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Hans-Ludwig Kröber, Dieter Dölling et al. (Hrsg.): Psychopathologische Grundlagen und Praxis der forensischen Psychiatrie [...]

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 16.03.2011

Cover Hans-Ludwig Kröber, Dieter Dölling et al. (Hrsg.): Psychopathologische Grundlagen und Praxis der forensischen Psychiatrie [...] ISBN 978-3-7985-1447-8

Hans-Ludwig Kröber, Dieter Dölling, Norbert Leygraf, Henning Saß (Hrsg.): Psychopathologische Grundlagen und Praxis der forensischen Psychiatrie im Strafrecht. Springer (Berlin) 2010. 737 Seiten. ISBN 978-3-7985-1447-8. 99,95 EUR. CH: 153,50 sFr.

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Thema

Herausgeber und Verlag verfolgen mit dem Handbuch der Forensischen Psychiatrie ein ehrgeiziges Projekt: in fünf Bänden wird seit 2006 der gesamte wissenschaftliche Bereich der Forensischen (gerichtlichen) Psychiatrie, von den kriminologischen Aspekten, über strafrechtliche und psychopathologische Grundlagen bis hin zur Kriminalprognose und eine umfassende Darstellung der kriminaltherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten der aktuelle Wissenstand zum Fachgebiet erfasst und dargestellt. Der nun vorliegende fünfte Teil, ediert als Band 2, ist den psychopathologischen Grundlagen und der Praxis der Forensischen Psychiatrie im Strafrecht gewidmet. Die psychopathologischen Grundlagen werden dabei im Kontext von Begutachtungsfragen zur Schuldfähigkeit, Gefährlichkeit und Notwendigkeit der Unterbringung von psychisch kranken Straftätern erörtert – neben der Therapie das klassische Aufgabengebiet der Forensischen Psychiatrie. In weiteren Abschnitten werden Fragen der Begutachtung zu Strafmündigkeit und Entwicklungsstand, zur Verhandlungs- Vernehmungs- und Haftfähigkeit, sowie der Aspekt der Glaubwürdigkeitsbegutachtung behandelt. Zwei Überblicksartikel zur Situation der Forensischen Psychiatrie in der Schweiz und in Österreich beschließen den Band.

Autoren und Überblick

Die Herausgeber des Handbuchs der Forensischen Psychiatrie sind zentrale Figuren der Forensischen Psychiatrie in Deutschland. H.-L. Kröber leitet das Institut für Forensische Psychiatrie der Charité in Berlin, N. Leygraf das entsprechende Institut der Universität Essen, womit zwei bedeutende Lehrstühle für forensische Psychiatrie in Deutschland vertreten sind. D. Dölling ist Leiter des Instituts für Kriminologie der juristischen Fakultät der Universität Heidelberg. H. Sass ist seit Jahren Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Aachen, versiert in Behandlungs- und Begutachtungsfragen. Für die einzelnen Unterkapitel des 2. Bandes des Handbuchs konnten, wie schon bei den bisher erschienen Bänden der Handbuchreihe, weitere namhafte PraktikerInnen des Fachgebiets gewonnen werden, deren fachliche Kenntnis zu einzelnen Schwerpunkten und speziellen Teilaspekten das Handbuch zusätzlich aufwertet.

Aufbau und Inhalt

Band zwei des Handbuchs ist in sieben Kapitel unterteilt: Psychopathologische Grundlagen, Praxis der Begutachtung, Schuldfähigkeitsgutachten, Gutachten zur Strafmündigkeit, Beurteilung der Verhandlungs-, Vernehmungs- und Haftfähigkeit, Glaubwürdigkeitsgutachten und Forensische Psychiatrie im deutschsprachigen Raum.

Das von Paul Hopf und Henning Sass verfasste Eingangskapitel gibt einen ausführlichen Überblick zu den psychopathologischen Grundlagen des Faches. Ihnen geht es dabei nicht um die reine Auflistung der Symptomatik, wie sie sich in den diagnostischen Manualen findet, sondern um die Verknüpfung einer ausführlichen Darstellung der Psychopathologie mit der wissenschaftlichen Ideengeschichte der unterschiedlichen Störungen vor dem Hintergrund eines (kritischen) psychiatrischen Krankheitsbegriffs, der Darstellung psychiatrischer Diagnostik und Überlegungen zur forensischen Relevanz seelischer Störungen.

Herausgeber Hans-Ludwig Kröber greift im zweiten Kapitel die Praxis der psychiatrischen und psychologischen Begutachtung auf. Kröber bezieht sich auf den juristischen Begriff der Fähigkeit eines Menschen, welche unter Vorliegen bestimmter Einschränkungen mehr oder minder stark beeinträchtigt sein können. Im Kontext der Forensischen Psychiatrie sind hier konkret z. B. die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit gemeint, welche beeinträchtigt durch eine seelische Erkrankung die Schuldfähigkeit eines Menschen vermindern oder aufheben kann. In diesen Überlegungen ist die zweistufige Herangehensweise der forensischen Begutachtung angelegt: 1. die Prüfung, ob eine psychische Störung vorliegt und wie diese in psychiatrischer Diagnostik zu benennen ist und 2. Wie sich diese Störung auf eine konkret definierte Fähigkeit des betroffenen Menschen auswirkt. Kröber fasst im weiteren Text die in den letzten Jahren definierten fachlichen Mindestanforderungen in der Schuldfähigkeits- und Prognosebegutachtung zusammen, wodurch Standards gutachterlicher Tätigkeit in den Bereichen Umgang mit dem Gutachtensauftrag, Umgang mit und Vollständigkeit der Erkenntnisquellen, Untersuchungsbedingungen, Dokumentation, Transparenz der Untersuchungsmethoden, Gliederung von Gutachten, inhaltliche Trennung von Befund und Beurteilung. Überlegungen zur Begutachtung nicht deutschsprachiger Probanden und die Auseinandersetzung mit den Gegenstandsbereichen und der Methodik der forensisch-psychologischen Begutachtung (verfasst von Max Steller) beschließen das zweite Kapitel.

Kapitel drei, das Kernstück des vorliegenden Handbuchbandes, beschäftigt sich auf 350 Seiten mit der forensisch-psychiatrischen Beurteilung der Schuldfähigkeit bei krankhaften seelischen Störungen, den Schuldfähigkeitsgutachten. Das Kapitel ist in seinem Aufbau an den vier in § 20 StGB genannten Störungsgruppen orientiert, welche in der juristischen Definition eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit bedingen können: „krankhafte seelische Störung“ (organisch bedingte Störungen, Psychoseerkrankung), „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ (affektive Störungen), „Schwachsinn“ (Intelligenzminderung) und „schwere andere seelische Abartigkeit“ (Persönlichkeitsstörungen, sexuelle Deviation). Die Darstellung der strafrechtlichen Grundlagen der Schuldfähigkeit erfolgte bereits in Band eins der Handbuchreihe (vgl. https://www.socialnet.de/rezensionen/5737.php), auf dessen Text hier auch verwiesen wird.

Die AutorInnen dieses Abschnitts, Matthias Lammel, Sabine Herpertz, Henning Sass, Klaus Elsner, Norbert Leygraf und Norbert Schalast gehen gründlich auf die Psychopathologie der jeweiligen Störungsgruppen ein. Dabei werden Explorationsstrategien, die kriminologische Bedeutung der einzelnen Störungsbilder und die zentralen Aspekte der Beurteilung der Schuldfähigkeit differenziert herausgearbeitet. Der Abschnitt bietet neben der systematischen Darstellung der einzelnen Störungsgruppen eine Reihe von Übersichtstabellen, konkrete Fallüberlegungen, teilweise mit Verweis auf die relevante Rechtsprechung und eine Fülle weiterführender Literatur. Der umfangreiche Abschnitt dieses Bandes für sich genommen, hätte es verdient als eigenständiges Werk publiziert zu werden.

Die Besonderheiten der Begutachtung zur Strafmündigkeit und zum Entwicklungsstand von Jugendlichen greifen Michael Günter und Michael Karle im vierten Kapitel auf. Die Autoren weisen darauf hin, dass eine empirisch begründete, feste, chronologisch verankerte Altersgrenze der strafrechtlichen Reife nicht gegeben ist, der Übergang vom kindlichen Strafunmündigen hin zum jugendlich Verantwortlichen und erwachsenen voll Strafmündigen eine allmähliche Entwicklung darstellt, die intraindividuell unterschiedlich verläuft. Qualitative Entwicklungsmerkmale wie Ablösung vom Elternhaus, die Orientierung an allgemein sozialen Standards, die Ausbildung eines differenzierten Selbst und die Fähigkeit der Selbstkontrolle verlaufen uneinheitlich. Tatsächlich weisen die strafrechtlichen Rahmenbedingungen in den europäischen Ländern eine enorme Spannweite auf, reichen vom Strafmündigkeitsalter von sieben Jahren in der Schweiz und Irland, über 14 und 15 Jahre in den meisten Ländern bis hin zu 18 Jahren in Rumänien und Belgien. Als Herangehensweise zur Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit orientieren sich die Autoren am Jugendgerichtsgesetz, wo eine Orientierung an entwicklungspsychologischen Grundlagen verankert ist und der auf die konkrete Person bezogene Nachweis der strafrechtlichen Verantwortung festgeschrieben ist. Im Kontext entwicklungspsychologischer Überlegungen ordnen Günter und Karle jugendliche Delinquenz als Entwicklungsphänomen ein, das in vielen Fällen ohne strafrechtliche Intervention zu korrigieren ist (572). Für eine weitere Gruppe straffälliger Jugendlicher, deren Taten im Zusammenhang mit einer dissozialen Entwicklung stehen, werden mögliche (sozialisationsbedingte) Belastungsfaktoren, sich daraus entwickelnde Probleme, Besonderheiten der psychischen Verarbeitung dieser Konflikte, sowie soziale Kontextfaktoren benannt und in einem Modell zur Deliktentstehung zusammengefasst (573). Ausführliche Darstellungen zur Begutachtungspraxis, möglichen Problemen bei der Befunderhebung und die Darstellung zur Anwendung des Jugendstrafrechts ergänzen das Kapitel.

Die Begutachtung zur Verhandlungs-, Vernehmungs- und Haftfähigkeit ist Gegenstand des fünften Kapitels. Der von Heinz Schöch und Norbert Leygraf verfasste Abschnitt erfasst die rechtlichen und psychiatrischen Aspekte der Thematik. Beeinträchtigungen ergeben sich hier z. B. aus akut psychotischen Phasen, depressiven Verstimmungszuständen, Drogenintoxikation, bzw. –entzugssymptomen. Die Mehrzahl der Einschränkungen der Verhandlungs- Vernehmungs- und Haftfähigkeit ergibt sich jedoch weniger im psychischen, eher im körperlichen Bereich, auf dessen Darstellung im vorliegenden Abschnitt jedoch verzichtet wurde.

Unter der Überschrift „Das Glaubhaftigkeitsgutachten“ bearbeiten Renate Volbert, Max Steller und Anett Galow aussagepsychologische Fragestellungen im Strafrecht. Die Fachdisziplin befasst sich mit Fragen der Aussagetüchtigkeit, der Fähigkeit einer Person, zu einem bestimmten Sachverhalt überhaupt eine angemessene Aussage zu machen; der Glaubhaftigkeit einer Aussage, die Frage, ob ein Erlebnis oder dessen Schilderung überhaupt oder in der behaupteten Form stattgefunden hat; der Aussagegenauigkeit, der Fähigkeit objektiv genaue Aussagen zu einem Geschehen äußern zu können. Einschränkungen in diesen Bereichen ergeben sich vor dem Hintergrund psychiatrischer Störungen, gezieltem Lügen, bzw. als Ausdruck von Beeinflussung, oder sind dem Bereich des Vergessens komplexer Situationen und Erlebnisse zuzuordnen. Die jeweiligen psychischen und psychiatrischen Aspekte, sowie die diagnostischen Möglichkeiten werden in diesem Abschnitt ausführlich, unter Bezugnahme auf die aktuelle Aussagepsychologische Forschung, auch neuropsychologische Erkenntnisse dargestellt. Das Kapitel schließt mit einem beeindruckenden, zehnseitigen Literaturhinweis.

Das Handbuch endet mit einem Kapitel zur Forensischen Psychiatrie im deutschsprachigen Raum. Volker Dittmann und Marc Graf beschreiben dazu die strafrechtlichen Aspekte der forensischen Psychiatrie in der Schweiz, insbesondere die dort in den letzten Jahren zu beobachtende Differenzierung der Rechts- und Vollzugspraxis, für einzelne Tätergruppen. Thomas Stompe und Hans Schanda beschreiben die historische Entwicklung des Fachs in Österreich, die aktuelle Gesetzeslage, sowie Vollzugsprobleme im dortigen Maßnahmenvollzug auf. Ähnlich wie in Deutschland steigen die Unterbringungszahlen in den Behandlungseinrichtungen der Forensischen Psychiatrie stark an. Das Fachgebiet hat, auch durch diese Entwicklung, an Bedeutung gewonnen, allerdings stehen verbindliche Ausbildungsregelungen weiter aus.

Im Anhang findet sich ein umfangreiches Sachverzeichnis, das ein müheloses Auffinden einzelner Sachaspekte in dem umfangreichen Band ermöglicht.

Zielgruppe

Das Handbuch der Forensischen Psychiatrie wendet sich vorrangig an Juristen, Gutachter und Behandler im Bereich der Forensischen Psychiatrie. Da Forensische Fragestellungen eine hohe Relevanz für unterschiedliche Beratungs- und Behandlungssettings haben, profitieren auch die dort tätigen Mitarbeiter aus allen Berufszweigen. Der vorliegende Band ist damit nicht nur für Gutachter lohnenswert, die hier eine sehr gute überblicksartige und detaillierte Anleitung erhalten, sondern auch für die Mitarbeiter, die im Rahmen ihrer Tätigkeit mit solchen Gutachten konfrontiert werden, diese lesen und verstehen müssen. Der klare Aufbau des Bandes, die gründliche Darstellung der psychopathologischen Grundlagen und Begutachtungsaspekte dürfte für Praktiker und Studenten unterschiedlicher Fakultäten in Gesundheits- und Sozialberufen von großem Nutzen sein.

Fazit

Der jetzt erschienene letzte Band der Handbuchreihe (der als Band zwei ediert wird) überzeugt durch seine überdurchschnittlich hohe fachliche Qualität, Lesbarkeit und Übersichtlichkeit. Die interdisziplinäre Anlage der Forensischen Fachwissenschaft wird in der gesamten (fünfbändigen) Handbuchreihe konsequent umgesetzt. Den Herausgebern gelang mit dem vorliegenden Band zur Praxis der Forensischen Psychiatrie und psychopathologischen Grundlagen, die umfangreichen fachlichen Entwicklungen, vor allem der letzten zehn Jahre der zusammenzuführen. Dadurch ist ein über 2700 Seiten starkes Werk entstanden, das Standards der Forensischen Psychiatrie, in allen relevanten Teilaspekten formuliert. Durch die Zusammenschau rechtlicher Aspekte, psychiatrischer Fragestellungen und möglicher Begutachtungsaspekte wird eine äußerst fundierte Grundlage geschaffen, welche über reine gutachterliche Fragen weit hinaus reicht. Der vorliegende Band, und das gilt für die gesamte Handbuchreihe, darf in keiner mit Begutachtungsfragen und Behandlung von Straftätern befassten Institution fehlen.

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 177 Rezensionen von Gernot Hahn.

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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 16.03.2011 zu: Hans-Ludwig Kröber, Dieter Dölling, Norbert Leygraf, Henning Saß (Hrsg.): Psychopathologische Grundlagen und Praxis der forensischen Psychiatrie im Strafrecht. Springer (Berlin) 2010. ISBN 978-3-7985-1447-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10767.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.


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