Heiner Ullrich: Rudolf Steiner. Leben und Lehre
Rezensiert von Dr. rer. soc. Wolfgang Widulle, 04.02.2011

Heiner Ullrich: Rudolf Steiner. Leben und Lehre. Verlag C.H. Beck (München) 2011. 266 Seiten. ISBN 978-3-406-61205-3. 19,95 EUR.
Autor
Heiner Ullrich, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Mainz, beschäftigt sich seit mehr als 25 Jahren aus Sicht der Erziehungswissenschaft mit der anthroposophischen Pädagogik. Seine kritische Bewertung, z.B. in „Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung“ (1991), hat die Diskussion über Rudolf Steiner und die Waldorfpädagogik maßgeblich beeinflusst. Seine wissenschaftlichen Arbeiten über die Waldorfschulen, z.B. „Autorität und Schule“ (in Helsper et.al 2007, bemühen sich um die seit langem notwendige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Steiner-Pädagogik. Ullrich gilt als einer von deren besten unabhängigen Kennern.
Thema
Die Waldorfpädagogik erfreut sich trotz seit Jahrzehnten anhaltender kritischer Diskurse um Okkultismus, Unwissenschaftlichkeit, weltanschauliche Bindung, reformpädagogischen Synkretismus oder rassistisch anmutende Aussagen ihres Gründers ungebrochener Beliebtheit: In Deutschland existierten 2010 220 Waldorfschulen, 527 Waldorfkindergärten und viele heilpädagogische und sozialtherapeutische Einrichtungen. In der Diskussion um die Waldorfpädagogik hingegen bekämpfen sich Apologeten und Kritiker heftig und polemisch und das nicht erst, seit Hans Leisegang noch zu Steiners Lebzeiten dessen Werke als „Hinterlassenschaft eines wirren, zwischen den äußersten Gegensätzen hin- und hergetriebenen Geistes“ und seine Anthropologie als „Wahnsinn mit Methode“ beurteilte (Leisegang 1922, 81). Über die Waldorfpädagogik finden sich entweder die Publikationen der Anhänger Steiners oder entschiedene, teils polemische Kritiken, ein fairer und kritisch-distanzierter Diskurs scheint zwischen Vertretern und Kritikern der Waldorfpädagogik sehr erschwert zu sein und von einer systematischen erziehungswissenschaftlichen Forschung zur Waldorfpädagogik kann trotz des Booms der empirischen Bildungsforschung in den letzten Jahren keine Rede sein. In den letzten Jahren scheint die Diskussion allerdings auch mehr Sachlichkeit zu erlauben und erste unabhängige empirische Arbeiten verbessern die immer noch dürftige Forschungslage um Konzepte und Wirkungen der Waldorfschulen.
Entstehungshintergrund
Die bisherigen Biographien Steiners stammen bis auf wenige Ausnahmen (Beckmannshagen 1984, neu aufgelegt 2008) aus der anthroposophischen Bewegung. Sie beschreiben Steiners Leben, wie dieser in seiner Autobiographie, frei von Brüchen und kritischen Aspekten und stellen damit eigentliche Hagiographien dar. Eine kritische und unabhängige Darstellung von Leben und Lehre Rudolf Steiners fehlte bisher. Das Buch von Ullrich füllt diese Lücke.
Aufbau und Inhalt
Kapitel 1 des Buchs, „Lebensgang und Gedankenwelt“, beschäftigt sich mit der Biographie Steiners und der Entwicklung und den Veränderungen seiner Gedankenwelt. Es beschreibt Steiners Kindheit und Jugend, seine Zeit als Student und Hauslehrer in Wien, seine Zeit am Goethe-Archiv in Weimar und die von Steiner selbst als „Höllenfahrt“ bezeichnete Zeit in Berlin. Daran schließt sich die Begegnung mit der Theosophie und Steiners Zeit als Generalsekretär der theosophischen Bewegung in Deutschland an, sowie der Bruch mit Blavatzky und die Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft. Die letzten beiden Teilkapitel beschreiben den Weg nach Dornach und die Etablierung der Anthroposophie als Reformbewegung bis zu Steiners Tod 1925. Der Autor verknüpft dabei die Biographie und den Werdegang Steiners kenntnisreich und erhellend mit dem zeit- und geistesgeschichtlichen Kontext.
Kapitel 2 beschreibt die Lehre Steiners und gibt für interessierte Außenstehende eine gut verständliche und dichte Einführung in das erkenntnistheoretische Frühwerk, in die Grundzüge der Anthroposophie und deren wichtigste Anwendungsfelder.
Kapitel 3 befasst sich mit der Rezeption Steiners. Ullrich kritisiert hier sowohl die einseitige und unkritische Rezeption der Steiner-Anhänger („unkritische Orientierung ohne Distanz“) wie auch die Gegner („polemisch“) und das Übermaß an Betroffenheit und Parteinahme beider. Er leistet weiter eine Kritik von Steiners Werks aus der Sicht einer modernen Wissenschaftskonzeption: Er beschreibt die „Grenzenlosigkeit“ der Anthroposophie und belegt sie anhand ihrer Missverständnisse zur Erkenntnistheorie, Anthropologie und Ethik. Im Anschluss an Bachelard 1978 und Cassirer 1977 weist er der anthroposophischen „Geisteswissenschaft“ die Rückfälle in vorwissenschaftliches und mythisches Denken nach. Schließlich legt er die Anthroposophie detailliert und überzeugend als moderne Form der esoterischen Strömung der Gnosis dar, die statt „Leistungs- oder Bildungswissen“ vor allem „Heils- und Erlösungswissen“ erzeugt. Als Resümee bleibt, dass die anthroposophische „Geisteswissenschaft“ nicht die Erweiterung wissenschaftlicher Forschung ist, sondern deren Verabschiedung. Das Kapitel schließt mit einer kritischen Auseinandersetzung zur Rassenlehre und Völkerpsychologie Steiners, die zu heftigen öffentlichen Kontroversen geführt hatte (Bierl 1999; Bader & Ravagli 2002). Zu dieser Kontroverse gibt der Autor ein differenziertes, gut begründetes und kritisch-faires Urteil ab.
Kapitel 4 beschreibt die Waldorfpädagogik auch für Aussenstehende gut verständlich und differenziert. Ullrich grenzt die Waldorfpädagogik gegen die Reformpädagogik ab und bewertet sie als Schule aus einem einheitlichen Geist, dem der Anthroposophie, er unterstützt damit die These vieler anderer Autoren zur Waldorfpädagogik als weltanschaulich-esoterische pädagogische Bewegung. Er würdigt aber auch die Errungenschaften der Waldorfpädagogik, besonders im Bereich der Camphill-Bewegung. Das Schlusskapitel „Wirklichkeit und Wirkungen der Waldorfpädagogik“ bewertet anhand dreier unabhängiger Studien die soziale Herkunft und Lernerfolge der Waldorfschüler, berufliche Entwicklungen von Waldorf-Absolventen und die Lehrer-Schüler-Beziehungen an Waldorfschulen. Angesichts des geringen Anteils von Schülern aus Migranten- und bildungsfernen Bevölkerungsanteilen und der Bildungsnähe der Herkunftsfamilien sind die Ergebnisse der Schulleistungstests von Waldorfschülern unterdurchschnittlich. Die sozialen Kompetenzen und Leitziele demokratischer Erziehung sind eher überdurchschnittlich, was bei der sozialen Herkunft von Waldorfschülern aus der gehobenen, akademisch gebildeten Mittelschicht kaum erstaunen kann. Die berufliche Zukunft von 58 % der Waldorfschüler als Hochschulabsolventen erstaunt ebenfalls nicht, die Präferenz für diesen späteren Bildungserfolg setzt das soziale Umfeld, speziell die Familie und kaum die Waldorfschule. Die eher wirtschaftsfernen beruflichen Präferenzen führen sie in akademische, künstlerische, medizinisch-therapeutische, pädagogische und sozialpflegerische Berufe. Die an der Waldorfschule hochbedeutsamen und langjährigen Lehrer-Schüler-Beziehungen werden in der dritten Studie beschrieben. Waldorflehrer nehmen weit jenseits der an öffentlichen Schulen normalen Beziehungserwartungen die Rolle einer biographisch bedeutsamen Bezugsperson ein, ihre Macht ist wie an keiner anderen Schulform faktisch unbeschränkt. Dies führt zu Risiken von Spannungen und Konflikten besonders für Schüler, die hohe Leistungsmotivation, frühe Selbständigkeitserwartungen und starke jugendkulturelle Orientierungen mitbrächten. Ullrich warnt vor der Entgrenzung und Intimisierung der pädagogischen Beziehung, die Gefahr läuft, Schüler für die Nähe-Bedürfnisse und persönlichen Ambitionen des Lehrers zu instrumentalisieren und die adoleszente Ablösung zu erschweren. Resümierend beschreibt Ullrich die Waldorfschulen als pädagogische Gegenwelten im primär bildungsbürgerlich-alternativen Sozialmilieu, die eine Gegenbewegung zur Rationalisierung, Standardisierung und Leistungsorientierung der öffentlichen Schulen, aber auch zum Verlust an personalen Vorbildern und verlässlichen Wertorientierungen darstellen. Er kritisiert dies als reflexive Entmodernisierung der Schule und erklärt die Anziehungskraft der Waldorfpädagogik mit den Risiken der Modernisierung und der rationalitäts- und modernisierungskritischen Haltung von Familien, die unter den Lasten und Risiken des gesellschaftlichen Wandels und der Modernisierung leiden.
Diskussion
Das Buch beschreibt Leben und Lehre Steiners kenntnisreich und differenziert, es verweigert sich der in vielen anderen kritischen Werken häufigen Polemik und würdigt die Leistungen, zeigt aber auch die Risiken und Grenzen vor allem der Waldorfpädagogik nüchtern, fair und kritisch auf. Die Photos, Originaldokumente und -texte geben einen sehr guten Einblick in das Leben und Werk Steiners. Das Buch ist gut verständlich geschrieben und trotz des komplexen und teils sehr verwirrenden Theoriegebäudes der Anthroposophie sehr gut lesbar. Ullrich enthält sich des bei Kritikern häufigen Generalverdikts und setzt konsequent auf wissenschaftliche Standards von Beschreibungen und Bewertungen, die prinzipielle Ergebnisoffenheit und Unabgeschlossenheit wissenschaftlichen Denkens und Beurteilens wird auch in der Selbstanwendung ernst genommen. Ullrichs Schlussfolgerungen sind aber deutlich: Die anthroposophische „Geisteswissenschaft“ wird als esoterische Spekulation und mythisch-vorwissenschaftliches Denken beschrieben und die Waldorfpädagogik als deren konsequente Verlängerung ins Pädagogische. Der esoterische Hintergrund und die ausserordentliche Geschlossenheit des anthroposophischen Universums machen die Waldorfpädagogik zu einem an moderne Pädagogik und Psychologie kaum anschlussfähigen Konzept.
Der Kommentar des Rezensenten zu den Ergebnissen des Buchs: Wenn man im Sinne Luhmanns von autopoietischen, selbstreferentiellen und operativ geschlossenen Systemen sprechen will, wäre die Waldorfpädagogik nach Ullrichs Belegen ein gutes Beispiel dafür, wie Impulse von jenseits der Systemgrenze nicht oder wenn, dann ausschließlich unter der Prämisse eigenen Systemreferenzen absorbiert, nicht aber rezipiert (!) werden, wie z.B. die Immunität gegen die Kritik der vorwissenschaftlichen Jahrsiebte- oder Temperamentenlehre zeigt. Dies erschwert sowohl die Öffnung der Waldorfpädagogik für sozialwissenschaftliche Ergebnisse wie auch den Dialog zwischen Waldorfpädagogik und Wissenschaften. Dialog und Öffnung der Waldorfpädagogik werden so vermutlich prekär bleiben und wie in bereits bekannten Fällen der Kritik an der Anthroposophie, z.B. der Polemik von Ravagli gegen Zanders „Anthroposophie in Deutschland“ (2007) werden sie von den Hütern der reinen anthroposophischen Lehre wohl erschwert werden. Auf valide wissenschaftliche Ergebnisse zu Leistungen und Grenzen der Waldorfpädagogik wird man also warten müssen. Vielleicht finden sich in Zukunft aber doch vermehrt Waldorfschulen, die ihre Türen für kritische und unabhängige Prüfung der Wirkungen ihrer Pädagogik öffnen und Erziehungswissenschaftler, sich vor den mythischen Labyrinthen anthroposophischer Theorien nicht scheuen. Drei ermutigende Beispiele für Öffnung und kritischen Dialog zeigt Ullrich bereits auf.
Fazit
Ein kritisch-unabhängiges, faktenreiches und sehr lesenswertes Buch, das jenseits von Apologese oder Polemik ein verständliches, präzises und faires Bild von Rudolf Steiner und der Waldorfpädagogik vermittelt. Geeignet scheint es dem Rezensenten für alle, die sich erstmals für Steiner und die Waldorfpädagogik interessieren, für Eltern, die sich die Wahl einer Waldorfschule für ihre Kinder überlegen und für Studierende und Praktiker der Pädagogik, die sich ein unabhängiges Bild von Rudolf Steiner und der Waldorfpädagogik verschaffen wollen.
Literatur
- Beckmannshagen, Fritz (1984). Rudolf Steiner und die Waldorfschulen: eine psychologisch-kritische Studie. Wuppertal: Paul-Hans Sievers. Unveränd. Neuaufl. unter: http://www.vordenker.de/anthroposophiekritik/f-beckmannshagen_r-steiner-waldorfschulen.pdf
- Bader, Hans/Ravagli, Lorenzo & Leist, Manfred (2002). Anthroposophie und der Antisemitismusvorwurf: Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben.
- Bierl, Peter (2005). Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister: Die Anthroposophie Rudolf Steiners und die Waldorfpädagogik. Hamburg: Konkret Literatur Verlag.
- Helsper, Werner/Ullrich, Heiner/Stelmaszyk, Bernhard/Höblich, Davina/Graßhoff, Gunther & Jung, Dana (2007). Autorität und Schule: die empirische Rekonstruktion der Klassenlehrer-Schüler-Beziehung an Waldorfschulen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
- Leisegang, Hans (1922). Die Grundlagen der Anthroposophie: Eine Kritik der Schriften Rudolf Steiners. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt.
- Ullrich, Heiner (1991). Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung: eine bildungsphilosophische und geistesgeschichtliche Auseinandersetzung mit der Anthropologie Rudolf Steiners. Weinheim: Juventa. 3. Aufl.
- Zander, Helmut (2007). Anthroposophie in Deutschland: theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884-1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Rezension von
Dr. rer. soc. Wolfgang Widulle
Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Olten/Schweiz
Institut Beratung, Coaching und Sozialmanagement
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