Christoph Antweiler: Mensch und Weltkultur
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 22.02.2011
Christoph Antweiler: Mensch und Weltkultur. Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung.
transcript
(Bielefeld) 2010.
270 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1634-7.
29,80 EUR.
Reihe: Der Mensch im Netz der Kulturen - Humanismus in der Epoche der Globalisierung / Being Human: Caught in the Web of Cultures - Humanism in the Age of Globalization - 10.
Jeder Mensch trägt tagtäglich die Verantwortung für die Zukunft der Menschheit mit sich
Diese Prämisse drückt aus, was sich als Bewusstsein des Menschseins in der Einen Welt postuliert, mit dem Begriff der Universalität belegt wird und der Forderung nach einer globalen Ethik in der sich immer interdependenter, entgrenzender und planetarisch vernetzter Erde zum Ausdruck kommt. Es wird deshalb an der Zeit, das Menschheitsbuch nicht mehr nur mit lateinisch-eurozentrierten Lettern, sondern mit globalen (Uni-) Versalien zu schreiben. In der Kontroverse, die sich zwischen den philosophischen Vertretern einer universalistischen Ethik und denen des Postmodernismus auftut, wird insbesondere von letzteren die Befürchtung geäußert, dass das „souci de soi“, der Anspruch des Menschen auf eine Selbstverwirklichung zu einem guten Leben (Michel Foucault) durch die Verwirklichung des ethischen Universalismus (Karl-Otto Apel) leiden könnte. Es bedarf eines universellen Bewusstseins, das gründet in der Erkenntnis, dass die Menschheit eine gemeinsame Geschichte hat und einer gemeinsamen Zukunft bedarf aus der Überzeugung heraus, dass „der Mensch der entscheidende Faktor des modernen Universalismus ist und ihnen … ein Weltbewusstsein …abverlangt, das als untrennbarer Teil der eigenen Individualität empfunden wird“ (Mahmoud Hussein). Die Debatte um Partikularismus und Kosmopolitismus fokussiert die Frage nach der globalen Gerechtigkeit in der Welt ( vgl. dazu: Christoph Broszies / Henning Hahn, Hg., Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus, Frankfurt/M., 2010, in: socialnet Rezensionen, https://www.socialnet.de/rezensionen/10481.php). Die Frage, ob Universalität eine europäische Vision ist, eine hegemoniale Macht darstellt, oder als europäische Identität entwickelt werden muss ( siehe dazu auch: Michael Gehler / Silvio Vietta, Hrsg., Europa – Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, Böhlau Verlag, Wien 2009, in: socialnet Rezensionen unter https://www.socialnet.de/rezensionen/9268.php) bestimmt die Auseinandersetzung um Transkulturalismus und Transnationalismus ( siehe: Willi Jasper, Hrsg., Wieviel Transnationalismus verträgt die Kultur? Berlin 2009, in: socialnet Rezensionen, https://www.socialnet.de/rezensionen/8437.php ). Und die Behauptung, dass die Welt ein globales Dorf sei und man darin, mit dem (guten) Willen „Global denken, lokal handeln“, human leben könne ( vgl.: Josef Nussbaumer / Andreas Exenberger, Hrgs., Unser kleines Dorf. Eine Welt mit 100 Menschen, Kufstein 2010, in: socialnet Rezensionen, https://www.socialnet.de/rezensionen/10572.php ) wird mit Argumenten belegt.
Entstehungshintergrund und Autor
Doch der Trägheits- und Egoismuseffekt wirkt lokal und global mächtig. Als wesentliches Gegenargument gegen den Anspruch einer kosmopolitischen Entwicklung lautet z. B., dass die Suche nach einer Moral, die für alle Menschen gilt und von allen auch eingehalten werden muss, weder möglich noch sinnvoll sei, weil ethische Normen sich immer auf kulturelle Traditionen beziehen müssten (was z. B. zur Relativierung der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 proklamierten Werte und Normen führt). Die Conditio Humana macht es allerdings notwendig, eine gemeinsame, ethische und humane Orientierung der Menschen auf der Erde zu erreichen ( vgl. dazu: Jörn Rüsen, Hrsg., Perspektiven der Humanität, transcript Verlag, Bielefeld 2010, in: socialnet Rezensionen, https://www.socialnet.de/rezensionen/10385.php).
Da ist es begrüßenswert, dass der Bonner Kulturanthropologe Christoph Antweiler dafür plädiert, zu erkennen, dass die Menschen auf der Erde nicht in verschiedenen Welten, sondern verschieden in einer Welt leben. Dabei geht es ihm nicht in erster Linie darum, ein „Weltdorf“ zu fordern, auch keine Weltregierung; vielmehr macht er sich auf die Suche nach einem „inklusiven Humanismus“, was bedeutet, nicht eine unerfüllbare Utopie an die Wand zu malen, die den homo sapiens per se als perfekten Weltenmenschen darstellt, sondern nach Kulturuniversalien zu suchen, die den Menschen in seiner individuellen und kulturellen Vielfalt und Unterschiedlichkeit als Menschheit zeigt, als, wie es in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt, „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte“. Ein so verstandener „globaler Humanismus“ rekurriert nicht nur auf die Werte, die das kulturelle Dasein des Menschen bestimmen, sondern bemüht sich auch darum, „den Kontext, in dem diese stehen, zu verstehen“. Zwar kann diese Zuordnung leicht als Kulturrelativismus verstanden werden; doch mit dem anthropologisch fundierten, universalistischen, inklusiven Humanismus will der Autor aufzeigen, dass es nicht nur die kulturellen Spezifika und Unterschiede sind, die den Blick auf den Anderen richten, sondern vor allem die Ähnlichkeiten und Gleichheiten, die Gemeinsamkeit schaffen können.
Aufbau und Inhalt
Christoph Antweiler gliedert sein Buch, in dem er zu Beginn dem Leser deutlich sagt, was er damit nicht bezwecken will – keine Gleichmacherei und keine Cosmopolitan Correctness – in neun Kapitel. Den ersten Teil beginnt er mit einer ethnographischen Erzählung: „First Contact“, als Beispiel „einer Erstbegegnung zwischen Gruppen von Menschen, die einander kulturell völlig fremd sind, aber kein explizites Konzept der Fremdheit haben“. Die Darstellung, die durch eine einerseits durch die australischen Goldsucher dominante Haltung, seitens der ansässigen Ethnien eher zweckfreien, „unschuldigen“ und von mythischen Vorstellungen bestimmten Einstellungen charakterisiert war, endete bald in einem konfliktreichen Gegeneinander von Missverständnissen und Fehleinschätzungen. Die anfangs friedliche und harmlose, auf Neugier von beiden Seiten basierende Begegnung, mangels sprachlicher Verständigung durch Gesten begonnen, hätte eine Brücke sein können, wurde aber zur Falle.
Im zweiten Kapitel diskutiert der Autor, dass Kultur mehr ist als Differenz: „Alle anders – alle gleich“. Weil Menschen von Natur aus kulturell sind, weil der Mensch als anthrôpos nicht nur ein vernunft- und sprachbegabtes Lebewesen, sondern als zôon politikon ein politisches Gemeinschaftswesen ist (Aristoteles), kommt der Ausprägung von Kultur für das individuelle und kollektive Dasein der Menschen eine besondere Bedeutung zu. Der Autor setzt sich dabei kritisch mit den verschiedenen Definitionen und Grundlegungen auseinander und kommt zu dem Ergebnis, dass „Kulturen ( ) nicht diskret voneinander abgehoben, geschlossen und voneinander unabhängig, sondern ineinander übergreifende Gebilde (sind)“. In die Auseinandersetzung zwischen Assimilation und Integration greift er ein, indem er postuliert: „Eine Orientierung auf die gesamte Menschheit bedeutet nicht, dass die einzelkulturelle Identität aufzugeben ist. Die Wertschätzung der Vorzüge und Wertschätzung anderer Kulturen erfordert eine tiefe Verankerung in einer eigenen Kultur“.
Im dritten Teil setzt sich der Autor für einen „realistischen Kosmopolitismus“ ein, indem er universalistische und kosmopolitische Argumentationen zusammen denkt und „kommunikative Freiheit“ als eine philosophische Metapher heranzieht ( vgl. dazu auch: Seyla Benhabib, Die Rechte der Anderen, Frankfurt/M, 2008, in: socialnet Rezensionen unter https://www.socialnet.de/rezensionen/7276.php ). Antweiler plädiert dafür, dass „Aspekte der Vernunft und Rationalität.( ) von moralischen und rechtlichen Fragen getrennt werden (sollten)“. Indem er auch das Konzept des US-amerikanischen, aus dem westafrikanischen Ghana stammenden Moralphilosophen Kwame Anthony Appiah und andere kosmopolitische Denkweisen, etwa die von Amartya Sen und Martha Nussbaum, in seinen Diskurs um Kosmopolitismus einbezieht, zeigt der Autor auf, dass es mehrerer pankultureller Muster bedarf, um einen humanistischen bzw. kosmopolitischen Humanismus zu begründen.
Im vierten Kapitel werden „pankulturelle Gemeinsamkeiten“ herausgearbeitet, die als „empirisch nachweisbare kulturübergreifende Phänomene für einen nichteurozentrierten Humanismus“ sprechen. Die dabei definierten und mit ethnografischen und interkulturellen Vergleichsmethoden ermittelten pankulturellen Muster, wie z. B.: Reziprozität, Nepotismus, Ethnozentrismus, Inzesttabu, u. a., können dazu beitragen, Kulturen und kulturelles Handeln nicht zuvorderst als Unterschied, Kontrast, Grenze und Problem wahr zu nehmen, sondern als Anerkennung der Unterschiede und damit als Chance der Verständigung.
Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit den „Umgang zwischen Kulturen“. Es geht um die Frage, wie sich (kulturelle) Identität von Individuen und Kollektiven darstellt. Dabei setzt sich der Autor mit den für die interkulturelle Kommunikation und für den Diskurs um den interkulturellen Dialog benutzten Begriffen, wie „Interkulturalität“ und „Transkulturalität“ auseinander. Beim interkulturellen Umgang liegen zahlreiche Fettnäpfchen, Werte-, Normenunkenntnisse und –missachtung auf dem Weg, dass es für den kosmopolitischen Diskurs notwendig ist, ihre Ursprünge, Einbettungen und Mentalitäten zu kennen.
Im sechsten Teil wird „konzentrischer Dualismus als Hindernis für Humanität“ aufgezeigt. Es sind die Ethnozentrismen und Höherschätzungen, die das Weltbild und die Weltanschauung von Menschen bestimmen, ein abgrenzendes „Wir“-Bewusstsein schaffen und somit kosmopolitische Orientierungen und einen inklusiven Humanismus behindern.
Mit der Frage nach „Gemeinsamkeiten in Weltbildern?“ setzt sich der Autor im siebten Kapitel auseinander. Die eingängige Forderung, global zu denken und lokal zu handeln, ist wissenstheoretisch gar nicht so einfach zu fassen, wie es ausgesprochen wird. Welche Haltungen und Wissensformen müssen gegeben sein, um diese neue, globale Erkenntnis auch wirksam werden zu lassen? Die Vermutung, die Antweiler dabei anstellt, ob lokales Wissen nicht eine besondere, alltagsorientierte und in allen Gesellschaften vorkommende Denkform darstelle, ist äußerst interessant.
In der Universalienforschung kommt der Frage nach den Ursachen und Erscheinungsformen von pankulturellen Kulturmustern eine besondere Bedeutung zu. Drüber reflektiert der Autor im achten Kapitel. Die Herleitung auf ausschließlich naturwüchsige oder kulturell geprägte Entstehungsgründe zeigen sich als Fallstricke und Fehldeutungen, z. B. in der (entwicklungspolitischen) Frage nach den „Grundbedürfnissen“, die alle Menschen auf der Erde benötigen, wie auch in der Bedeutung, die in den verschiedenen Kulturen dem Verhältnis von Mensch, Natur und Umwelt beigemessen wird. Mit einer Systematik versucht der Autor die Frage nach den unterschiedlichen Ursachen von Universalien zu klären; es können proximate, ultimate, emergente, evolutionäre… Ursachen sein; in allen Fällen aber sind es komplexe Zusammenhänge.
Im neunten und letzten Kapitel fasst der Autor die diskutierten Begründungen und Kontroversen zur Frage nach den (lebensnotwendigen) Universalien des inklusiven Humanismus zusammen. Dass der Mensch ein Lebewesen ist, das sich über Kultur definiert, kann sicherlich als eine allgemeingültige, globale Auffassung verstanden werden. Die Unsicherheit und die Verschiedenheit zeigt sich allerdings in den unterschiedlichen Weltbildern, in denen Werte und Normen entweder universal oder relativ gedeutet werden, wie dies in den Auseinandersetzungen und Interpretationen der Menschenrechte erfolgt, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 proklamiert sind. Dabei wird für einen realistischen Humanismus plädiert, der sich mit der Natur des Menschen befassen muss und die Kulturbeständigkeit der Menschheit berücksichtigt: „Die Menschheit als Einheit resultiert demnach nicht nur aus geteilten Merkmalen ihrer Individuen. Sie entsteht auch durch ähnliche Lebensumstände, Probleme und Lösungen der Kulturen, die zu Kulturuniversalien führen, sowie durch die Vernetzung von Individuen und Kulturen, die großteils durch außerkörperliche materielle Artefakte und Medien besteht und inzwischen global ist“.
Fazit
Die kluge Abhandlung zum Komplex „Mensch und Weltkultur“ von Christoph Antweiler ist kulturanthropologisch begründet und bürstet vielfache, traditionelle und festgelegte Auffassungen von einem Eine-Welt-Menschenbild gegen den Strich. Universalien, als Grundlagen für eine Akzeptanz der Gleichheit der Kulturen und der Anerkennung der Vielfalt menschlichen Daseins, können nur dann verbindend im Sinne eines kosmopolitischen Denkens und Handelns wirken, wenn sie nicht dominant gesetzt, sondern ausgehandelt werden. „Jeder Humanismus muss die Realitäten menschlichen Lebens, des zwischenmenschlichen Umgangs und der kulturellen Vielfalt auf einem begrenzten Planeten bedenken“; natürlich nicht im Sinne eines Kulturrelativismus, sondern mit einer umfassenden anthropologischen Perspektive ( vgl. dazu auch: Werner Petermann, Anthropologie unserer Zeit, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2010, in: socialnet Rezensionen, https://www.socialnet.de/rezensionen/10567.php). Die Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit der Menschheit sollte freilich berücksichtigen, dass es, bei aller notwendigen, „realistischen“ und „pragmatischen“ Einschätzung der Realisierbarkeit eines kosmopolitischen Denkens und Handelns, auf dem Weg hin zu einem globalen Bewusstsein der Universalie „Empathie“ unverzichtbar bedarf ( vgl. dazu: Jeremy Rifkin: Die empathische Zivilisation. Campus Verlag (Frankfurt) 2010. 468 Seiten. ISBN 978-3-593-38512-9. In: socialnet Rezensionen unter https://www.socialnet.de/rezensionen/9048.php).
Das Plädoyer für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung stellt keine Anbiederung an dominante kulturrelativistische Positionen dar; auch nicht an utopische Eine-Welt-Träumereien. Zwar ist die „Utopie der Hoffnung“ ein unverzichtbares Element lokalen und globalen Gegenwarts- und Zukunftsdenkens der Menschheit; aber sie kann nur dann aufklärerisch und überzeugend wirksam werden, wenn an den Wirklichkeiten des menschlichen Daseins gearbeitet wird. Ein „inklusiver Humanismus“, kosmopolitisch angewandt, kann dazu beitragen, die EINE WELT zu schaffen. Diesen Baustein bringt Antweiler in das Menschheitsprojekt einer humanen Weltkultur ein.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 22.02.2011 zu:
Christoph Antweiler: Mensch und Weltkultur. Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung. transcript
(Bielefeld) 2010.
ISBN 978-3-8376-1634-7.
Reihe: Der Mensch im Netz der Kulturen - Humanismus in der Epoche der Globalisierung / Being Human: Caught in the Web of Cultures - Humanism in the Age of Globalization - 10.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10879.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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