Frithjof Staude-Müller: Gewalthaltige Computerspiele und Aggressionsneigung
Rezensiert von Prof. Dr. Olivier Steiner, 04.07.2011

Frithjof Staude-Müller: Gewalthaltige Computerspiele und Aggressionsneigung. Längsschnittliche und experimentelle Betrachtung konkurrierender Zusammenhangsannahmen.
Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2010.
395 Seiten.
ISBN 978-3-8300-5336-1.
98,00 EUR.
Schriftenreihe Studien zur Kindheits- und Jugendforschung - Band 57.
Thema
Vorliegende Studie behandelt ein öffentlich und politisch intensiv diskutiertes Thema: Führt die Nutzung von gewaltdarstellenden Computerspielen zu einer Steigerung der Aggressivität bei Heranwachsenden? Die Antwort auf die Frage ist (wenig öffentlichkeitswirksam) weder ja noch nein, sondern erfordert wie in diesem Text geleistet eine komplexe Diskussion über soziale und individuelle Ursachen der Entstehung von Aggression und über die Frage, wie Medien kurz- und langfristig in unterschiedlichen lebensweltlichen Kontexten wirken. Mit zwei empirischen Studien versucht der Autor auf solche, in weiten Teilen noch offenen Fragen der Medienwirkungsforschung einzugehen.
Autor
Dr. phil. Frithjof Staude-Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Institut für Psychologie.
Aufbau
Die Monografie gliedert sich im Wesentlichen in einen theoretischen und einen empirischen Teil. Die empirische Arbeit bearbeitet die im Titel und Untertitel formulierte zentrale Frage der Zusammenhangsannahmen zwischen gewalthaltigen Computerspielen und Aggressionsneigung in einem längsschnittlichen und experimentellen Untersuchungsdesign. Die Konzeption der Studien ist dabei eng an die im ersten Teil formulierten theoretischen Annahmen und benannten Forschungslücken orientiert. Theorie, Forschungsstand und empirische Erhebungen sind nachvollziehbar aufeinander bezogen und vermitteln profundes Wissen zu der Frage nach möglichen Wirkungen gewalthaltiger Computerspiele.
1. Teil: Theorie und Forschungsstand
Die Untersuchung möglicher Wirkungen von Medien auf Individuen blickt mittlerweile auf eine reiche Forschungstradition zurück. Eine der Hauptfragestellungen bisheriger Anstrengungen zielt auf die Frage nach problematischen Wirkungen des Konsums von Gewaltdarstellungen bei Subjekten, insbesondere was die Aggressionsneigung betrifft. Diese Frage hat in den letzten Jahrzehnten zum Teil hitzige Debatten zwischen Medienwirkungsforscher/innen entfacht, bei welchen oftmals eine "Huhn oder Ei" Frage im Zentrum steht, die etwas verkürzt lautet: Wählen bereits aggressive Personen Gewaltdarstellungen oder machen Gewaltdarstellungen Personen aggressiver? Die Fragestellung könnte komplexer nicht sein und führt den Autor in einem ersten raumgreifenden Teil der Abhandlung dazu, die Genese der menschlichen Aggression theoretisch und empirisch aufzuarbeiten. Die in der psychologischen Disziplin verorteten Konzepte, die aktuell dazu breit rezipiert werden sind insbesondere das General Aggression Model (GAM) und das Modell der Sozialen Informationsverarbeitung (SIP), welche klassische behavioristische Ansätze integrieren und um soziale sowie neuropsychologische Dimensionen erweitern.
Nach Begriffsbestimmungen von Aggression und Ausführungen zu Entwicklung und Verlauf dissozialen Verhaltens lautet eine erste Schlussfolgerung, dass erst eine Kumulierung von Risikofaktoren (ausgehend bspw. von einem Multiproblemmilieu) im Lebensverlauf die Wahrscheinlichkeit dissozialen Verhaltens stark erhöht (S. 10f.). Die Darstellungen zur Aktualgenese von Aggression stellen psychologische Konzepte vor, die die Kumulationshypothese intrapsychisch nachvollziehbar machen: Nach dem General Agression Model bilden sich aggressive Wissensstrukturen (u.a.) durch wiederholte Aktivierung von kognitiven aggressiven Wahrnehmungsschemata und Verhaltensscripts. Letztlich führt dies dazu, dass "aggressives Verhalten als normal angesehen wird." (S. 35).
Nach Ausführungen zur Nutzung und Kategorisierung von Computerspielen widmet sich Staude-Müller der zentralen Frage, ob dem in der empirischen Forschung gefundenen Zusammenhang zwischen gewalthaltigen Computerspielen und Aggression ein "Teufelskreis von Selektion und Wirkung" (S. 93) zugrundeliege. Die ausführlichen Darstellungen zur Medienwirkungsforschung im Bereich Fernsehen und Computerspiele führen zu der Feststellung, dass Medienwirkungen nur in Zusammenhang mit wechselseitigen biographischen Bedingungsgefügen von Person und Umwelt sinnvoll erforscht und diskutiert werden können. Die zentrale Aufgabe der Medienwirkungsforschung sei es deshalb, die wichtigsten Moderator- und Mediatorvariabeln zu identifizieren. Der Autor konstatiert allerdings, dass die bisherige Medienwirkungsforschung sich nicht auf die tatsächliche Komplexität der Zusammenhänge eingelassen habe. (S. 128)
2. Teil: Längsschnitt- und Experimental-Studie
Angesichts der Probleme bisheriger Medienwirkungsforschung im Bereich Computerspiele hat es sich der Autor zur Aufgabe gemacht, mit einem komplexen Forschungsdesign Licht in das Dunkel der drägenden Frage nach Einflüssen gewalthaltiger Computerspiele auf die Entwicklung aggressionsassoziierter Persönlichkeitseigenschaften zu bringen. In einer längsschnittlichen Schüler/innenbefragung wurden mittels Fragebogen Nutzungsgewohnheiten, elterliche Kontrolle, Persönlichkeitsvariabeln (Aggression, Emapthie, Impulsivität, Sensation Seeking), soziale Integration, Viktimisierungserfahrungen und die Soziale Informationsverarbeitung der Teilnehmenden erhoben. Die Ergebnisse der Fragebogenstudie lassen keinen Schluss auf einen direkten Zusammenhang zwischen der Nutzung gewalthaltiger Computerspiele und der Aggressionsneigung zu. Interessant ist allerdings, dass eine exzessive Nutzung (insbesondere nachts) von Computerspielen in deutlichem Zusammenhang mit der Aggressionsneigung steht. Eine exzessive Nutzung von Computerspielen ist zudem mit fehlender elterlicher Kontrolle korreliert.
Da auch Längsschnittstudien keine Aussagen zu Kausalität von Effekten machen können, wurde zusätzlich eine experiementelle Erhebung durchgeführt. Männliche Probanden aller Bildungsschichten im Alter zwischen 18-25 Jahren wurden drei nach Trait-Aggressivität bestimmten Samples zugeordnet. Die Probanden durchliefen in der Folge Tests, in welchen zwei modifizierte Varianten eines gewaltdarstellenden Computerspiels (Schnellball werfen vs. Waffengewalt) gespielt und daraufhin lexikalische und mimische Entscheidungs-Aufgaben zu lösen waren (bspw. die Bewertung lachender, grimmiger oder ambivalenter Gesichtsausdrücke). Schliesslich wurde auch aggressives Verhalten gemessen, indem die Probanden fiktiven anderen Probanden unangenehme Straftöne zufügen konnten. Die Untersuchungsergebnisse verweisen auf eine kurzfristige Steigerung aggressiver Wahrnehmungen (uneinheitliche Ergebnisse) und aggressiven Verhaltens durch den Konsum eines gewalthaltigen Computerspieles (mittlerer Zusammenhang), allerdings ohne moderierenden Effekt der bereits bestehenden Aggressionsneigung.
Der Autor leitet aus den Befunden einen "stabilen Effekt" der Computerspielwirkung auf aggressive Persönlichkeiten ab, betont zuletzt allerdings auch mögliche positive Effekte von Computerspielen.
Diskussion
Die vorliegende Studie kann, sowohl was die theoretische Begründung und Einordnung in den bisherigen Forschungsstand angeht, als auch in Bezug auf das methodische Design als ausgesprochen konzis und fundiert bezeichnet werden. Die Darstellungen zu Theorien der Aggressionsgenese und zum Stand der Forschung bezüglich Mediengewaltwirkungen sind systematisch aufgebaut, dicht und kenntnisreich. Wer sich näher mit der Thematik befassen möchte, findet hier aktuelles und mit kundigem Sachverstand vorgestelltes Wissen.
Die quantitative Erforschung von Medienwirkungen ist allerdings ein ausserordentlich komplexes Unterfangen, da Wirkungsfragen immer in Kausalitätsfragen münden, die in sozio-biographischer Hinsicht selbst theoretisch kaum fassbar sind. Das Modell der "Downward Spirals" (Slater et al. 2003) versucht, die Dynamik eines problematischen Medienkonsums in Abhängigkeit von lebensweltlichen Kontexten prozessual nachzuzeichnen. Hier würden sich für die Medienwirkungsforschung neue und weitergehende Anschlussmöglichkeiten bieten, die zwar vom Autor im ersten Teil angesprochen, im empirischen Teil allerdings kaum mehr weiterverfolgt werden. Auch wenn für vorliegende Studie Kontextvariabeln wie die Elterninvolviertheit einbezogen worden sind, bleiben die wechselseitigen Dynamiken weitgehend im Dunkeln.
Für die Medien(gewalt)wirkungsforschung ist mit dieser Untersuchung dennoch ein wichtiger Beitrag geleistet, da Medienwirkung konsequent als Teil weitreichender lebensweltlicher Wirkungsketten verstanden und damit einem "gut-böse" Diskurs gegenüber der neuen Kulturtechnik des Computerspielens ein differenziertes Herangehen entgegengestellt wird. Die Ergebnisse der beiden empirischen Studien zeigen ein durchmischtes Bild: Kurzfristig finden sich zwar Effekte von Computerspielgewalt auf aggressive Wahrnehmungs- und Verhaltensschemata, langfristig scheint hingegen eher die Spielintensität als der Spielinhalt problematische Effekte zu zeitigen. Exzessivspieler (meist bildungsbenachteiligte Jungen) sind aber auch Heranwachsende, die offenbar wenig Involvierung ihrer Eltern in ihre Mediennutzung erleben. Hier zeichnen sich meines Erachtens schulische und familiäre Problematiken ab, die Heranwachsende in eine exzessive Mediennutzung treiben können (vgl. bspw. Ferguson et al. 2008; Savage 2004; Vandewater/Lee/Shim 2005). Eine problematische, exzessive Mediennutzung in Zusammenhang mit der Herausbildung von aggressiven Wahrnehmungs- und Verhaltensschemata ist in dieser Perspektive vielmehr als sekundäres Syndrom bzw. als - z.T. dysfunktionale - Bewältigungsstrategie sozialer Belastungen von Heranwachsenden zu interpretieren. Es wäre für das Verständnis der Faszination und Nutzung gewaltdarstellender Computerspiele weiterführend, solche Ansätze zu integrieren.
Fazit
Es stellt sich die Frage, ob mit rein quantitativen Studiendesigns die Wirkungszusammenhänge zwischen Person, Umwelt und Medium im Zeitverlauf aufgeklärt werden können. In psychologischen Forschungen sollten deshalb langzeitliche qualitative Designs Eingang finden, die Entwicklungsdynamiken einer problematischen Mediennutzung verstehensorientiert nachzeichnen. Der Fokus sollte dabei insbesondere auf Fragen der sozialen Integration gelegt werden: u.a. Einbindung in Gleichaltrigengruppen und Qualität von Freundschaftsbeziehungen, familiäre Konflikte und Elterninvolviertheit, Beziehungen zu Mitschüler/innen und Lehrpersonen.
Literatur
- Ferguson, Christopher J./Rueda, Stephanie M./Cruz, Amanda M./Ferguson, Diana E./Fritz, Stacey/Smith, Shawn M. (2008). Violent video games and aggression: causal relationship or byproduct of family violence and intrinsic violence motivation? In: Criminal Justice and Behavior. 35. Jg. (3). S. 311-332.
- Savage, Joanne (2004). Does Viewing Violent Media Really Cause Criminal Violence? A Methodological Review. In: Aggression and Violent Behavior. 10. Jg. (1). S. 99-128.
- Slater, Michael D./Henry, Kimberly L./Swaim, Randall C./Anderson, Lori L. (2003). Violent media content and aggressiveness in adolescents: A downward spiral model. In: Communication Research. 30. Jg. (6). S. 713-736.
- Vandewater, Elizabeth A./Lee, June H./Shim, Mi Suk (2005). Family conflict and violent electronic media use in school-aged children. In: Media Psychology. 7. Jg. (1). S. 73-86.
Rezension von
Prof. Dr. Olivier Steiner
Dozent
Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit, Institut Kinder- und Jugendhilfe
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Zitiervorschlag
Olivier Steiner. Rezension vom 04.07.2011 zu:
Frithjof Staude-Müller: Gewalthaltige Computerspiele und Aggressionsneigung. Längsschnittliche und experimentelle Betrachtung konkurrierender Zusammenhangsannahmen. Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2010.
ISBN 978-3-8300-5336-1.
Schriftenreihe Studien zur Kindheits- und Jugendforschung - Band 57.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10801.php, Datum des Zugriffs 03.12.2023.
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