Zafer Şenocak: Deutschsein
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 26.04.2011
Zafer Şenocak: Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift. Edition Körber (Hamburg) 2011. 180 Seiten. ISBN 978-3-89684-083-7. 16,00 EUR.
„Integration ist keine mechanische Anpassung…“
sondern „sie ist, wenn sie Erfolg versprechen soll, ein Einfühlen, ein Hineindenken“. Die Erwartungen und Forderungen an Menschen, die in einer (fremden) Mehrheitsgesellschaft leben, sich den gegebenen Sitten, Normen und kulturellen Gegebenheiten anzupassen, gründen ja auf ganz unterschiedlichen Positionen. Sie reichen von der rigorosen Aufforderung zur Assimilation – „Wenn ihr hier bei uns leben wollt, müsst ihr so werden wie wir“ – bis hin zu der Auffassung, dass die unterschiedlichen kulturellen Identitäten eine Gesellschaft bereichern und weiter entwickeln – „Die Vielfalt machts!“. Zwangsläufig ergeben sich daraus Kontroversen im gesellschaftlichen Diskurs, wie die Wege zur Integration der Zugewanderten aussehen sollten. Dabei gilt für die Einheimischen ein Maßstab, der Eigenes und Fremdes misst: Je ähnlicher die Fremden im Aussehen, der Kleidung und im Verhalten dem Eigenen sind, desto bereitwilliger werden sie wohlwollend– wenn auch distanziert – betrachtet; und je andersartiger sie sind, um so misstrauischer und ablehnender werden sie wahr genommen.
Der wissenschaftliche Diskurs über Integration, Migrations-, Einwanderungspolitik und globale Wanderungsbewegungen nimmt mittlerweile einen breiten Raum ein; auch von den „Angekommenen“ gibt es lyrische, belletristische und fachbezogene Äußerungen darüber, wie sie sich in ihrer „neuen Heimat“ fühlen. Sie werden von den „Eingesessenen“ sowohl als Bestätigung der Anstrengungen um Integration beklatscht, als auch als „Nestbeschmutzung“ abgewertet. Betrachtet man die kritisch-positiven Positionen in dieser Diskussion, wird darauf hingewiesen, dass das Ziel eines humanen Miteinanders, lokal und global, ein gleichberechtigtes, gegenseitiges und dialogisches Einflussnehmen sein müsse, das (auch) die eigene kulturelle Identität stärke, ergänze und bereichere ( vgl. dazu: Michael Thoss, Hrsg., Das Ende der Gewissheiten. Reden über Europa, München 2009, in: socianet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/7917.php). Die schwierige Suche danach, wie eine kollektive Identität aussehen solle, treibt ja die seltsamsten Blüten, die sich als die Forderung nach einer „Leitkultur“ darstellen, und als sozialpsychologische Reflexionen auf den Boden der gesellschaftlichen Wirklichkeiten gebracht werden ( siehe dazu: Ulrich Bahrke, Hrsg., Denk ich an Deutschland… Sozialpsychologische Reflexionen., www.socialnet.de/rezensionen/9334.php). Denn es ist die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, die die Menschlichkeit herausfordert, aber auch die jeweilige Befindlichkeit nach der „Freiheit, die ich meine“ ( vgl. dazu: Wolfgang Klein, Hrsg., „Freiheit. Ich verstehe das Wort nicht, weil ich sie nie entbehren musste“. Junge Autoren auf der Suche nach Europa und seinen Werten, Berlin 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8682.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Der reflektierte, literarische Lebens- und Erfahrungsbericht des 1962 in Istanbul geborenen, 1970 mit seinen Eltern in das oberbayerische Murnau und danach nach München gekommenen und seit 1989 in Berlin lebenden Schriftstellers Zafer Şenocak ist ein Beleg dafür, was „Ankommen“ in einer Mehrheitsgesellschaft heißt, wenn der Zugewanderte nicht von vornherein Ablehnung und Distanz erfährt, sondern Zuwendung und Empathie. Das ist ein Glücksfall und kann nicht von vornherein als Normalfall im Integrationsprozess angesehen werden. Am Anfang dieser positiven Entwicklung hin zu einer gelingenden Integration stand für den Autor eine alte deutsche Nachbarin, die zudem eine pensionierte Lehrerin war. Es ist ein Zugang, der beim Fremdsprachenlernen allzu oft vernachlässigt wird: „Mit Fleiß lässt sich jede Fremdsprache bis zu einem gewissen Grad erlernen. Wer aber in den Genuss einer fremden Sprache kommen möchte, braucht Hingabe“. So sind die Erinnerungen des deutschen Schriftstellers an sein Deutsch Lernen der längst in Deutsch schreibt, nicht Vokabelhefte und langweiliger Fremd(Deutsch-)sprachunterricht, sondern das Halbdunkel einer kleinen Wohnung und der Geschmack von Kaffee und Kuchen, den der kleine Deutschlerner kosten durfte, wenn er fleißig und aufmerksam war; denn „das Sprachgefühl ist der Kompass zur Heimatfindung“. Denen, die im Übereifer und in ethnozentrierter Überheblichkeit fordern, dass die Menschen, die aus anderen Kulturen nach Deutschland zugewandert sind, ausschließlich und ohne Vorbehalt die deutsche Sprache erlernen und ihre Herkunftssprache möglichst schnell vergessen und nicht mehr anwenden sollten, schreibt er ins Stammbuch: „Es kann keine Entscheidung für die eine oder anders Sprache geben, wenn Muttersprache und Landessprache nicht identisch sind. Denn das Zuhause ist zweisprachig“.
Aufbau und Inhalt
Seine „Aufklärungsschrift“ gliedert Zafer Şenocak in mehrere Kapitel, immer ausgehend von seinen eigenen Erinnerungen und Erfahrungen als Deutsch-Türke. Sprache braucht Geborgenheit und das Gefühl des Angenommenwerdens und Angekommenseins. Er zeigt den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft die Möglichkeiten und Chancen auf, die von Außen Beobachtende, also erst einmal „Fremde“ haben können, die „deutsche Identität“ anders, kritischer und sensibler wahr zu nehmen als die Einheimischen, die Tabus anzusprechen und auf die Gefahren hinzuweisen, die sich durch eine unreflektierte und gefährliche Phantasie vom „Deutschsein“ ergeben. Er deckt die irrationalen Ängste und Befürchtungen auf, die sich in den ethnozentrierten und rassistischen Parolen der Rechtspopulisten nieder schlagen und suggerieren, dass die „deutsche Kultur“ etwas Monolithisches,, Zementiertes, Unverrückbares und Unantastbares sei. „Atonalität“ nennt der Autor das. Und er zeigt dabei nicht nur auf die Eingesessenen, sondern auch auf seine Landsleute und hier insbesondere auf die scheinbar Aufgeklärten, aber Oberflächlichen, die weder in der Herkunfts-, noch in der zugewanderten Kultur heimisch sind: „Sie gleiten lieben, als dass sie tauchen“. Das Jahrzehnte lange Ignorieren, dass (auch) Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass dies auch für die Einheimischen ein „Einwandern“ in die kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen erforderlich machen, korrespondiert mit der Herausforderung, den lokalen und globalen, historischen und zivilisatorischen, kulturellen und transkulturellen Wandel aktiv und aufgeklärt mit zu gestalten, nicht als „Einheit“, sondern in der Vielfalt; auch bedenkend, wie viel Transkulturalität eine Kultur verträgt ( vgl. dazu: Willi Jasper, Hg., Wieviel Transnationalismus verträgt die Kultur? Berlin 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8437.php).
Um Boden unter die Füße zu bekommen und die Wurzeln und Sprießlinge zu erkennen, die das Leben ermöglichen, hilft der sensible Blick auf die Lyrik, die der Schriftsteller nicht nur selbst liest, sondern auch schreibt, weil Sensibilität daraus wächst – und das Zauberwort: Gelassenheit, das, wenn es gepaart ist mit Selbstbewusstsein und Identität, tatsächlich zum kulturellen Messinstrument werden kann. In diesem Zusammenhang haben auch Platz die Aufgeregtheiten und interreligiösen und weltanschaulichen Suchbegriffe, die sich im Verhältnis von christlichen Leitvorstellungen und muslimischen Fundamentalismen darstellen ( vgl. dazu: Patrick Bahners, Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam, München 2011, in: www.socialnet.de/rezensionen/11268.php). Warum soll es in der Migrations- und Integrationsdebatte nur den einen – einzig richtigen? – Weg der Anpassung und Assimilation geben? ( siehe dazu: Jutta Aumüller: Assimilation. Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept, Bielefeld 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8169.php). Nicht nur, weil Deutschlands Zukunft ohne Einwanderung nicht nachhaltig denkbar, sondern auch, weil die Menschheit ohne Menschlichkeit nicht existenzfähig ist, müssen wir uns trauen, den empathischen Blick, den Handschlag als Zeichen des Willkommens und Angenommenseins seitens der Mehrheitsgesellschaft zu den Minderheiten zu wagen; genau so, wie wir erwarten können, dass die Zugewanderten die aufgeklärte, zivilisatorische Geste der Humanität kennen und anwenden.
Fazit
Wenn Cenk, der 6-jährige Enkel des in den 1960er Jahren nach Deutschland eingewanderten und hier gebliebenen „Gastarbeiters“ Hüseyin Yilmaz den Opa fragt: „Was bin ich eigentlich – Deutscher oder Türke?“, weil er seine türkisch sprechenden Großeltern nur noch rudimentär versteht (vgl. dazu den amüsanten und die Stimmung und Situation der Deutsch-Türken vorzüglich darstellenden Film: „Almanya – Willkommen in Deutschland“), wird der Wandlungsprozess der Einwanderung in den vielfältigen Facetten und Problemlagen deutlich. Zafer Şenocak, der deutsche Schriftsteller türkischer Herkunft, referiert in seiner „Aufklärungsschrift“ keine wissenschaftlichen Forschungsergebnisse zur Thematik der Migration und Integration; es ist eine „Erinnerungsschrift“, in der der Autor die zahlreichen, positiven und negativen Erfahrungen von Eingewanderten nach Deutschland gewissermaßen am eigenen Leibe beschreibt. Dass darauf keine „Anklageschrift“ geworden ist, hat sicherlich mit den überwiegend positiven Erfahrungen des Autor zu tun, seinen Fähigkeiten zur Anpassung, ohne angepasst zu sein, seines Intellekts zur Reflexion und zur Relativierung, seiner schriftstellerischen Gabe zur kritischen Beschreibung – und nicht zuletzt mit seiner Empathie! Die „Denk“-Schrift „Deutschsein“ ist zu übersetzen in „Menschsein“, und deshalb ein guter Beleg für eine gelingende Integration und interkulturelle Identitätsfindung.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1667 Rezensionen von Jos Schnurer.
Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 26.04.2011 zu:
Zafer Şenocak: Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift. Edition Körber
(Hamburg) 2011.
ISBN 978-3-89684-083-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10870.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.