Eberhard Straub: Zur Tyrannei der Werte
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 18.02.2011
Eberhard Straub: Zur Tyrannei der Werte. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2010. 171 Seiten. ISBN 978-3-608-94615-4. 17,95 EUR.
„Wer mit dem Zustand der Welt und mit sich selbst nicht zufrieden ist, muss philosophieren“ …
… diese Prämisse klingt vielleicht eher resignativ und passiv; denn eigentlich könnte man ja auch die Schlussfolgerung denken: …“der muss dreinschlagen!“, wenn er etwas ändern will. Aber Revolutionen im Denken und Handeln der Menschen werden heute, jedenfalls global, nicht mehr mit dem Knüppel und mit Waffengewalt ausgetragen und veranlasst. Es ist das Wort, das Veränderungen schafft! Diese alte philosophische Erkenntnis gründet ja auf der hoffnungsvollen, aristotelischen Erwartung, dass der anthrôpos, der Mensch, ein vernunft- und sprachbegabtes Lebewesen ist, das nach eu zên, einem guten Leben strebt und dies auch als zôon politikon, als ein von Natur aus angelegtes politisches Lebewesen erreichen kann.
Autor und Entstehungshintergrund
Der Wissenschaftsjournalist, Publizist und Historiker Eberhard Straub (geb. 1940) hat nicht nur als Feuilletonredakteur der FAZ, sondern auch in zahlreichen weiteren Wortmeldungen den Zustand der Welt und der Menschen, die Irrungen, Wirrungen und Entwicklungen aufgespießt und das Denken und Handeln der Zeitgenossen in einer deutlichen und verdeutlichenden Sprache formuliert ( vgl. dazu auch: Eberhard Straub, Deutschland Deine Bildung! Berlin 2008, in: socialnet Rezensionen unter https://www.socialnet.de/rezensionen/8681.php). Es sind die kapitalistischen, sozialschädlichen und habsüchtigen Wertvorstellungen der Menschen, die Straub auf die Barrikaden treiben. „Das Haben verzehrt das Sein des Menschen“. Dabei geht es ihm weniger um eine Auseinandersetzung mit dem „Raubtierkapitalismus“ ( Peter Jüngst, „Raubtierkapitalismus“? Globalisierung, psychosoziale Destabilisierung und territoriale Konflikte, Gießen 2004, in: socialnet Rezensionen, https://www.socialnet.de/rezensionen/1787.php), auch nicht um eine dezidierte Kapitalismuskritik, wie sie mittlerweile deutlich und heftig zum Ausdruck kommt ( siehe dazu auch. John Holloway, Kapitalismus aufbrechen, Münster 2010, in: socialnet Rezensionen, https://www.socialnet.de/rezensionen/10534.php); vielmehr stellt der Autor mit seinen Argumenten die irregulären Auffassungen von „Werten“ in Frage und kritisiert, dass sich an der Allmacht der Ökonomie und des Geld-(Wertes) die eigentlichen Werte des Menschseins unterordnen oder gar vergessen werden: „Die Werte haben es mit dem richtigen und guten Handeln zu tun, mit der Ethik und Moral“. Damit will er hinweisen, dass die Benutzung von Werte-Begriffen, wie sie im öffentlichen, politischen und gesellschaftlichen Leben benutzt und sogar für (partei-)politische Programme eingesetzt werden, wie etwa "Wertordnung“, „Wertesystem“ oder „Wertegemeinschaft“, dem zuwiderläuft, was sich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in den meisten demokratischen Verfassungen als „Menschenwürde“ und der Auffassung ausdrückt, dass „alle Menschen ( ) frei und gleich an Würde und Rechten geboren (sind)“.
Aufbau und Inhalt
Eberhard Straub gliedert sein Essay in fünf Kapitel. Im ersten Teil reflektiert er die „Geburt der Werte aus dem Geist des Kapitalismus“; im zweiten begibt er sich „im Werteomnibus durch die Rechts- und Gesellschaftsordnung“; im dritten Kapitel stellt er fest: „So treiben wir unsicher auf den Wogen der Zeit daher“; im vierten kritisiert er „die neue Verzauberung des Staates als Werteordnung“; und im fünften Teil setzt er sich mit dem „unaufhaltsame(n) Aufstieg vom freien Bürger zum bewertenden Kunden“ auseinander.
Mit einer Tour d’horizon lässt der Autor die philosophischen und lebensweltlichen Auffassungen und Denktraditionen – von Aristoteles bis Nietzsche und Adam Smith – Revue passieren und arbeitet die alles umfassenden „Markt“ – Bedingungen heraus: „Auf dem Markt hat alles seinen Wert“, wobei damit eben die kapitalistische Wertorientierung gemeint ist.
Die „Plusmacherei“, die heute mit dem deutlicheren Begriff der „Gier“ benannt wird ( vgl. dazu: Bernhard H. F. Taureck, Gleichheit für Fortgeschrittene. Jenseits von „Gier“ und „Neid“, München 2010, in: socialnet Rezensionen, https://www.socialnet.de/rezensionen/10159.php) und die Einstellungen zum „fleischgewordenen Kapital“ stehen ja im Gegensatz zur „wertlosen“ Betrachtung des Menschen und seiner individuellen Freiheit und diametral zum „Frei“ – Handel; und damit verbunden zur „Wert“ – Schätzung des Menschen, die sich mit den Maßstäben „Lebenswert“ und „unwertes Leben“ politisch und ideologisch messbar gemacht wurden. Die Nachschau in der Philosophiegeschichte, von Karl Marx bis Max Scheeler, Carl Schmitt und Christian von Ehrenfels bringt die „Hierarchie der Werte“ zutage und eine „Moralisierung des Marktes“, gegen die scheinbar kein Kraut gewachsen ist.
Die bourgeoise „Daseinsgefräßigkeit“ lässt die Kantische Freiheitsdefinition vergessen, wonach die Würde des Einzelnen in seiner unverwechselbaren proprietas, seiner Eigenart, liege und damit nicht erfasst, kalkuliert, gemessen, geschätzt, gewogen und kategorisiert werden könne: „Nicht Dasein, sondern Konsum ist Pflicht“; und die Entdeckung der Nation und der „Volksgemeinschaft“ sollten als Anker und Heilsbringer in diesem philosophischen Gewirr von sozialistischen, liberalen, materialistischen und historizistischen Widersprüchen dienen; der Weg hin zu der völkischen und nationalsozialistischen Parole – „Ein Volk, ein Wille, eine Tat“ – war da nicht weit, auch wenn kritische Geister, wie der Katholik Dietrich von Hildebrand , erfolglos dagegen opponierten.
Welcher Rettungsanker konnte da dienen, angesichts der vielfältigen historischen Aufbrüche, die sich im Freiheitsdenken der Menschen, von der Französischen Revolution bis hin zu den „noch einmal Davongekommenen nach 1945“vollzogen? Die Gewissheiten der „Gerechten“ gegenüber den „Ungerechten“, und damit eben auch der Kampf um diese „gerechten Werte“, die bis zum „gerechten Krieg“ und der Bewertung der Atombombe als „gute“ Waffe gegen das Böse reichten. Es lohnt z. B. die Geschichte des Rassismus und der Diktatur zu kennen, um den neoliberalen Slogan – „Leistung muss sich wieder lohnen“ – einordnen zu können; als völkische und nationalsozialistische Herkunft. Im „Wirtschaftswunderland“ winkten dauernder Wohlstand, Mehrwert und Bruttosozialprodukt. Die sich daraus entwickelte „Umdeutung der Freiheitsrechte in Werte“ gibt dem Staat Kompetenzen, die ihm nicht zustehen.
Denn die „Umdeutung einer Rechtsordnung in eine Wertordnung“ hat in der sich immer interdependenter, entgrenzender (und ungerechter) entwickelnden Einen (?) Welt zu nichts anderem als zu hegemonialen Vorstellungen von Werten und zur „Selbstermächtigung im Namen der Werte“ geführt, nämlich der westlich, kapitalistisch und christlich definierten. Der verwaltete, bewertete und nach genormter Sicherheit strebende Mensch scheint zufrieden zu sein mit dem als großen Wohltäter gefeierten Markt, „der Ordnung stiftet, wo Unordnung sich breit macht“; und er glaubt an das große Versprechen, das die (freie) Marktwirtschaft frei Haus liefert. Die „Marktfrömmigkeit“ und „Wertgläubigkeit“, die von den „Wert“ – Produzenten an die Endverbraucher kalkuliert abgegeben und aufgedrängt werden, bringen den Menschen, wie dies der Philosoph und Soziologe José Ortega Y Gasset formuliert hat, um ihre Freiheit und Würde.
Fazit
Die kluge Abhandlung und Auseinandersetzung über die philosophische Betrachtung von „Werten“, die das menschliche Sein ausmachen, zeigt ein Problem auf: „Nicht Züchtung, sondern Erziehung hieße das Gesetz, das dem Rechnung trüge“, formulierte 1943 Gottfried Benn die Unterscheidung des Menschlichen vom Tierischen. Die An- und Einpassung des Menschen in das materielle, kapitalistische Marktdenken und Handeln ist ja nichts anderes als „Einzüchtung“ und Eingewöhnung in ein „Wert“ – Denken und Handeln, dem es zu widerstehen gilt: „Erziehung sollte sich deshalb nicht darin erschöpfen, das Markt- und Markenbewusstsein zu schulen, sondern eine Einübung in die Freiheit des unermesslichen Einzelnen sein, die gelebt und nicht bewertet sein will“.
Das Essay von Eberhard Straub ist eine Herausforderung für Denker und denkende, nicht gläubige Konsumenten!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 18.02.2011 zu:
Eberhard Straub: Zur Tyrannei der Werte. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2010.
ISBN 978-3-608-94615-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10807.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.
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