Gerhard Schurz: Evolution in Natur und Kultur
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 11.08.2011

Gerhard Schurz: Evolution in Natur und Kultur. Eine Einführung in die verallgemeinerte Evolutionstheorie. Spektrum Verlag (Heidelberg) 2010. 375 Seiten. ISBN 978-3-8274-2665-9. 39,95 EUR. CH: 58,00 sFr.
Thema
Ein uraltes Thema der Menschheitsgeschichte ist die bisher unbeantwortete Frage, was ist am Verhalten und Wahrnehmen des Menschen angeboren und was ist erworben. Mythen, Religionen und auch die Philosophie plagen sich seit einigen Jahrtausenden mit diesem Kernproblem der Identität unserer Spezies. Deutlich war dieses Bedürfnis nach Selbsterkenntnis vor einigen Jahren in den Feuilletons in anderen Medien zu spüren, als die Kontroverse über den so genannten „freien Willen“ hohe Wellen schlug. Geisteswissenschaftler und Neurowissenschaftler bombardierten sich gegenseitig mit Argumenten und Fakten. Eine Lösung dieses Streites konnte jedoch nicht herbeigeführt werden. Zu verschieden sind einfach die Welten der Geistes- und Naturwissenschaften. In diesem Kontext ist auch die Frage von Belang, in welchem Verhältnis Natur und Kultur zueinander stehen. Auch hierzu gibt es gegenwärtig nur erste Annahmen, die jedoch noch keiner empirischen Überprüfung unterzogen worden sind. Die vorliegende Publikation befasst sich zentral mit dieser Fragestellung.
Autor
Gerhard Schurz ist seit 2002 Lehrstuhlinhaber und Forschungsgruppenleiter für Theoretische Philosophie an der Universität Düsseldorf. Er studierte Naturwissenschaften (Mag. rer. nat.) sowie Philosophie und Soziologie (Dr. phil.) an der Universität Graz.
Aufbau und Inhalt
Die Ausführungen sind in fünf Teile mit insgesamt 17 Kapiteln gegliedert:
- Teil I („Woher kommen wir? Evolution der der Natur“: Seite 1 - 128) besteht aus den fünf Kapiteln „Von der Genesis zur Evolution: Die historische Ablösung der Evolutionstheorie aus metaphysisch-normativen Entwicklungskonzeptionen“, „The Modern Synthesis: Von Darwin bis zur biologischen Evolutionstheorie der Gegenwart“, „Was man strengen Kreationisten entgegenhält: Evidenzen für die Evolution“, „Was man liberalen Kreationisten und Teleologen entgegenhält: Evidenzen gegen das Designargument und Auflösung von Denkschwierigkeiten“ und „Das Anthropische Prinzip: Auferstehung des Kreationismus in der Kosmologie?“.
- Teil II („Evolution überall? Verallgemeinerung der Evolutionstheorie: Seite 129 – 187) enthält die drei Kapitel „Prinzipien moderner Evolutionstheorie und ihre Verallgemeinerung“, „Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Evolutionstheorie“ und „Konflikte zwischen Evolutionstheorie und humanistischen Weltbild: Die ethische Dimension“.
- Teil III („Menschlich – Allzu menschlich: Evolution in der Kultur“: Seite 189 – 272) setzt sich aus den folgenden drei Kapiteln zusammen: „Kulturelle Evolution“, „Leistungen und exemplarische Anwendungsbereiche der kulturellen Evolutionstheorie“ und „Interaktionen zwischen der kulturellen, biologischen und individuellen Evolution“.
- Teil IV („Gedankliche Akrobatik: Mathematische Grundlagen und theoretische Modelle der verallgemeinerten Evolutionstheorie“: Seite 273 – 344) beinhaltet die vier Kapitel „Mathematische Grundlagen der verallgemeinerten Evolutionstheorie“, „Theoretische Modelle I: Gerichtete Evolution ohne Häufungsabhängigkeit“, „Theoretische Modelle II: Evolution mit Häufigkeitsabhängigkeit“ und „Theoretische Modelle III: Evolutionäre Spieltheorie“.
- Teil V („Gut und Böse, Wahr und Falsch: Die Evolution von Moral, Wissen und Glaube“: Seite 345 – 404) besteht aus den beiden Kapiteln „Wie gut ist der Mensch? Die Evolution der Kooperation“ und „Wie vernünftig ist der Mensch? Zur Evolution von Kognition und Weltanschauung“.
Im ersten Teil steht zu Beginn ein ideengeschichtlicher Abriss der Entwicklung und Evolution des Lebens in den verschiedenen Formen der Mythen, Religionen und Philosophien der letzten Jahrtausende. Hieran schließen sich die ersten naturwissenschaftlich ausgerichteten Theorien und Modelle an, wobei vor allem die Erkenntnisse Darwins und Mendels einen prägenden Einfluss auf die nachfolgenden Konzeptionen in der biologischen Theoriebildung besaßen. Es folgen recht ausführliche Darstellungen des so genannten „Kreationismus“, einer fundamentalreligiösen Sichtweise, demnach die Entstehung allen Lebens auf der Erde sich genau wie die Darstellung im alten Testament der Bibel vollzogen habe. Dieser Denkweise nach ist die Erde laut entsprechenden Bibeltexten erst ca. 6000 Jahre alt.
Während sich der erste Teil auf die bloße Darstellung des aktuellen Wissensstandes über die Evolution beschränkt, entwickelt Schurz im zweiten Teil der Abhandlung sein Ideenmodell einer „Verallgemeinerung der Evolutionstheorie“ dergestalt, dass die Evolution sich nicht nur auf die Biologie allein beschränkt. Im Rahmen dieser „verallgemeinerten Evolutionstheorie“ konzipiert er eine so genannte „kulturelle Evolution“ und eine so genannte „individuelle Evolution“. Begründet wird diese Ausweitung oder Ausdehnung evolutionärer Prozesse mit wissenschaftstheoretischen Ausführungen, demnach die „verallgemeinerte Evolutionstheorie“ als „übergreifendes Paradigma „höherer“ Wissenschaften“ fungiert, indem sie die „Naturgesetze“ mit den „Systemgesetzen“ zu vereinen vermag.
Der dritte Teil enthält die Gedanken des Autors über die so genannte „kulturelle Evolution“, wobei er zu Beginn das Ideengebilde der „Meme“ von Dawkins anführt. „Meme“ sind Ideen, Gedanken, Schlagworte, aber auch Melodien und Kleidermoden, die sich durch Imitation in der Gesellschaft ausbreiten und somit die kulturelle Entwicklung gestalten. Anschließend erläutert der Autor seine Vorstellungen über die Nichtreduzierbarkeit der kulturellen Evolution auf biologische Gesetzmäßigkeiten, konstatiert jedoch „Parallelitäten“ zwischen diesen beiden Sphären. Des Weiteren expliziert er Anwendungsbereiche der „kulturellen Evolutionstheorie“ u. a. anhand der Erklärungsansätze von Diamond über die kulturelle Entwicklung.
Der vierte Teil der Ausführungen umfasst die mathematische Grundlagen und die theoretischen Modelle der „verallgemeinerten Evolutionstheorie“, wobei der Autor u. a. auf Vorstellungen einer so genannten „evolutionären Spieltheorie“ zurückgreift.
Im fünften und letzten Abschnitt befasst sich Schurz mit der „Evolution“ von Moral, Wissen und Glauben. Im Zentrum stehen hierbei zu Beginn seine Überlegungen zu den Kernkategorien sozialen Lebens Kooperation, Egoismus und Altruismus. Es folgen Ausführungen über die Evolution von Kognition und Weltanschauung, wobei die Elemente geistige Erfassung der Umwelt, Sprache und Religion im Kontext seines Gedankenmodells einer verallgemeinerten Evolutionstheorie erläutert werden.
Diskussion
Auf den ersten Blick überwältigen die Ausführungen den Rezensenten aufgrund des immensen Quantums an Modellen, Theorien und Begrifflichkeiten unterschiedlichster Provenienz der gesamten Geistesgeschichte. Eine ungeheure Fleißarbeit fundiert somit den Entwurf einer „verallgemeinerten Evolutionstheorie“. Doch bei genauerer Lektüre zeigen sich deutlich die Mängel und Inkonsistenzen dieses Gedankenmodells.
Eine „Verallgemeinerung“ der Evolution, wie Schurz sie in seinen Ausführungen vollzieht, bedeutet konkret, die Begrifflichkeiten von ihren Objekten, den biologischen Fakten, zu trennen und sie in abstrakter und damit auch unverbindlicher Form neuen Seinsbereichen überzustülpen, für die sie nicht konstituiert wurden. Das hat den Anschein einer neuen Synthese oder einer neuen Erkenntnis, ist letztlich jedoch nur bloße Gedankenspielerei, denn es fehlt das materielle Substrat. Dies zeigt sich u. a. an dem Rekurs auf die so genannten „Meme“, einem spekulativen Konstrukt ohne empirische Fundierung, als einen Erklärungszusammenhang für die so genannte „kulturelle Evolution“.
Der Autor täuscht sich fatal hinsichtlich der Bedeutung und Wertigkeit seines Ansatzes, wenn er annimmt, „dass die verallgemeinerte Evolutionstheorie derzeit im Begriff ist, sich über ein Leitparadigma der Lebenswissenschaften hinaus zu einem übergreifenden Rahmenparadigma aller gegenstandsbezogenen Wissenschaften und der zugehörigen Wissenschaftsphilosophien zu entwickeln, von der Kosmologie bis zu den Kulturwissenschaften.“ (Seite XIV).
Fazit
Philosophie und Naturwissenschaften sind aufgrund der unterschiedlichen Welterfassung nicht kompatibel. Wer diesen Sachverhalt leugnet und gar zu Verknüpfungen dieser Sphären neigt, leistet keinen produktiven Beitrag zur Erkenntnisgewinnung. Wenn ein eindeutiges und inhärentes Bezugssystem aufgrund einer nicht statthaften „Verallgemeinerung“ fehlt, verlieren Ideen und auch Begriffe ihren Halt und versanden in völliger Unverbindlichkeit.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 11.08.2011 zu:
Gerhard Schurz: Evolution in Natur und Kultur. Eine Einführung in die verallgemeinerte Evolutionstheorie. Spektrum Verlag
(Heidelberg) 2010.
ISBN 978-3-8274-2665-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10756.php, Datum des Zugriffs 09.12.2023.
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