Wolfgang Zacharias: Kulturell-ästhetische Medienbildung 2.0
Rezensiert von Prof. Dr. Hermann Sollfrank, 17.10.2011

Wolfgang Zacharias: Kulturell-ästhetische Medienbildung 2.0. Sinne, Künste, Cyber.
kopaed verlagsgmbh
(München) 2010.
507 Seiten.
ISBN 978-3-86736-318-1.
24,80 EUR.
Reihe: Kulturelle Bildung - Vol. 18.
Thema
In seiner inhaltlich komplexen Untersuchung versucht Zacharias eine Verhältnisbestimmung von Kultur, Medien und Bildung mit dem Ziel, sich der Bestimmung einer „kulturell-ästhetischen Medienbildung 2.0“ zu nähern. Dabei geht der Autor von der zunehmenden kulturellen und ästhetischen Bedeutung und Wirkungsmacht von Medialität in Kindheit und Jugend aus. Vor diesem Hintergrund wird eine „chronotopologische“, zeit-räumliche Landschaftserkundung des medienkulturell-bildenden Feldes vorgelegt (S.7), die getragen ist, so verrät der Klappentext, von der „Suche nach angemessenen Gelingensbedingungen und Ermöglichungsstrukturen kulturell-medialen Lernens zugunsten einer ‚Lebenskunst 2.0‘ für alle“.
Autor
Hon.-Prof. Dr. Wolfgang Zacharias ist Kunst- und Kulturpädagoge und studierte Kunst und Kunsterziehung in München, Stuttgart und Paris. Er war einige Jahre im Gymnasialschuldienst tätig und Mitbegründer der Initiative Pädagogische Aktion, die seit 1974 als Verein und freier Träger der kulturellen Jugendarbeit im Auftrag der Landeshauptstadt München agiert. Zacharias ist seit vielen Jahren bundesweit in der Kulturpädagogik engagiert und immer wieder in diversen Vorstandsämter auf Bundes- und Landesebene im Kontext Kulturelle Bildung aktiv. Seit 2005 ist er u. a. als Honorarprofessur an der Hochschule Merseburg für Kulturpädagogik/Spielpädagogik tätig.
Ausgangspunkte
Vor dem Hintergrund eines globalen wie lokalen kulturellen Wandels, einer hochdynamischen Entwicklung von Medien und eines Bildungsreformbedarfes stellt sich Zacharias die Aufgabe, das flexibel vernetzte und ständigen Veränderungen unterworfene Verhältnis von Kultur, Medien und Bildung zu beschreiben und zu analysieren. Diese Aufgabe ist selbstredend nicht abschließend und auch nicht inhaltlich stringent zu lösen. Von daher formuliert der Verfasser seinen Anspruch dahin gehend, im besten Fall eine Skizze, Montage bzw. Collage erstellen zu wollen über dieses tripolare Verhältnis von Kultur, Medien und Bildung.
Aufbau
Im ersten Kapitel werden „Orientierungen“ mit Blick auf die zentralen Themen der kulturellen Medienbildung und damit auf das Verhältnis Kultureller Bildung zur Medienkultur erarbeitet.
Diesem Verortungsversuch folgt im zweiten Kapitel die rekonstruktive Suche nach themenrelevanten „Markierungen und Positionen“ in der Breite der medienkulturellen und bildungsästhetischen Ideengeschichte, während im dritten Kapitel eine „Koordinatenbestimmung“ des vom Autor beabsichtigten Bildungsdiskurses unternommen wird, die er am medialen Menschen als Mittel- und Ausgangspunkt festgemacht.
Mit „Konturen und Kompetenzen“ ist das vierte Kapitel überschrieben. Hier beschäftigt sich Zacharias mit den Bedingungen des Aufwachsens in medienkulturellen Welten und Räumen des 21. Jahrhunderts und den daraus abzuleitenden Folgerungen für eine kulturell-ästhetische Medienbildung und Medienkompetenz.
Unter „Konstellationen“ werden dann im fünften Kapitel exemplarische und experimentelle Modelle, Konzepte, Strukturen und Projekte dargestellt und hinsichtlich ihres Potenzials als Gelingensbedingungen und Ermöglichungsstrukturen für kulturelle Medienbildung diskutiert. Mit einer Perspektive für die „Medienbildung 2.0“ endet die Monografie.
1. Orientierungen: Medienbildung und Kulturelle Bildung
Im ersten Teil der Abhandlung steht wie bereits erwähnt die Frage im Vordergrund, wie kulturelle Medienbildung als charakteristisches Verhältnis von Kultureller Bildung und Medienkultur zu fassen wäre. Hierzu geht der Verfasser den Weg, definitorische Anhaltspunkte für das Verhältnisdreieck Kultur-Medien-Bildung herauszuarbeiten und systematisch entwickelte wie assoziativ hergestellte Verknüpfungen medienfokussierter Theorien, Felder und Konzepte auszubreiten. Ein zentrales Ergebnis dieser vielschichtigen Diskussion ist die Infragestellung klassischer material-bildungstheoretischer Vorstellungen und hierarchischer und strukturell als unflexibel scheinender pädagogischer Institutionen für eine zeitgemäße kulturelle Medienbildung. Ein traditionelles, in einem Generationenverhältnis und mit pädagogischen Gefälle gedachtes materiales Bildungsverständnis scheint hier fast überkommen. Bedeutsamer wird ein zwischen den Generationen stattfindender, interkulturell geprägter Austausch im Raum des Ästhetischen. Wenn der Mensch eine sinnlich-rationale Einheit sein soll und die soziale und gesellschaftliche Funktion des Ästhetischen erfasst werden soll, sind für Zacharias die Wahrnehmung und Einbeziehung der omnipräsenten, immer wieder sich transformierenden digital-medialen Formen, Strukturen, Prozesse und Praktiken in ihrer ästhetischen Bedeutung unausweichlich (S. 130).
2. Markierungen: Cultural change – medial turn
In diesem zweiten Teil der Monografie begibt sich der Autor auf „reflexiv-assoziative Wanderungen“. Während dieser lässt er immer wieder Vertreter diverser medienkultureller und medienästhetischer Diskurse wie Marshall McLuhan, Peter Glaser, Ray Kurzweil, Wolfgang Welsch, Dieter Baacke zu Wort kommen ( S.130ff) und setzt deren Ideen in Beziehung zu Entwicklungen der aktuellen digitalen Kommunikations- und Informationskulturen, die begrifflich mit „Cyberspace“, „Web 2.0“, Games und Communities, Blogosphäre und social networks gefasst werden können (S. 155f). Das Kapitel endet mit einem Ausblick auf die Netzwerkgesellschaft im Informationszeitalter, die Chancen für die Identität des Einzelnen in der Mediengesellschaft und die damit verbundene Rolle der Kultur (S.187ff).
3. Koordinaten: Im Mittelpunkt der (mediale) Mensch
Ausgehend vom medialen Menschen führt Zacharias im dritten Teil seinen Bildungsdiskurs weiter. Seine vom Subjekt ausgehende Perspektive speist sich aus anthropologischen und human-existenziellen Implikationen, die den Menschen als sinnlich-symbolverarbeitendes, ludisches Wesen begreifen lassen, welches sich konstruktiv, prinzipiell evolutionär und lernend in seinen spezifischen sozialen und kulturellen Kontexten bewegt (S.199ff). Identität vor dem Hintergrund der Möglichkeiten in den gegenwärtigen Medienwelten, so der Autor, bedarf einer subjektgerechten spezifischen Ausformung, die in erheblichem Maße vom Individuum selbst zur gestaltbaren Möglichkeit wird. Dabei erscheint als neues Leitbild und Lernziel einer kulturell-ästhetischen Medienbildung die Orientierung in und Gestaltung von Wirklichkeiten zwischen „Sinne und Cyber“.
4. Konturen und Kompetenzen: Aufwachsen in und mit medienkulturellen Welten und Räumen
Im vierten Abschnitt steht die Relevanz von Medienwelten für die Genese kinder- und jugendkultureller Phänomene und Sozialisationsverläufe der Heranwachsenden im Blickfeld. Zacharias geht der Frage nach, wie sich eine subjektorientierte kulturell-ästhetische Medienkompetenz gestalten könnte. Medienwelten, so der Autor, sind für junge Menschen attraktive und allgegenwärtige Möglichkeitsräume, die es zu entdecken gilt und in denen Themen angelagert sind, die Werten und Wirkungen entsprechen und demnach eines kompetenten Umgangs bedürfen, der sowohl durch individuelle Förderung aber auch durch Protektionismus der Mitwelt begünstigt werden kann. Dass das institutionelle Bildungssystem hier noch erheblichen Raum für Entwicklungsperspektiven hat, wird als evident angesehen (S.321ff).
5. Konstellationen: Interdependente und bildende Strukturen
Unter anderem die Frage nach „Gelingensbedingungen“ und „Ermöglichungsstrukturen“ für (medien)kulturelle Bildung angesichts der Pluralität von Bildungsgegenständen und -orten stellt Zacharias im fünften Teil seiner Abhandlung (S. 397). Er sieht sie verbunden mit der Frage nach den Konstellationen, in denen sich kulturelle Bildung des Subjekts emergent aus dem Vielklang bewusst oder unbewusst wahrgenommener Angebote des formalen, nonformalen und informellen Bildungskomplexes ereignen könnte. Er illustriert dies zunächst an ausgewählten Projekten medienkultureller Praxis (S.377ff), entwickelt des weiteren Gedanken zur didaktischen und systematischen Gestaltung von Kultur- und Bildungslandschaften (S.393ff) und geht über in die Entfaltung kunstpädagogisch pointierter Positionen und Konzepte (S. 440ff) wie etwa denen der Bundesvereinigungen kultureller Kinder- und Jugendbildung, der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages, des Deutschen Kulturrat, der Gesellschaft für Medienkommunikation. Das Kapitel endet mit Erläuterung und Hinweise für didaktische Kompositionen in ihrer Einbettung in medienkulturellen Netzwerken (S.445ff).
6. Perspektive Medienbildung 2.0: Kulturell-ästhetische Transformation und Performation
Im letzten Kapitel geht Zacharias auf Bildung im Sinne Winfried Marotzkis als permanenten Prozess der Veränderung des Selbst- und Weltbezugs ein (S.453ff) und diskutiert die Rolle, die hierbei etwa Kunst, Kultur, Spiel und medial symbolische Kommunikation spielen. Im Kontext kultureller Medienbildung wird für den Verfasser Transformation als Verfahren und Form ästhetischer Erfahrung und kreativen Lernens in zweierlei Hinsicht bedeutsam: gelingende Bildung ist immer mit Transformation verbunden und Medien selbst produzieren immer Transformation (S.455). Vor diesem Horizont scheint Transformationskompetenz als eine Schlüsselkompetenz. Im Umgang mit Welt und Medien als Lern- und Bildungschancen ist sie gerahmt von zu gewinnender Transparenz im Sinne individueller Durchschaubarkeit und Verstehbarkeit von medialen Strukturen, Prozessen und Inhalten und Transzendierung im Sinne einer Überschreitung von medialen Phänomenen und Verfahren um deren Hintergründe und Grundlagen zu erkunden (S.461). Didaktisch gewendet scheinen für Zacharias auf Performanz angelegte Projekte, Events, Interventionen etc. Transparenz und Transzendierung zu befördern, damit wird das vor allem in Medien verborgene performative Potenzial im Sinne der Förderung von Bildung nutzbar. Konkludierend formuliert Zacharias hier „Lebenskunst 2.0“ als Lernziel (S.468). Dabei stehen im Zentrum der Anforderungen etwa Fähigkeiten zur Selbstorganisation, die Verbindung von Ansprüchen auf ein gutes Leben mit den vorhandenen Mitteln und die innere Selbstschöpfung von Lebenssinn. Daseinsbewältigung wird als aktiv gestaltende Transformation begriffen, bei der das Agieren in Medienwelten eine signifikante Rolle zukommt, entsprechend in der Kulturellen (Medien-)bildung gewürdigt werden muss und dort in eine Didaktik medienkultureller Bildung münden kann, die allerdings nicht durch einen Bildungskanon, Wissensbestände und entsprechende Erfolgskontrolle geprägt ist. Der Inhalt einer didaktischen Analyse wäre vielmehr geprägt durch Fragen an das Individuum, die sein gelungenes Leben betreffen, und stünde in Beziehungen zu seinen aktuellen verfügbaren und reflektierbaren Medienerfahrungen, Kommunikationen und Gestaltungspraxen (S.479).
Diskussion und Fazit
Die vorliegende Publikation ist keine linear-systematische Entfaltung wissenschaftlicher Theorie, sondern vielmehr der Entwurf eines „nichtlinearen Argumentationsnetzwerkes“ (S.7), dass dazu dient Diskurse, Positionen, Konzepte, Terminologien etc. unterschiedlichster wissenschaftlicher und allgemeinpopulärer Provenienz in Beziehung zu setzen. Dabei wird von Zacharias eine subjektiv geprägte Filterung der Komplexität und Akzentuierung der Inhalte bewusst betrieben. Die biografischen Bezüge, die hier zum tragen kommen, fußen vor allem in der Breite der Expertise des seit Dekaden bis heute in verschieden kultur- und medienpädagogischen Netzwerken involvierten und aktiven Kunst- und Kulturpädagogen und in einer detailreichen Kenntnis kunst-, medien-, sozial- und bildungswissenschaftlicher Diskurse, Konzepte und Positionen. Das Buch hinterlässt in seiner Gesamtheit und Anmutung den Eindruck eines vielschichtigen Bildes über das Verhältnis von Kultur, Medien und Bildung, an mancher Stelle sogar den eines Bilderreigens. Das Buch fordert den vorgebildeten Lesenden mit Blick auf das große Themenfeld und die immense Detailfülle an vielen Stellen heraus, nach-, mit- und querzudenken. Dabei könnte sowohl der Umfang als auch die Darstellungstiefe den Laien, der nur knapp informiert oder strukturiert-systematisch in die Thematik(en) eingeführt werden möchte, vielleicht in die Überforderung führen.
Doch letzten Endes bleibt festzuhalten, die Monografie von Zacharias ist hinsichtlich der inhaltlichen Breite und in der Form der Ausarbeitung beeindruckend, beeindruckend vor allem für diejenigen Leserinnen und Leser, die sich für die Zukunft kulturell-ästhetischer Medienbildung als integralen Bestandteil Kultureller Bildung und damit als Teil Allgemeiner Bildung interessieren und mit ihrer Entwicklung beschäftigen wollen.
Rezension von
Prof. Dr. Hermann Sollfrank
Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München, Fachbereich Soziale Arbeit München
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Zitiervorschlag
Hermann Sollfrank. Rezension vom 17.10.2011 zu:
Wolfgang Zacharias: Kulturell-ästhetische Medienbildung 2.0. Sinne, Künste, Cyber. kopaed verlagsgmbh
(München) 2010.
ISBN 978-3-86736-318-1.
Reihe: Kulturelle Bildung - Vol. 18.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10802.php, Datum des Zugriffs 11.06.2023.
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