretischen Grundlagen und professionellen Herausforderungen‘ versammeln.
Zu Teil I
Im ersten Hauptvortrag präsentiert Norbert Wenning Forschungsergebnisse und Forschungsperspektiven zum Umgang mit Verschiedenheit insbesondere im Kontext von Schule. Der Umgang mit Verschiedenheit stellt sich in seiner Perspektive nicht nur als pädagogische Herausforderung dar, sondern auch als in demokratischen Gesellschaften notwendiger Ansatz zur Vermeidung von Benachteiligung und Diskriminierung. Dennoch kommt der Autor am Ende etwas überraschend zu der Schlussfolgerung, dass differenzbezogene pädagogische Ansätze – herausgestellt wird insbesondere ‚Diversity Education‘ - lediglich „eine notwendige Ergänzung differenzlinienorientierter Ansätze“ (33) darstellen.
Im zweiten Hauptvortrag stellt Ulrike Schildmann wie schon erwähnt das Forschungsprogramm des Umgangs mit Verschiedenheit in der Lebensspanne in seinen Grundzügen dar. Der Ansatz erfordert eine kritische Reflexion bisheriger Schwerpunktsetzung sonderpädagogischer Forschung und Praxis und eine Schwerpunktverlagerung, die die Verflechtung individueller und gesellschaftlicher Konstruktionen von Behinderung in den Blick nimmt. Der Beitrag wird ergänzt durch kurze Statements zur Strukturkategorie ‚Geschlecht/Gender‘ (Barbara Jeltsch-Schudel), ‚kultureller Hintergrund‘ (Mikael Luciak) und ‚Alter/Lebensphase‘ (Mechthild Hetzel)
Zu Teil II
Der umfangreichste Teil des Sammelwerkes zu spezifischen Lebensphasen und Übergängen ist nach dem Lebenslauf gegliedert. Er setzt unter der Überschrift ‚Frühe Kindheit‘ mit Beiträgen zu pränataler Diagnostik (Andrea Strachota und Marion Baldus) ein und orientiert sich dann in erster Linie an Institutionen, die den Lebenslauf prägen. Dem Entstehungskontext ist es offensichtlich geschuldet, dass zur Lebensphase ‚Schulalter‘ die meisten Beiträge versammelt sind. Ein eigener Abschnitt ist dem Thema der Übergänge zwischen Schule und Beruf und den Übergängen von der Jungend in das junge Erwachsenenalter gewidmet.
Besonders erwähnt werden sollen die für den sonderpädagogischen Kontext eher ungewöhnlichen Beiträge zu den Lebensphasen ‚Mittleres und hohes Erwachsenalter‘. Barabara Jeltsch-Schudel stellt Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt zu Fragen der Identitätsentwicklung unter den Bedingungen einer Behinderung vor. An der Auswertung eines narrativen Interviews untersucht sie den Zusammenhang zwischen der Strukturkategorien Klasse, Behinderung und Geschlecht.
Caroline Bonnes und Michael Fingerle stellen eine Untersuchung von Lebensverläufen von Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) mittels biographisch orientierter Leitfadeninterviews vor. Ziel der Untersuchung ist die Entwicklung effektiver Unterstützung.
Horst Biermann kommt in seinem Beitrag zur beruflichen Rehabilitation zu einer sehr negativen Einschätzung. Trotz der Zielsetzung der Verbesserung der Teilhabe trägt sie strukturell zur Ausgrenzung bei.
Tomke Sabine Gerdes stellt ein Forschungsvorhaben zur Verbesserung der beruflichen Teilhabe psychisch beeinträchtigter Männer und Frauen dar.
Der Beitrag von Anke Kampmeier befasst sich mit der Einführung des Persönlichen Budgets im SGB IX als Transformationsprozess, der bei den beteiligten Akteuren Irritationen ausgelöst hat, die nach ihrer Meinung durch ein systematisches Case Management und Empowerment bearbeitet werden sollten.
Mit den Erwartungen von Menschen mit geistiger Behinderung an ihren Ruhestand beschäftigt sich der Beitrag von Bettina Lindmeier. Im Rahmen von Zukunftstagen wurden sehr konkrete Ergebnisse erzielt, die Hinweise auf die Angebotsentwicklung geben können.
Carsten Bender beschäftigt sich mit dem Sehverlust im Alter und fordert, dass dieser nicht nur als Schädigung des Sehvermögens betrachtet wird, sondern als Aufgabe der Alltagsbewältigung.
Teil III
Die Beiträge in Teil III beschäftigen sich unter der Überschrift ‚Theoretische Grundlagen und professionelle Herausforderungen‘ mit dem sonderpädagogischen Selbstverständnis (Vera Moser), Diagnostik (Eckhard Rohrmann), ICF (Maragarita Schiemer), internationaler Forschung zur Verschiedenheit (Andrea Erdélyi), Interdisziplinarität (Judith Freitag), Erziehungshaltungen (Kapriel Meser, Michael Urban und Rolf Werning), Umgang mit Verschiedenheit (Gwendolin Julia Schulz) und Fragen der Ausbildung (Beiträge von Bettina Brettländer, von Anja Blechschmidt, Claudia Born und Beat Richiger sowie von Anna-Maria Hintz und Katja Scheffler)
Fazit
Der von Ulrike Schildmann in der Einleitung und im Hauptvortrag skizzierte Forschungsansatz bietet für die Weiterentwicklung oder besser die Überwindung der Sonderpädagogik zugunsten einer gegenüber Verschiedenheit sensiblen Pädagogik ein großes Potential. Viele Beiträge in dem Sammelband beziehen sich auf diesen Ansatz und führen ihn in einem speziellen Forschungs- oder Handlungsfeld weiter. Andererseits ist dem Sammelband anzumerken, dass er sich auf eine Arbeitstagung von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen bezieht. Sehr unterschiedliche Positionen und Richtungen bleiben unverbunden nebeneinander stehen und einige Beiträge lassen sich nur mit großer Kreativität in die Themenstellung des Sammelbandes integrieren. Mit insgesamt recht kurzen Beiträgen (zumeist etwa 5 bis 6 Seiten) gibt der Sammelband einen guten Überblick über den Stand der sonderpädagogischen Theoriebildung zum Umgang mit Verschiedenheit in der Lebensspanne und kann Interessierten im Bereich der Forschung und der Praxis eher bei der Suche nach einem Überblick als zu einer umfassenden Einführung in die Thematik empfohlen werden.
Rezension von
Prof. Dr. Albrecht Rohrmann
Professor für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt soziale Rehabilitation und Inklusion an der Uni Siegen, Zentrum für Planung und Entwicklung Sozialer Dienste (ZPE)
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