Daniela Hammer-Tugendhat, Christina Lutter (Hrsg.): Emotionen
Rezensiert von Prof. Dr. Jochen Schmerfeld, 16.03.2011

Daniela Hammer-Tugendhat, Christina Lutter (Hrsg.): Emotionen.
transcript
(Bielefeld) 2010.
90 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1578-4.
8,50 EUR.
CH: 16,50 sFr.
Reihe: Zeitschrift für Kulturwissenschaften - 2010,2.
Thema
Das Thema „Emotionen“ hat zur Zeit Konjunktur in verschiedenen Wissenschaften. So auch in den Kulturwissenschaften, wie das vorliegende Heft der Zeitschrift für Kulturwissenschaften zeigt.
AutorIn oder HerausgeberIn
Die Herausgeberinnen sind Mitglieder der Projektgruppe Kulturwissenschaft an der Universität Wien. Sie vertreten einen wissenschaftlichen Ansatz, der über die disziplinären Grenzen hinweg kulturelle Prozesse und kulturelle Produkte analysiert.
Entstehungshintergrund
Anlass dieser Publikation sei der „Affektboom“ – so die Herausgeberinnen in der Einleitung – und die Beobachtung, dass bei diesem Thema die Biowissenschaften die Rolle einer Leitwissenschaft übernommen hätten. Da sei es notwendig sich auch aus Sicht der methodisch ganz anders und mit anderen Fragestellungen arbeitenden Kulturwissenschaften mit dem Thema zu beschäftigen. So wird aus kulturwissenschaftlicher Perspektive vor allem die kulturelle Bedingtheit von Emotionen thematisiert und analysiert.
Aufbau
Das Heft enthält eine Reihe von Beiträgen, die sich aus sehr verschiedenen Perspektiven und mit sehr verschiedenen speziellen Frage- und Themenstellungen mit dem Thema „Emotionen“ auseinandersetzen. Es finden sich literaturwissenschaftliche und literaturhistorische neben musikhistorischen Beiträgen. Abgeschlossen wird das Heft mit einem Beitrag über Halluzinogenforschung aus anthropologischer Sicht und einigen kritischen Kommentaren zu diesem Beitrag.
Inhalt
Der Beitrag von Annette Gerok-Reiter “angest/vohrte – literarisch. Möglichkeiten und Grenzen der Emotionsforschung zwischen Text und Kontext“ untersucht (literarische) Inszenierungen der Emotion „Angst“ in zwei literarischen Texten des 12. Jahrhunderts und in Bezug auf die Text-Kontext-Relation, also im Verhältnis von kultur- und literaturwissenschaftlichen Zugang. Die Autorin kommt zu folgendem Fazit: beide Texte trügen zu einer Geschichte der Emotionen insofern bei als in ihnen gerade wegen ihrer relativen Unabhängigkeit von „Diskursfestschreibungen und außerliterarischen Normen“ (S.20) die für das 21.Jahrhundert relevante Figur des „angstaffizierten Protagonisten“ auftauche.
Der Ägyptologe Jan Assmann (über die Grenzen seines ‚eigentlichen‘ Fachs hinaus bekannt geworden durch seine kritische Auseinandersetzung mit dem Monotheismus) betätigt sich in seinem Beitrag “Emotionen in Händels Musiktheater“ als Musikwissenschaftler. Er beschreibt Händel als den prominentesten Vertreter der ‚pathetischen‘ Musik, einer Musik also, die in bewusst kalkulierter Weise auf eine Erzeugung bestimmter Gefühle beim Publikum zielt (als ein bekanntes Beispiel wird die Arie des Xerxes ‚ombra mai fu“ genannt). Entsprechend dem barocken Verständnis des Gefühls als Bewegung der Seele würden Gefühle in der Barockoper als musikalische Bewegung abgebildet (S.26). Händels Opern zeichneten sich vor anderen dadurch aus, dass sie mit starken emotionalen Kontrasten arbeiteten.
Nina Verheyen behandelt ein Kapitel der Gefühlsgeschichte, eine Veränderung im Verständnis väterlicher Liebe im 19.Jahrhundert: “Liebe ohne Leib? Anmerkungen zur Gefühlsgeschichte bürgerlicher Vaterschaft im 19.Jahrhundert“. Sie geht aus von der These: „Für Vorstellungen von Bürgerlichkeit und Vaterschaft war körperliche Nähe sowie expressiv ausgedrückte Zuneigung zwischen Vater und Kind zunächst zentral, dann marginal und schließlich in manchen Kontexten sogar unerwünscht.“ (S.33f) Während um 1800 eine physische Nähe einschließende Vaterliebe Bestandteil bürgerlicher Vaterdiskurse gewesen sei, werde in der Linie einer Polarisierung der Geschlechtscharaktere, „die Rationalität als typisch männlich, Emotionalität und Passivität als typisch weiblich fassten“ (S. 37) die Vaterliebe im 19.Jahrhundert vergeistigt. Dies entspreche der Unterscheidung von Gefühlen, die im Leib verankert und der Frau zugeschrieben würden und solchen, die im Geist verankert seien und männlich konnotiert worden wären. Die Autorin kommt zum Schluss: „Das für das 19. Jahrhundert typische gendering der Gefühle zeigt sich auch in der ‚Vergeistigung‘ des bürgerlichen Deutungsmusters Vaterliebe, dem die Mutterliebe als niederes und stärker leibliches Gefühl zur Seite gestellt wurde.“
Empathie und Schock: Effekte von Totenfotografien werden im Beitrag von Katharina Sykora untersucht. Anhand von Aufbahrungsfotos einerseits und von kriminologischen Fotos von Hingerichteten andererseits zeigt die Autorin, wie durch Fotos die Emotionen der Betrachtenden reguliert würden: durch Inklusion im Fall der Aufbahrungsfotos, durch Exklusion bei der kriminologischen Fotografie der Hingerichteten. Die Funktion der beim Betrachter ausgelösten Gefühle bestimmt sie so: „Die Gefühle angesichts von Totenfotografien sind zugleich äußerst stark und wirkmächtig, aktivieren und bestätigen sie doch bei jedem Blick die Macht der bürgerlichen Gesellschaft. Ob wir Mitleid spüren oder abgestoßen sind, setzt uns qua Affekt in die Rolle des Richters, der über die Einbindung oder Ausgrenzung der Toten ins Kollektiv entscheidet, wie auch des Henkers, der dieses Urteil vollstreckt.“ (S.49)
Marie-Luise Angerers Beitrag Gefühlsblindheit oder von der Schwierigkeit, Gefühle wissenschaftlich zu erklären beschäftigt sich mit verschiedenen Kritiken an Freuds Feststellung, der Affekt könne nicht selbst, sondern nur in seiner Repräsentation in Erscheinung treten: beginnend mit Kritiken aus den 1970er Jahren wie denen von Tomkin und Green über Deleuze bis zu Damasio in den 1990er Jahren und schließend mit Copjecs Versuch einer theoretischen Versöhnung von Lacan und Deleuze. Es werde deutlich – so Angerer -, wie der Affekt als Markierung gesellschaftlicher Kampfzonen missbraucht werden könne: „Im Streit um seine Definition steht weniger (s)eine Wahrheit auf dem Spiel, als die ökonomische Sicherung der durch ihn sich öffnenden Pfründe – sowohl in der Neuro-Forschung als auch in der Theorieproduktion.“ (S. 58)
Einen inhaltlichen Schwerpunkt des
Hefts stellt der Beitrag von Nicolas Langlitz: Über
den Umgang mit Gefühlen in der psychopharmakologischen
Halluzinogenforschung (sowie die sich anschließenden
Beiträge zur Diskussion) dar.
Die Dichotomie von Natur und Kultur
infrage zu stellen sei ein Gemeinplatz in den Kulturwissenschaften –
besonders beim Thema Emotionen. Anhand von Laborszenen aus der
Halluzionogenforschung will Langlitz zeigen, dass unterschiedliches
Erleben (bad trip und ozeanisches Gefühl) nicht durch
verschiedenen Interpretationen zustande komme, sondern auf
verschiedenen neurophysiologischen Prozessen beruhe. Zudem schließt
es aus seinen Beobachtungen im Labor, dass auch die objektiv
messenden Wissenschaften mit Subjektivität durchsetzt seien:
„Die epistemische Tugend der Objektivität (…)
verbindet sich mit der Kultivierung von Intersubjektivität: der
Kunst, Probanden gut zu betreuen.“ (S.65) Schließlich
plädiert Langlitz dafür, „die Psychopharmakologie als
Hybrid aus Natur- und Kulturwissenschaft neu zu erfinden bzw. zu
einer Anthropologie zurückzukehren, die nicht zwischen
biologischer und Kulturanthropologie unterscheidet.“ (S.67)
Denn – so Langlitz – eine sinnvolle Debatte zwischen
Natur- und Kulturwissenschaften sei nur möglich, „wenn
Beobachtungen der Welt und Beobachtungen solcher Beobachtungen
gemeinsam erörtert werden.“ (S.68) Mit dieser These stößt
er auf wenig Zustimmung, wie sich in den Diskussionsbeiträgen
zeigt:
Malek Bajbouj entgegnet in seinem Beitrag Kulturlose affektive Neurowissenschaft oder kulturajustierte Neuropsychopharmakologie: Zwar seien kulturelle und Umweltfaktoren von hoher Relevanz für das Verständnis der Entstehung bestimmter Krankheiten, aber: „Im Bereich der Neuropsychopharmakologie sind die Erkenntnisse aus der Halluzinogenforschung nur bedingt auf klinische Settings übertragbar.“ (S.73)
Ludwig Jägers Kommentar: Störvariable Kultur bestreitet, dass Langlitz ein angemessenes Verständnis sowohl von teilnehmender Beobachtung als auch von Gefühlen in seinem Plädoyer zugrunde gelegt habe. Er will sich nicht zu den von Langlitz aufgeworfenen methodologischen Grundsatzfrage positionieren, kommt aber zu dem Schluss: Es falle ihm schwer, „zu erkennen, inwiefern die psychopharmakologische Halluzinogenforschung der Ort sein könnte, an dem hinsichtlich der Erkenntnisobjekte ‚Gefühl‘ bzw. ‚Emotion‘ eine ‚sinnvolle Debatte zwischen Natur- und Kulturwissenschaften‘ auf den Weg zu bringen wäre.“ (S.78)
Boris Quednow bewertet in seinem Beitrag Tyrannische Neurobiologie und unterdrückte Kultur des psychotropen Erlebens Langlitz‘ Vorschlag als interessant, hält ihn aber angesichts des dafür nötigen Aufwands für nicht durchführbar und den wissenschaftlichen Nutzen sowohl für die Psychopharmakologie als auch für die Kulturwissenschaften für eher begrenzt (S.83).
Nicolas Langlitz geht in seiner Antwort Kultivierte Neurochemie. Replik auf die Kritiken ein und präzisiert seinen Vorschlag: „Bedenkenswert sind die kulturkontrollierten Studien meiner Ansicht nach nicht primär als vielversprechender Forschungsansatz, sondern weil sie anregen, am Beispiel des Umgangs mit Gefühlen in der Neuropsychopharmakologie darüber nachzudenken, wie unsere Forschungspraktiken den überkommenen Dualismus von Natur und Kultur hinter sich lassen könnten …“ (S.85)
Diskussion
Das Thema Emotion wird in dem vorliegenden Heft in großer Breite abgehandelt, es wird aus der Sicht verschiedener Kulturwissenschaften beleuchtet. Dabei fällt allerdings auf, dass eine spezifische theoretische Fundierung, also eine kulturwissenschaftliche Emotionstheorie zu fehlen scheint. Selbst eine kulturalistische Position wird nicht durchgehend zugrunde gelegt – Langlitz etwa plädiert in seinem Beitrag gerade für eine Überwindung dieser Position durch eine Öffnung auf naturwissenschaftliche Anthropologie hin. Dennoch lässt sich als gemeinsame Tendenz aller Beiträge eine gewisse Frontstellung zu den neurowissenschaftlich fundierten Emotionstheorien feststellen: Emotionen werden als kulturell mindestens überformt wenn nicht konstituiert verstanden. Eine mehr grundsätzliche Diskussion dieser Fragen fehlt aber weitgehend, weil alle Beiträge mehr oder weniger sich auf ihr jeweiliges Spezialthema fokussieren.
Fazit
Für den an einer breiten Rezeption von Theorien und Forschungsansätzen zum Thema „Emotionen“ interessierten Wissenschaftler eine auf jeden Fall sehr ergiebige Lektüre: er bzw. sie gewinnt einen Einblick in Vorgehensweisen und theoretische Herangehensweisen der verschiedenen Kulturwissenschaften.
Rezension von
Prof. Dr. Jochen Schmerfeld
Professor für Pädagogik an der Katholischen Hochschule Freiburg
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