Jürgen Radel: Gestaltung und Evaluation von betrieblichen Veränderungsprozessen
Rezensiert von Thomas Reinhardt, 05.09.2011
Jürgen Radel: Gestaltung und Evaluation von betrieblichen Veränderungsprozessen.
Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2010.
300 Seiten.
ISBN 978-3-8309-2364-0.
34,90 EUR.
Reihe: Internationale Hochschulschriften - 545.
Entstehungshintergrund
Die im Waxmann Verlag als Band 545 der Internationalen Hochschulschriften erschienene Veröffentlichung ist die Dissertationsschrift von Jürgen Radel, die er dem Promotionsausschuss der Universität Bremen am 15. Januar 2010 vorlegte. Der Autor ist Betriebspädagoge und seit mehreren Jahren in der Industrie im Human Resources tätig. Seine Promotion erfolgte im Rahmen eines internationalen Doktorandenprogramms der Universität Bremen. Das weite Feld des Change Managements wird anhand eines 2-jährigen Praktikumsprojekts in einem grossen mittelständischen Unternehmen bearbeitet.
Aufbau und Inhalt
Die Studie untersucht retrospektiv und theoriegeleitet Best-Practice-Ansätze zur Entwicklung einer Interventionsarchitektur betrieblicher Veränderungsprozesse. Entlang der Struktur des sogenannten Advanced Organizers gliedert Radel seine Forschungsfragen, die Entwicklung der Modelle und deren Anwendung. Der Leser findet jeweils zu Beginn der insgesamt 7 Kapitel ein Diagramm dieses Organizermodells, bei dem grau unterlegt ist, welche Schritte im folgenden Teil behandelt werden. Diese originelle Darstellung erleichtert die Orientierung in dieser wissenschaftlichen Schrift.
Die Evaluation erfolgskritischer Elemente betrieblicher Veränderungsprozesse bildet die Kernsubstanz des Buches. Seine Forschungsfragen beinhalten die Gestaltung von Interventionen, deren Architektur und die Evaluation von Change-Management-Methoden.
Radel legt im zweiten Kapitel die theoretischen Problemstellungen und Prämissen dar. Nach einer Einführung in unterschiedliche Evaluations- und Veränderungsansätzen wird Kurt Lewins Feldtheorie im Zusammenhang mit Veränderung und dem Lernen in diesen Prozessen vorgestellt und in den wissenschaftlichen Kontext gesetzt. Lewin, der seine Theorie auf der Grundlage von Studien zu den Ernährungsgewohnheiten von Familien entwickelte, formulierte den Dreischritt „unfreeze“, „change“ oder „move“ und „freeze“ als Vorgehen zur Initialisierung von Veränderung. Lippit, Watson und Westley erweiterten dieses Modell, indem sie die Beziehung des Prozessbegleiters zum Klientensystem und die Fixierung der neuen Struktur als zwei weitere Ebenen berücksichtigen. Kapitel 2 stellt weitere Lernkonzepte vor und fokussiert auf die Methode des „Change Laborotary“ nach Engeström, dessen Ursprung in den T-Groups (Training Groups) von Lewin hatte. Deren Bedeutung sei in den 70 er Jahren zurückgegangen jedoch griff sie Peter Senge in den 90er Jahren erneut auf. Durch Integration von Engeströms „Aktivitätstheorie“, bei der sogenannte „Aktivitätssysteme“ aus vier Bereichen (nach Karl Marx: Produktion, Konsum, Verteilung und Austausch) gebildet und sieben Stadien unterschieden werden, ergäbe sich eine konkrete Übertragbarkeit des Change Laboratory auf den betrieblichen Kontext. Dabei treten die sieben Stadien folgendermassen in Erscheinung: Veränderte Anforderungen sollen zu einem outcome, beispielsweise einer erhöhten Zufriedenheit, führen. Dazu braucht es Instrumente, vielfältig einsetzbare Teamplayer, unabhängige Teilbereiche, eine bereichsübergreifende Community und bereichsübergreifende Job-Rotation. Radel schliesst dieses Kapitel mit einer Grafik zu diesen theoretischen Grundlagen des Change Labs ab.
Es folgt das Kapitel 3 zu den Modellen der Veränderungsprozesse. Radel stellt insbesondere folgende vor: Appreciative Inquiry nach Cooper, Whitney, Open Space Technology nach Owen, Whole Scale Change nach Dannemiller et al., World Café nach Brown und Isaacs, The Conference Model nach Axelrod et al, Real Time Strategic Change nach Jacobs und McKeown, Future Search nach Weisbord und Janoff und schliesslich die Search Conference nach Emery und Trist.
Die Methoden werden gebührend ausführlich dargestellt und in den wissenschaftstheoretischen Kontext gestellt und diskutiert. Radel stellt in seinem „Kondensat“ auf Seite 106 fest: „Die Grundlagen von Veränderungsprozessen bleiben in vielen Modellen unklar oder fragwürdig.“ Er meint, manches seien weniger theoriegestützte Konzepte sondern vielmehr „Beratungsliteratur“ und verweist zum Beweis auf diverse populäre Bücher, wie beispielsweise auf „The Seven Habits of Highly Effective People“ von S.Covey (1989). Vieles bleibe „schwammig“. Um die einzelnen Ansätze diskutieren und inhaltlich umsetzen zu können, führte der Autor eine inhaltliche Merkmalsanalyse durch und er formuliert anschliessend folgende „Leitlinie“ verbindlicher Elemente in Veränderungsprozessen: 1. Einbindung möglichst vieler Betroffener, 2. Bildung von Multiplikatoren oder Promotoren, 3. Erarbeitung einer Vision, resp. eines Selbstverständnisses, 4. Zielgruppenbeschreibung, 5. Ableitung von Handlungsfeldern und Zielen, 6. Benennung konkreter Massnahmen, 7. Laufende Evaluation und ggfs. Korrektur des Prozesses.
Das vierte Kapitel „Modellexplikation - Evaluation“ stellt wiederum zunächst unterschiedliche Modelle, nun zur Evaluation, vor. Beginnend mit dem „Vier-Ebenen-Modell“ von Kirkpatrick und dessen Erweiterung durch Phillips und Schirmer widmet der Autor sich ausführlich der Frage des Nutzens von Evaluation. Dabei gebraucht er den ROI (Return of Invest) und definiert ihn als die Betrachtung zweier Grössen, nämlich Kosten und Erlöse. Abschliessend diskutiert er die Vor- und Nachteile des ROIs und stellt fest, dass die quantitativen Ansätze durch qualitative Ansätze zu erweitern sind, um eine nicht nur outputorientierte sondern eine prozessorientierte Sicht von Weiterbildung zu erlangen. Zwei prozessorientierte Modelle werden vorgestellt, das „CIPP Modell“ von Stufflebeam (CIPP=Context /Input/ Prozess/ Produkt Evaluation) und die „Empowerment Evaluation“ von Fettermann und Wandersmann mit den Prinzipien: Community Ownership / Inclusion / Democratic Participation / Social Justice / Community Knowledge / Evidence Based Strategies / Capacity Building / Organizational Learning und Accountability. Weitere Evaluationsmodelle werden kurz diskutiert und in Relation zueinander gestellt.
Das Rüstzeug für die Anwendung von Methoden für Veränderungsvorhaben und deren Evaluation steht nach diesem Kapitel zur Verfügung. Im 5. Kapitel folgt die Fallstudie. Radel prüft seine Hypothesen anhand der Nutzbarkeit in einem produzierenden Betrieb der Sanitär- und Heizungsbranche, der weltweit über 2800 Mitarbeitende beschäftigt. In seine Studie flossen die Erkenntnisse von zwei vorgängigen Projekten (einmal im Bankenbereich und das andere Mal in der Pharmabranche) ein. Radel orientiert sich in der Darstellung der „Feldforschung“ an Flick, da das klassische lineare Darstellungsmodell eines Feldforschungsprozesses nicht angemessen sei und wählt ein zirkuläres Prozessmodell. Auch betont er die Multiperspektivität seiner Feldstudie und systematisiert mit Denzin nach Person, Raum und Zeit.
Ziel des Veränderungsprojekts in dem Betrieb der Sanitär- und Heizungsbranche war das Schliessen der Lücke im Bereitstellungsprozess (von der Giesserei zur Logistik) durch das Zusammenlegen von Werksteilen an einem neuen Fertigungszentrum (Radel verwendet dafür die Abkürzung FZE, was der Rezensent hier betont, da die Abkürzung leider im entsprechenden Verzeichnis fehlt und plötzlich immer wieder auftaucht). Dadurch wollte man die Produktivität steigern und die Arbeitsplätze sichern. Das Projekt sollte ca. 1 ½ Jahre dauern und im Juli 2007 mit dem Umzug und der Inbetriebnahme der Anlagen abgeschlossen werden. Die Projektorganisation und die Interventionsarchitektur nach Hayes wird dargestellt. Die Daten wurden durch die Befragung der Mitarbeitenden, durch Prozessbefragungen und an Abteilungsbesprechungen erhoben. Anlässlich dieser Abteilungsbesprechungen wurden „Motivationslogbücher“ eingesetzt, die jeweils 3 Fragen zur aktuellen Zufriedenheit beinhalteten. 83 Logbücher wurden von ca. 420 Mitarbeitenden an deren Sitzungen ausgefüllt. Die Kommunikation wurde im Veränderungsprojekt mittels des Instruments „Sounding Board“ kanalisiert. Damit sollten die betroffenen Mitarbeitenden die Möglichkeit erhalten, sich zu einzelnen Aspekten zu äussern. Die dort erhaltenen Informationen wurden in einem Teilprojekt, das den Prozess begleitete, gebündelt und ausgewertet. Die Auswertung der Flipcharts, die bei Trainings erstellt wurden, dienten Radel als Grundlage für eine Analyse der bearbeiteten Inhalte. Tabellen dazu liefern in diesem 6. Kapitel die Übersicht über die im Veränderungsprozess geplanten und tatsächlich durchgeführten Teamtrainings und deren Themen, die der Autor in Kategorien (Zusammenarbeit, Kommunikation, Qualifikation u.s.w.) zusammenfasst. Ergänzend zu den vornehmlich quantitativen Daten wurden Interviews mit 7 Mitarbeitenden in unterschiedlichen Funktionen im Projekt durchgeführt.
Radel stellt alle Instrumente ausführlich dar und diskutiert diese im Sinne einer „Würdigung des Instruments“. Wichtig dabei ist, dass all diese Erhebungsinstrumente auch das Prozessziel der möglichst starken Beteiligung der betroffenen Mitarbeitenden verfolgten.
Im Unterkapitel 8 des 6. Kapitels geht der Autor auf die Kennzahlen der FKE ein und der Leser erfährt, dass Fehlzeiten „seit 1783 ein im wirtschaftlichen Kontext diskutiertes Thema sind“. Neben einer kurzen und ausgesprochen dichten Einführung in diese Problematik skizziert Radel die Vorgehensweise dazu in dem Projekt.
Im Kapitel 6.9 wird auf der Grundlage der generierten Daten die Erreichung der Ziele hinsichtlich Akzeptanz, Beteiligung und Befähigung untersucht und ein erstes positives Fazit gezogen. Radel stellt fest, dass es sehr hilfreich war, die zahlreichen dialogorientierten Methoden zu nutzen. Insbesondere hebt er die strukturierte Kommunikation und das Sounding Board als Erfolgsfaktor hervor. Im zweiten Fazit geht es um die Zielerreichung der Gruppen- bzw. Mitarbeitendenebene. Die Ergebnisse schwanken von positiver zu negativer Entwicklung ohne Stringenz zwischen den Mitarbeitendenbefragungen und den Befragungen im Prozess, sowie innerhalb der direkt betroffenen Bereiche. Radel stellt die Frage nach einem arte fakt der Ergebnisse durch die Tatsache, dass der Prozess intensiv begleitet wurde. Er verwirft die Frage jedoch so schnell wieder, wie sie aufgetaucht ist.
Es folgt die Darstellung der Entwicklung der untersuchten Kennzahlen und ein Einschub zu den Grenzen der Datenerhebung. Unter anderem wird festgestellt, dass beispielsweise der Kennzahl zu den Fehlzeiten keinen Aussagewert für Erfolg oder Misserfolg des Projekts zukommt und Radel stellt auf Seite 242 lapidar fest: „Der Krankenstand scheint im vorliegenden Fall eine geringe Aussagekraft zu besitzen … Da sich die Fehlzeiten aber nicht negativ entwickelt haben, ist dies aus Unternehmenssicht als ein Erfolg zu bezeichnen.“ Weitere Limitierungen bestanden in der Einführung eines neuen Entgeltrahmen-Abkommens 2006 und einem Kartellprozess der Europäischen Union, bei dem zunächst eine Strafe von 54.3 Millionen Euro festgelegt wurde. Befremdend wirkt sein drittes Fazit auf Seite 243: „Ausgehend von den Unternehmenszielen … ist das Projekt als sehr erfolgreich zu bezeichnen. Wird die Personaldecke betrachtet, so ist in den Jahren 2006 - 2008 eine Reduktion um 28% erkennbar.“ War nicht als Projektziel auf Seite 150 von der „Sicherung der Arbeitsplätze“ die Rede? Auch die erneute Erwähnung, dass die Fehlzeiten nicht zugenommen hätten und dies als Erfolg zu bewerten sei, muss hinterfragt werden.
Im 7. Kapitel fasst Radel noch einmal die wichtigsten Schlussfolgerungen zusammen. Er unterzieht alle eingesetzten Instrumente erneut einer kritischen Würdigung und stellt die Chancen aber auch Risiken der Einbindung möglichst vieler Betroffener dar. Die Wahl der dialogorientierten Instrumente erfolgte u.a. deshalb, da für eine Grossgruppenmoderation weder Zeit noch Geld zur Verfügung gestellt wurde. Dadurch erhielt er jedoch eine Vielzahl von sehr individuellen Standpunkten, Geschichten und Zielen, die kaum alle zu berücksichtigen sind.
Im 8. Kapitel ist ein Grossteil der verwendeten Fragebögen zur Ansicht und Prüfung abgedruckt.
Das Buch endet mit Kapitel 9: „Literatur“.
Diskussion und Fazit
Radel stellt in seiner Dissertation äusserst umfangreich und detailbesessen die Instrumente und Modelle für das Change Management dar und liefert ein umfangreiches Instrumentarium für deren Evaluation. Für den Rezensent zu kurz kommt der konkrete Praxisbericht. Das konkrete outcome für den im Fallbeispiel dargestellten Betrieb bleibt unklar und verliert sich im Berg der wissenschaftlichen Daten zu den Instrumenten und der Interventionsarchitektur. Sehr kritisch müssen seine Fazits im 6. Kapitel betrachtet werden.
Dennoch ist das Buch allen zu empfehlen, die sich im Rahmen von Veränderungsprojekten ein Bild über die unterschiedlichen Methoden machen wollen und die bestrebt sind, ihre Projekte zu evaluieren. Radel liefert keinen abschliessenden state of the art Bericht, aber das Buch gibt Hinweise, die helfen können, die Evidenz von Massnahmen bei betrieblichen Veränderungsprozessen zu vergleichen.
Rezension von
Thomas Reinhardt
Diplomierter Berater für Organisationsentwicklung. Arbeitet als interner Coach im Universitätsspital Basel und freiberuflich in den Bereichen Organisationsentwicklung, Gesundheitsmanagement, Konfliktmoderation, Coaching für Führungsverantwortliche, Teamentwicklung und Supervision. Schwerpunkte: Gesundheit und Führung, Change Management, Leadership, Kommunikation, Psychohygiene und Glück.
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Zitiervorschlag
Thomas Reinhardt. Rezension vom 05.09.2011 zu:
Jürgen Radel: Gestaltung und Evaluation von betrieblichen Veränderungsprozessen. Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2010.
ISBN 978-3-8309-2364-0.
Reihe: Internationale Hochschulschriften - 545.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10888.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.
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