Ronald Lutz: Das Mandat der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Veronika Hammer, 29.04.2011

Ronald Lutz: Das Mandat der Sozialen Arbeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2011. 238 Seiten. ISBN 978-3-531-17915-5. 39,95 EUR.
Thema
Im Mittelpunkt des Buches von Ronald Lutz steht seine These zum Mandat der Sozialen Arbeit: „Menschen bei der Aktivierung ihrer Kräfte zu unterstützen, die zeitweise oder auch auf Dauer nicht ohne Hilfe in der Lage sind sich in ihrer Umwelt einzurichten, ihren Verpflichtungen nachzukommen, sich in ihren Wünschen zu verwirklichen und dabei Sinn, Identität, Stolz, Würde und Wohlbefinden zu finden und zu erfahren.“ (Lutz 2011, S. 7). Soziale Arbeit wird als fachlich fundierte Dienstleistung verstanden, die sozialstaatliche, gesetzlich legitimierte Verantwortung in Form von Unterstützung und Kontrolle ausübt. Auf diesem Weg setzt sie sich zwar mit vielerlei Widrigkeiten auseinander, aber sie sieht immer die Möglichkeiten. Im Buch werden sowohl die Zugänge als auch die Widrigkeiten engagiert und kämpferisch diskutiert. Soziale Arbeit hat den Ausführungen von Ronald Lutz zufolge weder ein doppeltes noch ein dreifaches, sondern lediglich ein einziges Mandat. Statt einem doppelten Mandat muss Soziale Arbeit als Dienstleistung einen Spagat pflegen und entwickeln: „Teilhabemöglichkeiten durch Einmischen einfordern und diese in ihrer Praxis mit Klienten und Kunden verwirklichen.“ (ebd., S. 99)
Autor
Ronald Lutz, Dr. phil., ist Professor an der Fachhochschule Erfurt mit dem Lehrgebiet „Menschen in besonderen Lebenslagen“ und Dekan der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften.
Entstehungshintergrund
Das Buch bezieht sich auf die Perspektive einer befreienden Sozialarbeit (Paulo Freire). Die Suche nach dialogisch gestalteten Auseinandersetzungen, nach Prozessen des Austauschs, nach emanzipatorischen Idealen und wegweisenden Visionen für die Soziale Arbeit prägt die Genese des Werkes von Ronald Lutz. Das Buch versammelt wissenschaftliche Positionspapiere, die normativ hinterlegt und bewusst unfertig gehalten sind. Der Leserin / dem Leser obliegt es, ob sie / er sich anschließen oder distanzieren mag. Die Beiträge provozieren, inspirieren und fordern zur Auseinandersetzung auf.
Aufbau und Inhalt
Ronald Lutz gibt in der Grundlegung (Kapitel 1, S. 9 – 22) einen Einblick in seine Zugänge und Positionen. Er beschreibt sein „riskantes Denken“ als philosophisch motivierte Strategie, um leidenschaftlich und phantasievoll in die Kontroverse um bekannte Modelle und Konstruktionen in der Fachdebatte der Sozialen Arbeit einzusteigen. Labyrinthisch sei die Gegenwart Sozialer Arbeit angelegt, immer voller Möglichkeiten, denjenigen Menschen zu helfen, die an diesen Gegebenheiten zu scheitern drohen. Die professionelle Betonung des Möglichen, die zielorientierte Verdichtung auf humane Entwürfe, auf Kritik an Barbareien sowie auf Solidarität in öffentlicher und institutioneller Verantwortung setzt sich mit der zunehmenden Spaltung zwischen Arm und Reich und der Zunahme sozialer Ungleichheiten strukturell auseinander. Diese Auseinandersetzung hat prospektiven Charakter. Ronald Lutz versucht, die Soziale Arbeit aus einer Erstarrung und Erschöpfung zu holen, die er dort wahrnimmt. Sein Ziel ist es, Verschüttetes und Verborgenes der Praxis Sozialer Arbeit aufzudecken, zu beschreiben, in Perspektiven zu verdichten und am Ende zu reflektieren.
Zu dieser Aufdeckung gehört es zunächst, das Doppelte Mandat in seiner praktischen Substanz zu hinterfragen und anzuzweifeln. Lutz resümiert, dass das Doppelte Mandat nicht wirklich existent sei, sondern lediglich theoretisch dazu diene, um überzogene Positionen für den Kampf der Sozialen Arbeit um eine bessere Gesellschaft zu legitimieren. Dies sei aber nicht Aufgabe Sozialer Arbeit. Diese habe sich darauf zu konzentrieren, Menschen zu bemächtigen, damit diese ihre Lebensanforderungen besser bewältigen können und darauf, dass in Teilbereichen institutionell und sozialpolitisch relevante Konzepte und Strategien entwickelt werden. Soziale Arbeit müsse zwar auf Widersprüche in der Moderne hinweisen und sich an politischen Debatten beteiligen. Aber sie hat ihre zu reflektierende Praxis an den Lebenswelten der Menschen auszurichten. Diese wiederum seien es, die das offene Projekt der Moderne vorantreiben und es verändern mögen.
Die aktuellen Problematiken, mit denen die Profession und die Disziplin der Sozialen Arbeit zu kämpfen haben, werden von Ronald Lutz auf drei wesentliche Aspekte zusammen geführt. Diese Begebenheiten führen zu einer erschöpften Sozialen Arbeit (Kapitel 2, S. 23 – 40):
- Eigenschaftslose Dienstleistung: Soziale Arbeit entpuppt sich immer mehr als Maklerin sozialer Leistungen im Feld der marktliberalen Strategien
- Prekarisierung und Wohlstandskonflikte: Wachsende Ungleichheit und die Zunahme sozialer Verunsicherung sind dem modernen Kapitalismus inhärent, daher entwickeln sich neue Formen verstetigter Segregation
- Erschöpfte Moderne, erschöpfte Soziale Arbeit: Systemtheoretische und weitere annehmende Versuche, Soziale Arbeit zu charakterisieren, tragen zur Erschöpfung Sozialer Arbeit bei, weil sie keine konstruktive Kritik befördern, sondern die eingeschlagenen Tendenzen verfestigen
Der Versuch, ein immer moderneres Dienstleistungsunternehmen mit sozialwirtschaftlichem Charakter zu werden, verschlinge die ethische Basis und das eigene fachliche Fundament. Soziale Arbeit läuft Gefahr, kein klares und überzeugendes Menschenbild mehr in sich zu tragen. Ebenso wie die Moderne befindet sich Soziale Arbeit konsequenterweise in einem Stadium der Erschöpfung.
Die sozialstaatlichen Transformationen (Kapitel 3, S. 41 – 54), die über das „Aktivierungsparadigma“ und die „Selbstversorgersubjekte“ hin zu einer gewissen Grundversorgung und temporären Nothilfen führen, vergrößern den Abstand zu einem Sozialstaatsprinzip, das eine breite und tiefe Garantie sozialer Sicherheit implizierte. Seit rund 20 Jahren werden im Zuge der Hartz-IV-Gesetzgebung Selbstsorge und privat aufgebaute Rentenansprüche groß geschrieben. Die Klientel Sozialer Arbeit werden damit immer mehr zu Subjekten auf einem freien Markt gemacht und dadurch auch die Risiken auf sie übertragen. Dies bedeutet für Soziale Arbeit:
- eine Ökonomisierung, Rationalisierung und Subjektivierung ihrer Kernaufgaben und insbesondere der Klientel, jetzt „Kunden“, durch den „aktivierenden Staat“ als Zumutung und als Herausforderung, den unmündigen Menschen zu bemächtigen.
- ein modernes Dienstleistungsunternehmen zu werden, in dem Sozialwirtschaft und Soziale Arbeit so zusammenspielen, dass anhand der im Hilfesystem festgesetzten Ziele Soziale Arbeit zu agieren hat. Die Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen fällt durch die betriebswirtschaftliche Neuorientierung, Gewinnmaximierung und damit einhergehender Wegrationalisierung der Parteilichkeit der Hilfe und des doppelten Mandates weg. Die Herausforderung sei es jetzt, davon ausgehend einen notwendigen Pakt zur Verwaltung des Elends zu schließen.
- dass sie sich rechnen muss und sich von daher auf die „lukrativen Bereiche“ konzentriert. Es wird auf eine „Zwei Klassen Sozialarbeit“ hinauslaufen, d.h. Soziale Arbeit wird dort tätig, wo sie sich lohnt und die „Armen“ werden in den Spendenabteilungen und Suppenküchen notversorgt. Die Erklärungen für die Armut geraten aus dem Blick, das Elend wird festgeschrieben. Die Herausforderung sei es jetzt, den Menschen mit seinen Potenzialen zu aktivieren, darin liege auch eine Chance.
Der Anspruch der Moderne (Kapitel 4, S. 55 – 65) erfordert intelligente Antworten, um sich aus der Bedrängnis der Ökonomie zu befreien. Das Zentrum liege dabei auf den humanen Positionen der Moderne: den Menschen zu unterstützen, sein Leben in der Moderne selbstverantwortlich zu führen, eine kluge Lebensführung zu gestalten, um den Prozessen des gesellschaftlichen Wandels gewachsen sein zu können. Dieser Ansatz würde sich gegen die Depression und Erschöpfung der Sozialen Arbeit wenden, in der Ronald Lutz diese sieht.
- Moderne, ein Projekt: Das Soziale muss unter den neuen marktliberalen Bedingungen ebenfalls neu gedacht werden. Das Ziel sei die Befreiung von alten Schablonen.
- Die soziale Frage stellt sich neu, daher müsse der Mensch neu in seinen Fähigkeiten, seinem Wesen, seiner Komplexität und in seinem Alltag neu gesehen werden.
Die Fundamente der Sozialen Arbeit (Kapitel 5, S. 67 – 76), die Ronald Lutz aufzeigt, sollen das Haus der Sozialen Arbeit neu bauen. Erstens, indem man von einem Menschenbild ausgeht, das dynamisch, entwicklungsoffen und auf Anerkennung und Solidarität angewiesen ist. Zweitens, indem eine Theorie des guten Lebens zum Tragen kommt. Drittens, indem die menschliche Entwicklung mit den Komponenten Produktivität, Gleichberechtigung, Nachhaltigkeit und Ermächtigung berücksichtigt wird. Viertens, indem eine je eigene Normalität der modernen Subjekte akzeptiert wird. Fünftens, indem Freiheit und Verwirklichung einen Raum aufspannen, in dem die individuellen Fähigkeiten in den gesellschaftlichen Kontexten entfaltet werden können. „Hierin gewinnt Soziale Arbeit ihr Mandat als Unterstützung der suchenden Menschen und zugleich ihren politischen Auftrag als Mitgestalterin von Verwirklichungskulturen.“ (Lutz 2011, S. 76).
Soziale Arbeit als befreiende Praxis (Kapitel 6, S. 77 – 86) soll das neue Haus heißen, in dem den Menschen im Dialog begegnet wird. Mit dem Dialogischen Prinzip als Methode wird Soziale Arbeit ihre Ziele neu formulieren und diese an der „befreienden Pädagogik“ ankoppeln. Mittels der Anthropologie der Hoffnung können die Menschen bemächtigt werden, ihre Freiheit mit Würde und mit Stolz zu leben. Eine Soziale Arbeit, die sich an Paulo Freires Philosophie und Pädagogik anlehnt, geht zu ihnen, auf ihren Wegen und zu ihren Orten. Sie führt die Menschen aus Depression und Abhängigkeit, indem sie in die Hoffnung investiert, dass Aktivierung als Befreiung verstanden wird. Fähigkeiten zu einer neuen Lebensführung können hervorgebracht werden, Freiräume für die Alltagsgestaltung entstehen, das soziale Wesen und die eigenen Fähigkeiten erkannt werden. In der Dialektik des guten Lebens wird eine Doppelstruktur deutlich: dass sich der Mensch nur mit seiner eigenen Praxis befreien kann – dies tut er aber in den gesellschaftlichen Bedingungen, die für sein Leben zur Verfügung stehen. Zugespitzt formuliert: Die Unterdrückten erkennen ihre Unterdrückung und finden dann Wege, um aus dieser Zumutung herauszukommen. Sie werden begreifen, was mit ihnen geschieht, sie sehen sich mit ihrer Position in einem – zusammen mit den Profis Sozialer Arbeit – zu analysierenden Labyrinth, aus dem sie aussteigen wollen und können. Aktivierung bedarf in diesem Sinne der Befreiung.
In den Verdichtungen zu den bisherigen Überlegungen zeigt Ronald Lutz die Perspektiven für Soziale Arbeit auf (Kapitel 7, S. 87 – 99). Der prinzipielle Zusammenhang seines Denkens beruht auf der Zuspitzung, dass Soziale Arbeit sich jenseits ihres Mandates auch politisch einmischen und einen Spagat leben muss. Zugrunde liegen gesellschaftliche Bedingungen wie z.B. Beschleunigung und Individualisierung, Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und eine Verschärfung sozialer Ungleichheit, die zu vielerlei Erschöpfungen, insbesondere bei Familien in besonderen Lebenslagen, führe. Daher müsse eine normative Pragmatik (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit etc.) her, die auch zum Schutz gegen die Radikalität der Marktkräfte diene. Soziale Arbeit stehe jedoch unter enormem Druck, z.B. von Seiten des nur noch gewährleistenden Wohlfahrtsstaates, der Ökonomisierung und der Verwertungszwänge, dem sog. „Wohlfahrtsmarkt“, der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse in der Sozialen Arbeit, der Aktivierungsprozesse, der evidenzbasierten Evaluation, einer ansteigenden Tendenz zur Zwei-Klassen-Sozialarbeit. Aus diesen Risiken erwachsen aber auch Chancen: die Stärkung der Akteurperspektive, die Erklärungsnotwendigkeit der Sozialen Arbeit, die Fragen des methodischen Handelns stellen sich neu und Dialoge zur Kommunikation eines guten Lebens werden ermöglicht. Schließlich sei es die politische Einmischung, die die Perspektiven für Soziale Arbeit eröffnet.
Die Erweiterungen: Reflektionen der Praxis (Kapitel 8, S. 101 – 206) beziehen sich auf sechs Praxisfelder Sozialer Arbeit:
- Zunächst wird die die Geschichte der Hilfen für wohnungslose Menschen aufzeigt. Sie reicht von der moralischen Verurteilung im späten Mittelalter über die Schwelle der Neuzeit bis hin zur bürgernahen Hilfe in Form von zielgruppengerechten, bedarfsdifferenzierten Angeboten.
- Kinder und Kindheiten, auf die Zukunft gerichtet, seien ein Projekt der Moderne, in dem die intendierte Subjektorientierung von Kindern den Einstieg in einen möglichen Paradigmenwechsel bietet. Die befreiende Praxis von Partizipation und Einmischung mögen von ihnen im Kontext kultureller, institutioneller und sozialräumlicher Möglichkeiten und Bedingungen ausgehen.
- Vor allem in der Straßensozialarbeit könne den ökonomischen Tendenzen mit ihren eigenen Mitteln begegnet werden, indem sich eine betriebswirtschaftliche Logik entfaltet, die mobile Arbeit und Frühwarnsysteme impliziert. Straßensozialarbeit war schon immer an der Selbstorganisation ihrer Klientel orientiert, von daher könne mit einer neuen Sicht auf lokale Ökonomien erneut an den Kompetenzen der Leute angesetzt werden.
- Familienarbeit als dialogische Elternarbeit setze als gesellschaftliche Aufgabe an. Insofern ist sie sozialräumlich, lebensweltorientiert und politisch. Soziale Teilhaberechte müssen eingefordert werden: z.B. gesichertes und ausreichendes Einkommen, erreichbare Betreuungsinstitutionen.
- Politische Gemeinwesenarbeit spielt sich an Orten ab, an denen der Aufbau von Verwirklichungskulturen im Kontext integrierter Sozialraumplanung eine Rolle spielen muss. Dazu gehören eine stärkere Vernetzung von Ökonomie und Sozialem sowie neue Beteiligungsformen und Moderationen, die die Bedürfnisse der Menschen zum Vorschein bringen. Davon ausgehend könne eine soziale Entwicklung entstehen, die Befreiung, Bemächtigung und Empowerment zugleich ist.
- Verwirklichungskulturen zu befördern, richtet sich gegen eine Privilegierung von Armut. Dieser Ansatz sei von daher der richtige Weg, damit Soziale Arbeit sich zur sozialen Entwicklung verdichten kann. Dazu gehören strukturierte, klare Vorstellungen von kommunaler Armutsprävention zur Gestaltung von Lebenslagen, um Teilhabe zu ermöglichen. Verwirklichungskulturen entstehen in der Verbindung von Struktur und Handlung. Integriertes Planungsraummanagement und „lernende Planung“ verbinden die neuen Konturen.
Im Abschlusskapitel „Andere Welten – andere Lösungen“ (Kapitel 9, S. 207 – 225) bezieht sich Ronald Lutz auf seine Erfahrungen, die er in südlichen Ländern der Welt gesammelt hat. Dort finde man viel weniger Soziale Arbeit als Hilfe, sondern viel mehr Soziale Arbeit als „Social, Human oder Community Development“. Nicht am einzelnen Fall, sondern an der Gemeinschaft setze man zur Suche nach der Lösung von sozialen Problemen an. Die Thesen von Lutz zum Mandat der Sozialen Arbeit sind von diesen Erfahrungen geprägt. Er möchte mit seinen Thesen kulturelle Dialoge ermöglichen und Produkte von Aushandlungsprozessen schaffen, die zu einer Neubewertung Sozialer Arbeit führen. Dabei soll der Blick auf die Entwicklungs- und Aufklärungsarbeit, auf die Kultursensibilität und Fähigkeitsorientierung der Fremde reflektieren helfen. Ob Indigensierung (importierte Ansätze werden modifiziert und auf die lokale Situation hin angepasst) der Sozialen Arbeit, ob Authentisierung (Forschung, Datenerhebung zu lokalen Bedürfnissen, Analyse der Kultur und der Netzwerke, eigene Publikationen) der Sozialen Arbeit oder ob Forderungen nach Radikalisierung der Sozialen Arbeit (soziale Probleme sollen artikuliert und gelöst werden) in Afrika, alle Beiträge dienen dazu, dass sich Soziale Arbeit weiter entwickelt. Die Befreiungspädagogik von Paulo Freire sei dort dazu da, im Dialog mit den Menschen ihre Fähigkeiten zu entdecken. Der Mensch ist nicht Opfer seiner Verhältnisse, sondern Gestalter. Vom Süden lernen heißt sich selbst relativieren zu lernen. Der Dialog dient dazu, die Begrenztheit des eigenen Horizonts zu erkennen und zugleich zu überwinden.
Diskussion
Ronald Lutz denkt mit seinem Buch „Das Mandat der Sozialen Arbeit“ über den Tag hinaus. Er will mit seinen Entwürfen und Utopien in einen Dialog in der Sozialen Arbeit einsteigen, der einen bedeutenden Rang in der Selbstverständigung um Soziale Arbeit hat. Dies ist notwendig und interessant, gleichzeitig aber auch brisant und – wie er selbst formuliert – riskant, weil es das leidenschaftliche Spiel mit den Gedanken beinhaltet.
Die Stärke des Beitrages von Ronald Lutz liegt darin, aus der Perspektive der befreienden Pädagogik und mittels einer Skizze über die Herausforderungen der Moderne einen alternativen Entwurf zu zeichnen. Der Band erfüllt den Anspruch, aus einer unkonventionell formulierten, philosophisch motivierten Sichtweise heraus ein Mandat Sozialer Arbeit vorzustellen und zu begründen. In diesem Sinne ergänzt und bereichert das Buch die bisherige Literatur zur Position der Sozialen Arbeit im Marktgeschehen der neoliberalen Zumutungen. Von inhaltlicher Relevanz sind insbesondere die Ausführungen zum Capability Approach, zum Dialogischen Prinzip, zu den Verwirklichungskulturen und zur Integrierten Sozialraumplanung.
Die im Fachdiskurs verwendeten Begriffs- und Sprachbestände kommen aus einer professionellen und disziplinären Kultur der Sozialen Arbeit. Die Bezugnahme auf dieses kulturell hervorgebrachte Wissen erfordert respektvolle Umsicht. Diese Sorgfalt ist im Buch nicht immer in hinreichendem Maße gegeben, dies gilt insbesondere für die Bezüge zum Doppelmandat und zum Tripelmandat. Das Leben der Menschen, ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten sowie die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen dieses Leben stattfindet und ebenfalls die damit in Beziehung stehenden, berufsethischen Grundlagen Sozialer Arbeit inklusive sozialpolitischem Anspruch sind kulturelle, sozialarbeitswissenschaftliche Materie. Dieses und weiteres Erfahrungs- und Erklärungswissen aus der Sozialen Arbeit verdient es, gerade im wissenschaftlichen Diskurs, mit Anerkennung referiert und weiterentwickelt zu werden.
Unverständlich bleibt daher auch, weshalb das Mandat der Profession, ausgehend vom international konsensualen Berufskodex der Sozialen Arbeit, keine hinreichende Beachtung erfährt. Auf der Basis einer wissenschaftlich, berufsethisch und fachlich fundierten Position, die sich bedarfsdifferenziert und prozessorientiert auf soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte bezieht, könnten so manche Thesen von Ronald Lutz ertragreich weitergeführt werden: Mittels einer „ […] normativen Programmatik (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit etc. […] “ (Lutz 2011, S. 90) zur Erinnerung an die Aufgaben des Wohlfahrtsstaates und als Schutz vor der Radikalität der Marktkräfte (ebd.).
Fazit
Das Buch ist Teil einer intensiven kulturellen Suchbewegung in der Sozialen Arbeit, die sich dazu aufmacht, neue Antworten auf die sich immer mehr zuspitzende soziale Frage des 21. Jahrhunderts zu finden. Die Beiträge von Ronald Lutz liefern Denkanstösse sowie einen Einblick in den Ansatz und die Perspektiven der befreienden Pädagogik. Ein lesenswertes, zum Dialog und zur Auseinandersetzung inspirierendes Buch.
Rezension von
Prof. Dr. Veronika Hammer
Hochschule Coburg, University of Applied Sciences and Arts
Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit
Lehrgebiete: Sozialarbeitswissenschaft, Empirische Sozialforschung, Gesellschaftswissenschaftliche Grundlagen
Website
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