Günter Mey, Katja Mruck (Hrsg.): Handbuch qualitative Forschung in der Psychologie
Rezensiert von Prof. Dr. phil Marianne Schmidt-Grunert, 05.05.2011
Günter Mey, Katja Mruck (Hrsg.): Handbuch qualitative Forschung in der Psychologie. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2010. 858 Seiten. ISBN 978-3-531-16726-8. 59,95 EUR.
Thema
Bei dieser Publikation handelt es sich um ein Handbuch, das Forschenden, Lehrenden und Studierenden der Psychologie einen einführenden Überblick über unterschiedliche Bereiche und Zuständigkeiten qualitativer Forschung vermittelt. Der Frage, inwiefern dieses Handbuch auch für Lehrende und Studierende der Sozialen Arbeit hilfreich sein kann, soll mit dieser Rezension nachgegangen werden.
Herausgeber und Herausgeberin
Die beiden Herausgeber leiten das Institut für Qualitative Forschung der internationalen Akademie der FU Berlin und sind Herausgebende der internationalen Open-Access-Zeitschrift „Forum Qualitative Sozialforschung“. Dr. Katja Mruck leitet den Arbeitsbereich Open Access im Center für Digitale Systeme an der FU Berlin. Dr. Günter Mey ist Professor für Entwicklungspsychologie an der Hochschule Magedeburg-Stendal.
Hintergrund
Die geisteswissenschaftliche Disziplin Psychologie hat das Subjekt zum Gegenstand mit dem Fokus auf dessen „Innerlichkeit“. Anders gesagt: Psychologen versuchen psychologische Erklärungen dafür zu finden, wie sich Alltagsverhalten einzelner Menschen, Gruppen oder auch Gesellschaften begründen könnte. Um psychologische Hilfen oder sozialpädagogische Hilfen zur Alltagsbewältigung entwerfen zu können, sind Kenntnisse über das Alltagsbewusstsein der Hilfesuchenden unabdinglich, will man nicht im Sinne einer „Kolonialisierung“ (Habermas) deren Lebensgestaltung fremd bestimmen. Die Instrumente qualitativer Forschung ermöglichen einen differenzierten Zugang zu subjektiven Deutungen von Alltagserfahrungen selbstreflexiver Subjekte und zugleich weisen diese auf kollektive Bezüge hin. Qualitative Forschung richtet sich also stets auf das vergesellschaftete Subjekt, das mit Normalitätszumutungen - die gesellschaftlich vorgegeben sind - umgehen muss und unterschiedliche Strategien zur Bewältigung des Alltags entwirft, diese gelingen mitunter, weitaus häufiger misslingen sie heute. Hier sind Schnittstellen zum Gegenstand Sozialer Arbeit mit dem Fokus auf subjektive Strategien der Lebensbewältigung unmittelbar angesiedelt.
In der Einleitung des Handbuches weisen die Herausgeber Mruck und Mey darauf hin, dass Qualitative Forschung heute - nach langjährigen Kontroversen mit den Vertretern Quantitativer Forschung - als eigenständige Forschungsausrichtung im erziehungswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Wissenschaftskontext anerkannt sei. Für den Bereich der Psychologie träfe dies allerdings so nicht zu. Weitere Erläuterungen dazu gibt Franz Breuer im ersten Beitrag des Handbuchs, in dem er die aktuelle Situation in Abgrenzung zu den 1960er Jahren so charakterisert: „In der heutigen Landschaft der Psychologie sind interpretative bzw. qualitative Methodologien an den Rand gedrängt…Vertreter/innen einer qualitativ-sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsauffassung haben sich mit einem Mainstream von auf Gesetzeserkenntnis nach dem naturwissenschaftlichen Modell orientierter Methodologie auseinanderzusetzen und ihr gegenüber zu rechtfertigen.“ (S.35). Dies ist für die Herausgeber und Autoren des vorgelegten Handbuches Anlass wie auch Herausforderung, sehr gut strukturiert und übersichtlich unterschiedliche qualitative Forschungsmethoden darzustellen und in ihrer speziellen Bedeutung für die Psychologie zu diskutieren.
Thema und Aufbau
Das Handbuch gibt in fünf Teilen und 60 Beiträgen einen umfassenden Überblick über Qualitative Forschung in der Psychologie. Teil eins bis vier stellen systematisch die Forschung in den verschiedenen methodischen Ansätzen dar.
- Teil 1: Positionen und Traditionen – Theoretische und methodologische Grundlagen
- Teil 2: Methodologische Ziellinien und Designs qualitativ-psychologischer Studien
- Teil 3: Erhebung
- Teil 4: Auswertung
- Teil 5 befasst sich mit neun ausgewählten Anwendungsfeldern der Psychologie.
Nach den einzelnen Beiträgen findet sich eine Liste weiterführender Literatur und ein Literaturverzeichnis zum jeweiligen Text. Ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren sowie ein Sach- und Personenregister machen es dem Leser leicht, mit dem Handbuch zu arbeiten.
Inhalt und Diskussion
Teil 1: Positionen und Traditionen – Theoretische und methodologische Grundlagen
vermittelt über dreizehn Artikel Einblicke in ein breites Spektrum qualitativer Forschung ganz allgemein. Dies ist auch einleuchtend, da sich qualitative Forschungsmethoden in sozialwissenschaftlichen Kontexten etabliert haben und in unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen beheimatet sind, wo sie auf jeweils relevante disziplinäre Forschungsgegenstände bezogen werden können. So betrachtet können für Studierende der Sozialen Arbeit alle Artikel hilfreich sein, um deren Bedeutung für das eigene Forschungsvorhaben einschätzen zu können. Eine vertiefende Befassung mit der jeweiligen Thematik kann im Kontext sozialarbeiterischer Handlungs- und Forschungsbezüge erfolgen. So sollte im Studium Sozialer Arbeit die „Entdeckung“ der Lebenswelten von Adressatinnen Sozialer Arbeit als an sich Fremdes durch „Sozialprofis“ Teil des Professionalisierungsprozesses sein. Einführungen und Module zur Praxisforschung bilden deshalb einen Teil des Curriculums der Fachhochschulen. Die von Gerhard Kleining im ersten Teil des Handbuches vorgestellte und von ihm entwickelte „Qualitative Heuristik“ (65-78) kann als eine „entdeckende Methode“ diesem Anspruch gerecht werden. Diese versucht, „den ganzen Forschungsprozess auf das Erkennen des Forschungsgegenstandes im Subjekt-Objekt-Verhältnis zu optimieren“ (67), dafür werden „vier Regeln“ vorgegeben, die klar bestimmt sind und im Verhältnis zueinander stehen und es werden Möglichkeiten der „Textanalyse“ erörtert (71 ff.). Implizite Schwierigkeiten werden abschließend anschaulich vorgestellt.
Jürgen Straub zeigt in dem Artikel „Handlungstheorie“ (107-122) deren historisch wissenschaftliche Bedeutung auf, führt in durchaus unterschiedliche Grundannahmen ein und beleuchtet Erklärungszugänge zu Handlungen aus verschiedenen Perspektiven. Dabei werden vielfältige Aspekte angesprochen, die Handlungen motivieren können.
Im fachwissenschaftlichen Studium Sozialer Arbeit ist die Vermittlung von Handlungstheorien fester Bestandteil, es handelt sich um Theorien, die Handlungen der Menschen erklären und Gründe dafür aufzeigen wollen. Bedeutsam für Soziale Arbeit sind hier vor allem die Hinweise auf Handlungstheorien, die „ an den Einsatz qualitativer, rekonstruktiver und interpretativer Verfahren gekoppelt sind“ (111).
Teil 2: Methodologische Ziellinien und Design qualitativ-psychologischer Studien
gibt mit 15 Artikeln einen einführenden Überblick über methodologische Implikate wie z.B. „Gütekriterien qualitativer Forschung“, „Ethik“ und stellt Forschungsmöglichkeiten vor wie z.B. „Qualitatives Experiment“, „Qualitative Online-Forschung“ und „Evaluationsforschung“ und befasst sich sich mit „Lehren und Lernen qualitativer Forschungsmethoden“.
Dieser Beitrag von Breuer und Schreier (408-420) zur Didaktik und qualitativer Methodik in der Ausbildung von Psychologen ist ebenso für die Lehre an Hochschulen Sozialer Arbeit von Interesse, da die Autoren zusammentragen, was es zur institutionellen Absicherung der Lehre qualitativer Forschungsmethoden, zur Durchführung und Betreuung von Lehrforschungsprojekten und zur Kompetenzvermittlung zu beachten gilt.
Fallbezüge ziehen sich wie ein roter Faden durch das Studium Sozialer Arbeit, sie können als das Scharnier zwischen Theorie und Praxis verstanden werden. So wird der Beitrag von Margrit Schreier für Studierende und Lehrende Sozialer Arbeit nützlich sein können, in dem sie unterschiedliche Möglichkeiten der „Fallauswahl“ (238-251) in Bezug auf einzelne, mehrere Personen und Gruppen erläutert und die Problematik qualitativer Fallauswahl in Abgrenzung zur quantitativen Stichprobe diskutiert. Während Interpretationen mit qualitativen Forschungsdesign zu Einzelfällen in der Literatur zur Sozialen Arbeit vielfach vorliegen, stellen qualitativ ausgerichtete Gruppenfallanalysen noch immer ein Desiderat dar (vgl. Schmidt-Grunert,M., 2009: Soziale Arbeit mit Gruppen S. 255-280, Kap.11: Die Qualitative Fallbesprechungsmethode: Gruppenfallanalyse).
Andreas Witzel stellt ein „Längsschnittdesign“ (290-303) mit qualitativer Ausrichtung vor.
Dies ist nicht selbstverständlich, da Längsschnittstudien bislang vorwiegend mit quantitativen Methoden durchgeführt werden und qualitative Methoden „nur eine untergeordnete Rolle“ (291) spielen. Nach einer kurzen Darstellung „theoretischer und methodologischer Prämissen“ und Überlegungen zur „Planung von Längsschnittstudien“ werden zentrale Diskussionen zur Thematik aufgegriffen. An einem empirischen Beispiel werden „Planung und Design“, die Erhebung und Auswertung kurz vorgestellt. Deutlich wird dabei, dass qualitative Längsschnittstudien sehr arbeitsaufwändig sind und auch im Bezug auf Zeitintensität für Studierende der Sozialen Arbeit wahrscheinlich nur im Masterstudium durchführbar sind. Gerade im Kontext von Biografiearbeit sind hier allerdings interessante Forschungsprojekte anzusiedeln.
Teil 3: Erhebung
stellt unterschiedliche Erhebungsinstrumente im qualitativen Kontext in neun Artikeln vor: Interviews, Gruppendiskussion, Beobachtung, Ethnografie, Lautes Denken, Introspektion, Dialog-Konsens-Methode, Grid-Methodik und Rollenspiel.
Aglaja Przyborski und Julia Riegler führen mit „Gruppendiskussion und Fokusgruppe“ (436-448) in eine ehemalige Domäne der Marktforschung ein. Nach einer historischen Zuordnung mit Verweisen auf die Erhebung „kollektive(r) Wissensbestände und kollektive(r) Strukturen“ (439) durch Gruppendiskussionen und Möglichkeiten der „dokumentarischen Methode“ nach Bohnsack zur Auswertung der erhobenen Daten werden Möglichkeiten einer „forschungspraktischen Umsetzung“ wie auch „wichtiger Einsatzfelder“ erörtert und an einem kurzen Forschungsbeispiel veranschaulicht.
In der Praxis Sozialer Arbeit finden Gruppendiskussionen tagtäglich in den unterschiedlichsten Kontexten statt, bekannt ist auch, dass diese nicht nur mitunter ein hohes Konfliktpotential beinhalten. Praxisforschung und Evaluation im Bezug auf Gruppen findet sich allerdings im disziplinären Kontext Sozialer Arbeit kaum.
Klaus Konrad führt in die Erhebungsmethode „Lautes Denken“ (476-490) ein. „Durch Lautes Denken soll der (Verarbeitungs-) Prozess untersucht werden, der zu mentalen Repräsentationen führt“ (476). Entstehungsgeschichte, Grundannahmen, Arten des Lauten Denkens und aktuelle Anwendungen werden - durch Beispiele veranschaulicht - vorgestellt, womit ein guter Einblick in diese weniger bekannte Methode qualitativer Forschung gegeben wird, die auch im Bereich der Kinder- und Jugendforschung (Lernforschung) sinnvoll einzusetzen ist.
Teil 4: Auswertung
vermittelt anhand von 13 Artikeln einen guten Überblick über Möglichkeiten der Auswertung qualitativer Daten bis hin zur Computergestützten Analyse. Die vorgestellten Auswertungsverfahren sind alle aus der sozialwissenschaftlichen qualitativen Forschung bekannt, die Bedeutung für die Psychologie wird jeweils gut nachvollziehbar ausgewiesen.
Philipp Mayring stellt die „Inhaltsanalyse“ (601-613) vor, die sich vielfach bewährt hat.
Für Soziale Arbeit ist dies eine Auswertungsmethode, die klar strukturiert und bei zeitlich eingegrenzten Forschungsprojekten und für „Auswertungsnovizen“ hilfreich ist.
Günter Mey & Katja Mruck führen in die „Grounded-Theory-Methodologie“ ein (614-626).
Dieser Artikel gibt einen Überblick über die Entwicklung und unterschiedlichen Selbstverständnisse von Barney Glaser und Anselm Strauss, den Begründern der Grounded Theory, durch eine Gegenüberstellung der verschiedenen Vorgehensweisen. Damit verbundene mögliche Schwierigkeiten und Missverständnisse werden in dem Artikel diskutiert, auch wird die aktuelle Diskussion vorgestellt bis hin zu den Möglichkeiten eines „Methodenmixes“.
Da die „Grounded-Theory“ die alltägliche Praxis aufgreift und aus ihr theoretische Konzepte entwickelt, ist dies ein Forschungsweg, der für Soziale Arbeit im Bezug auf Praxis- und Handlungsforschung geeignet ist, relevante fachwissenschaftliche Theorien Sozialer Arbeit direkt aus der professionellen Handlungspraxis zu entwickeln. Anwendungsbeispiele dazu - Gruppengespräche aus dem Arbeitsfeld „Heim“ und „Knast“ nach der „Grounded Theory“ erhoben, analysiert und interpretiert - finden sich in Schmidt-Grunert, M. 2005: Das Gruppengespräch in der sozialen Arbeit.
Teil 5: Ausgewählte Anwendungsfelder
rechtfertigt den Titel des Handbuches, hier werden in neun Artikeln unterschiedliche Handlungsfelder der Psychologie vorgestellt, in denen qualitative Forschungsmethoden ihre jeweils spezifische Anwendung finden.
Teilweise sind die vorgestellten Anwendungsfelder genuin der Psychologie zuzuordnen, teilweise sind Schnittstellen zu Anwendungsfeldern Sozialer Arbeit vorhanden, so dass auch hier Anregungen für Studierende Sozialer Arbeit zu finden sind, wenn sie an eigenständig durchgeführter Forschung interessiert sind.
Fazit
Handbücher zur qualitativen Forschung liegen seit etlichen Jahren im Bereich der Erziehungswissenschaften und der Sozialwissenschaften vor. Das von Friebertshäuser/Prengel im Juventa-Verlag herausgegebene „Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft“ wird beispielsweise auch im Studium Sozialer Arbeit interessierten Studierenden als relevante Literatur empfohlen.
Mit dem „Handbuch Qualitativer Forschung in der Psychologie“ ist den Herausgebern und Autoren eine fachliche Bereicherung in der Landschaft der Handbücher zu qualitativer Forschung gelungen, die auch für Studierende Sozialer Arbeit von hoher Relevanz ist, da nach wie vor professionelle Soziale Arbeit in den meisten Arbeitsfeldern ohne „Beziehungsarbeit“ nicht möglich ist.
Rezension von
Prof. Dr. phil Marianne Schmidt-Grunert
Professorin für Theorie und Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule für angewandte Wissenschaft Hamburg, Fakultät Wirtschaft und Soziales, Department Soziale Arbeit; mit den Schwerpunkten Soziale Arbeit mit Gruppen, dem Studienschwerpunkt Kultur-Bildung-Medien, Sozialarbeitswissenschaft; empirische qualitative Methoden der Sozialforschung (Schwerpunkte: Grounded Theory und qualitative Evaluation von Gruppen)
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Es gibt 5 Rezensionen von Marianne Schmidt-Grunert.
Zitiervorschlag
Marianne Schmidt-Grunert. Rezension vom 05.05.2011 zu:
Günter Mey, Katja Mruck (Hrsg.): Handbuch qualitative Forschung in der Psychologie. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2010.
ISBN 978-3-531-16726-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10876.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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