Jörg M. Fegert (Hrsg.): Traumatisierte Kinder und Jugendliche in Deutschland
Rezensiert von Dr. Michaela Schumacher, 17.11.2011
Jörg M. Fegert (Hrsg.): Traumatisierte Kinder und Jugendliche in Deutschland. Analysen und Empfehlungen zu Versorgung und Betreuung.
Juventa Verlag
(Weinheim) 2010.
352 Seiten.
ISBN 978-3-7799-2262-9.
28,00 EUR.
Reihe: Studien und Praxishilfen zum Kinderschutz.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-7799-2266-7 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
AutorInnen und ihr Hintergrund
Die 26 Autoren und Autorinnen beschäftigen sich an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen – Hochschule, Kliniken, NGO, Praxis, Vereine, Verbände – mit den Entwicklungs- und Lebensrealitäten von traumatisierten Kindern und Jugendlichen.
Zielgruppen
Professionelle, die aus je eigner wissenschaftlich-forschender, (sozial)-therapeutischer und/oder anwendungsorientierter Perspektive mit traumatisierten Kindern/Jugendlichen arbeiten und die um ihrer KlientInnen willen, sich einen umfassenden und zugleich differenzierten Einblick in sowohl den Realisierungsstand als auch die zu behebenden Probleme und Mängel in den bestehenden Hilfsangeboten und Hilfesystemen zu verschaffen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch hat eine Einleitung, 9 Themenschwerpunkte mit insgesamt 26 Beiträgen, ein Literaturverzeichnis und Kurzlegenden der Autoren/Autorinnen.
Die neun Themenschwerpunkte sind:
- Traumatisierte Kinder in der Jugendhilfe
- Traumatisierte Kinder in der Gesundheitshilfe
- Traumatisierte Kinder in der Opferberatung
- Traumatisierte Kinder und häusliche Gewalt, Gewalt in der Partnerschaft
- Vernetzungsfragen und rechtliche Zuständigkeit
- Traumatisierte Kinder und die neuen Medien
- Traumatisierte Kinder in Institutionen und Pflegefamilien
- Traumaforschung und Traumawissen
- Belastungen und Burn out in der Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen
AutorInnen unterschiedlichster Fachrichtungen beleuchten die Situation traumatisierter Kinder und Jugendlicher in Deutschland – Schädigungsgrad, Art, Erreichbarkeit und Nutzbarkeit der Hilfeangebote, Leerstellen in der Versorgung und/oder den Hilfesystemen u.ä.m. Sie zeigen auf und benennen dezidiert die kurz-, mittel- und langfristigen Folgen des derzeitigen Umgangs und Vorgehens für die Betroffenen, die Hilfesysteme und die Gesellschaft.
Ausgangslage
Die Intensivierung und Ausweitung der ambulanten Hilfen im Kinder-/Jugendbereich hat zur Folge, dass für weniger auffällige Jugendliche seltener und/oder erst bei Manifestation ernster Verhaltensauffälligkeiten und emotionaler Störungen eine Heimunterbringung erfolgt.
Untersuchungen auf der Basis von fachlicher Fremdeinschätzung/Diagnostik und Selbsteinschätzung belegen, dass 75 – 80% der in stationären Einrichtungen untergebrachten Kinder/Jugendliche traumatische Erlebnisse hinter sich haben und in sich tragen.
Infolgedessen müssen sich Jugendhilfe, das Gesundheitswesen, Schulen usw. verstärkt auf die Anforderungen der Betreuung psychisch auffälliger Jugendlicher einstellen, da diese infolge einer lebensgeschichtlich bedingten Kumulation biopsychosozialer Risikofaktoren nicht nur stark beeinträchtigt sind, sondern oft auch Behandlungsbedürftige Störungen mit Krankheitswert aufweisen – ca 75%. der jugendlichen Heimbewohner sind chronisch krank und zeigen komplexe, komorbide Syndrome.
Im Rahmen der Hilfeplanung werden psychische Störungen und damit der Bedarf an Therapiemaßnahmen, psychiatrischen Behandlungsmaßnahmen und Eingliederungshilfen häufig unterdiagnostiziert. Ursachen dafür liegen zum einen darin, dass die zuständigen Fachkräfte Jugendämtern und Einrichtungen – ausbildungsbedingt – weder auf diese Phänomene vorbereitet wurden noch diagnostische Kompetenzen erwerben und ausbilden konnten; zum anderen darin, dass die Vernetzung der Hilfesysteme – Jugendhilfe mit Kinder-/JugendpsychotherapeutInnen, psychiatrischen Ambulanzen, Schulen u.ä.m. – zu wünschen übrig lässt. Sie ist weder hinreichend organisiert noch finanziell hinreichend abgesichert.
Diese Ausgangslage ernstnehmend, reflektieren die AutorInnen jeweils mit ihrem spezifischen Fokus – letztendlich also multiperspektivisch bzgl. der Gesamtergebnisse – die Bedürfnis- und Anspruchslage der Betroffenen und der zuständigen Hilfesysteme. In nahezu jedem Beitrag wird der aktuelle Wissens-, Erfahrungs- und/oder Forschungsstand referiert, Schlussfolgerungen gezogen und (An)-Forderungen formuliert. All dies geschieht mit dem Ziel, dass möglichst allen Betroffenen zeitnah und nachhaltig wirksame Hilfe zuteil werden kann ohne Re-Traumatisierungen und/oder erneute Beziehungsabbrüche.
Was sind zusammengefasst die Erkenntnisse und Ergebnisse:
- Die vorhandene Gesetzeslage zur Versorgung und Rehabilitation von traumatisierten Kindern und Jugendlichen scheint hinreichend zu sein.
- In Praxis und Theorie gibt es ein breites, wenig vernetztes Expertenwissen bei den verschiedenen in der Betreuung und Begleitung engagierten Berufsgruppen.
- Die Realisierung bestehender
Hilfeansprüche ist z.Zt. noch unzureichend aufgrund von
- Unwissenheit der Betroffenen und z.T. der Hilfesysteme über die legitimen Ansprüche
- Unklarheiten über die Zuständigkeiten unter den Hilfesystemen, was zu einem Hin-und-Her-Schieben der Verantwortung, der Finanzierung etc. – damit letztendlich auch der Betroffenen mit für sie schädigender Wirkung führt
- mangelnder Verfügbarkeit von und Versorgung mit ambulanten und/oder stationären Therapiemöglichkeiten
- einer unzureichenden Aus-, Fort- und Weiterbildung der sich engagierenden Professionellen verschiedenster Disziplinen und dadurch bedingten noch zu geringen Traumasensibilität in den Hilfesystemen,
- fehlendem professions- und
institutionsübergreifendem Handeln und Netzwerken
zugunsten eines „aus einer Hand"-Angebots für die Betroffenen
- Präzisierung, Konkretisierung und Ausweitung des Gewaltbegriffes – eine differenzierte inhaltliche Füllung – statt des juristischen Terminus „Gewalttat“ durch das BSG und/oder den Gesetzgeber und eine eindeutige gesetzliche Regelung für Komplexleistungen durch mehrere Leistungsträger
- Entwicklung professionsspezifischer Basisstandards und eine verpflichtende Integration traumaspezifischen Fachwissens in die Curricula der fachspezifischen und/oder interdisziplinären Aus-, Fort- und Weiterbildung
- Mittels der neuen Medien – e-learning, Fachforen, Internetplattformen – den aktuellen Stand des traumatologischen Wissens- und Forschungsstand zeitnah und kontinuierlich verfügbar machen und ggfs. mit gesetzlich vorgeschriebenen Fort- und Weiterbildung verknüpfen
- Anpassung des Personalschlüssels an den Belastungsgrad der Arbeit, implementierte Burn-out-Prophylaxe, regelmässiges Burn-out-Screening, externe Supervision, Balintgruppen und Selbsterfahrung und last but not least eine differenzierte Auswahl von Mitarbeitenden, eine eindeutige ethische Positionierung der Institution und klare Vereinbarungen hinsichtlich übergriffigen Verhaltens/Handelns
- Für die Betroffenen
- Servicestellen, die unterstützen und organisieren, dass sie alles ihnen Zustehende möglichst „aus einer Hand“ bekommen
- eine flächendeckende Erreichbarkeit durch Kooperation und networking der verschiedenen Hilfesysteme und ein interdisziplinäres, systemübergreifendes, miteinander geplantes und verantwortetes Vorgehen
- Institutionalisierte reguläre Traumaanamnese bei den Hochrisikogruppen
- ein niedrigschwelliges Beschwerdesystem
- Ein nationales Traumazentrum mit
intensiv forschenden Instituten, Kliniken und Modellprojekten, das
- sowohl bundesweit verbindliche Rahmenkonzepte der interdisziplinären Versorgungsvernetzung entwickelt, implementiert, ihre Qualität controlled und sichert als auch die im Schnittfeld arbeitenden Hilfesysteme qualifiziert und zur interdisziplinären Zusammenarbeit befähigt
- sowohl einheitliche Diagnoseverfahren als auch allgemein verbindliche Standards für evidenzbasierte Therapien und Versorgung entwickelt
- einen schnellen und zeitnahen Wissens-, Erfahrungs- und Forschungstransfer – Grundlagen-, Therapie-und Wirkungsforschung – sowohl in die Praxis online und in Form von Fort-/Weiterbildung als auch in die Ausbildungscurricula organisiert und gewährleistet
- Forschungsbedarfe gemeinsam mit der Praxis identifiziert und Forschungsvorhaben koordiniert.
- Medienkompetenz vermittelnde Projekte für Kinder/Jugendliche, Eltern und Fachkräfte in Schulen, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen. Erforschung der technischen Möglichkeiten eines Jugendschutzes im Internet und die Implementierung von Jugendschutzfiltern in allen öffentlich zugänglichen Internetcomputern
- Im Bereich von Wissenschaft und
Forschung ist die finanzielle Sicherung und konzentrierte Förderung
sowohl der traumafokussierten neurobiologischen, biomedizinischen
und psychophysiologischen Grundlagenlagenforschung als auch der
klinisch-therapeutischen und anwendungsorientierten-translationalen
Forschung und die Vermittlung durch interdisziplinäre,
multi-skilled Teams zu gewährleisten, um
- sowohl Präventions- und Interventionsmaßnahmen für die Risikogruppen und die Fachkräfte als auch für das Rechtswesen Umgangsweisen mit traumatisierten (jungen) Menschen – die kompatibel zum juristischen Selbstverständnis sind – zu entwickeln und zu implementieren
- Wissen über Trauma und Traumafolgen in die hausärztliche Versorgung zu transferieren
- die Bevölkerung flächendeckend aufzuklären und zu informieren, damit Betroffene sowohl ihren Hilfebedarf erkennen als auch die niedrigschwelligen Zugänge zu Hilfesystemen kennen und nutzen können – vgl. Kinder-Notruf, Zeugnis-Hotline u.ä.m.-
- interdisziplinäre Graduiertenkollegs und akademische Karrieremöglichkeiten mit „Trauma“-Themen
Fazit
Das Buch ist verständlich geschrieben. Es liefert einen überzeugenden Einblick und Überblick sowohl in die derzeitige Situation der Betroffenen und der Hilfesysteme als auch der Veränderungs- und Vertiefungsnotwendigkeiten. Lesenswert ist es für alle, die mit traumatisierten Kindern/Jugendlichen arbeiten – Helfende und TherapeutInnen. Es eröffnet neue, konstruktive und hilfreiche Perspektiven für eine erfolgreichere Unterstützung für den Weg aus dem Trauma.
Rezension von
Dr. Michaela Schumacher
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Zitiervorschlag
Michaela Schumacher. Rezension vom 17.11.2011 zu:
Jörg M. Fegert (Hrsg.): Traumatisierte Kinder und Jugendliche in Deutschland. Analysen und Empfehlungen zu Versorgung und Betreuung. Juventa Verlag
(Weinheim) 2010.
ISBN 978-3-7799-2262-9.
Reihe: Studien und Praxishilfen zum Kinderschutz.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10892.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.
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