Nicole Justen: Erwachsenenbildung in biographischen Perspektiven
Rezensiert von Prof. Dr. Jochen Schmerfeld, 05.10.2011

Nicole Justen: Erwachsenenbildung in biographischen Perspektiven Lebensgeschichten – Bildungsmotive – Lernprozesse.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2011.
450 Seiten.
ISBN 978-3-86649-371-1.
D: 48,00 EUR,
A: 49,40 EUR,
CH: 67,90 sFr.
Reihe: Weiterbildung und Biographie - 8.
Thema
Narrative biografische Interviews mit Teilnehmerinnen von erwachsenenpädagogischen Bildungsangeboten zum autobiografischem Schreiben wurden in Hinblick auf die Bedeutung biografischer Lernprozesse untersucht. Es handelt sich um eine von der Universität Duisburg-Essen angenommene Dissertation.
Autorin
Nicole Justen ist Diplom Pädagogin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Berufs- und Weiterbildung der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen, der Koordinationsstelle des Netzwerks Frauenforschung NRW und Fachberaterin für Diplom-Pädagogik - Studienschwerpunkt: Erwachsenenbildung/Bildungsberatung.
Aufbau und Inhalt
Im Anschluss an einen Problemaufriss und die Entwicklung der Fragestellung erfolgt im ein kurzer Abriss der theoretischen Grundlagen: zum Zusammenhang von Erwachsenenbildung und Biografie sowie zum Forschungsstand biographieorientierter Erwachsenenbildung.
Der inhaltlich bedeutendste wie quantitativ bei weitem größte Teil des Buchs besteht aus einer teilweise sehr ausführlichen, teilweise kürzeren Paraphrase und Analyse der 14 narrativen biografischen Interviews, die die Autorin mit Teilnehmerinnen von autobiografischen Schreibkursen an Volkshochschulen in NRW geführt hat. Die Teilnehmerinnen (ausschließlich Frauen) waren zum Zeitpunkt des Interviews zwischen 60 und 82 Jahre alt. Die Autorin hat sich sowohl bei der Datenerhebung als auch bei der Analyse der Interviews an Fritz Schützes Methodik des narrativen Interviews orientiert. Aus der Analyse der Interviews gewinnt Justen 6 Typen.
- Der erste Typ, „Biographisches Schreiben als entlastende und Zusammenhang bildende Selbstaufklärung“ (175) zeichne sich aus durch „das deutliche Hervortreten eines enormen Reflexionsstrebens hinsichtlich des eigenen biographischen Gewordenseins“ (175). Für die Vertreterinnen dieses Typs gelte, dass sie an einem autobiographischen Schreibkurs in einer wahrgenommenen biografischen Krise teilgenommen hätten um sich biografische Zusammenhänge zu erschließen.
- Als zweiten Typus identifiziert sie: „Biographisches Schreiben als Versuch der Ich-Stärkung“ (226) und beschreibt ihn so: „In diesem Typus sind Repräsentantinnen zu finden, die bis ins hohe Erwachsenenalter hinein mit einem Gefühl der Minderwertigkeit zu kämpfen haben. Das Selbstwertgefühl ist wenig ausgeprägt und sie sind stetig darum bemüht, ihre Persönlichkeit vor weiteren Verletzungen zu schützen.“ (226) Die Kursteilnahme führe bei diesem Typus zur Entwicklung eines Verständnisses der eigenen Stärken und Schwächen in ihrer Genese sowie der Erarbeitung neuer Handlungsoptionen und Zugangsweisen zu den jeweiligen Biografien.
- Der dritte Typus „Biographisches Schreiben als Befriedigung lebensbegleitender Lernbedürfnisse im Alter“ (271) zeichne sich dadurch aus, dass für seine Vertreterinnen „das Lernen im Alter zu einem lustvollen und biographiestabilisierenden Lebensfokus geworden ist.“ (271) Bei diesem Typus stehe der Erwerb von literarischen Kompetenzen zum Verfassen der eigenen Autobiografie im Vordergrund gegenüber der Beschäftigung mit biografischer Ungewissheit.
- Für den vierten Typus „Biographisches Schreiben als Versuch der Auseinandersetzung mit einem Erleben der Ungleichartigkeit von individueller und kollektiver Lebenserfahrung„(295) gibt es nur eine Repräsentantin. Ihr gehe es um eine kommunikative und reflektierende Verarbeitung ihrer spezifischen vom allgemeinen Verständnis abweichenden Kindheitserfahrungen: „Eines ihrer biographischen Motive ist das Bemühen um die Herstellung einer Kontinuität ihrer Identität und ihres Selbstkonzepts. Dieses Bemühen scheitert aufgrund des Dilemmas der Widersprüchlichkeit zwischen ihrer individuellen und der kollektiven Geschichte.“ (296)
- Auch für den fünften Typus „Biographische Schreiben als Auseinandersetzung mit dem Einfluss zeitgeschichtlicher Ereignisse auf Biographien“ (337) gibt es nur eine Repräsentantin: in ihrer Biographie finde sich „eine frühe und nachhaltige emotionale Erschütterung aufgrund der Folgen, die zeitgeschichtliche Ereignisse auf ihr Leben und das ihrer Familie genommen haben“ (337) – in diesem Fall die politische Verfolgung des sozialdemokratischen Vaters durch die Nationalsozialisten. Weil diese Erfahrungen in der Familie tabuisiert worden seien, hätte das Erlebte nicht in die Biografie integriert werden können, was sich in einer Erkrankung niedergeschlagen habe.
- Der sechste und letzte Typus wird als „Biographisches Schreiben als ‚Tradierung der Lebens- und Familiengeschichte‘“ (415ff) gefasst und so beschrieben: „Ausschlaggebend für die bewusste Beschäftigung mit der eigenen Biographie ist in diesem Typus die Wahrnehmung einer Verantwortung gegenüber dem Erhalt biographischen Wissens für die Nachfahren.“ (418) Seine Repräsentantinnen zeichneten sich durch eine positive Haltung zu ihrem Leben aus, sie betonten trotz schwieriger Lebensumstände die erfolgreiche Bewältigung von Schwierigkeiten und Krisen.
Jeder der sechs Typen wird anhand einer ausführlichen sowie (bei einigen Typen) mehreren kurzen Falldarstellungen vorgestellt: Die ausführlichen Falldarstellungen umfassen jeweils im paraphrasierenden Teil: Hintergrundinformationen zur Einordnung in das Sample, eine biografische Kurzbeschreibung, eine strukturelle inhaltliche Beschreibung des Interviews, die in Sequenzen unterteilt ist, im analytischen Teil: die biografische Gesamtformung sowie die Darstellung der Bildungsansprüche an den biografischen Schreibkurs. Die Kurzdarstellungen enthalten ebenfalls die genannten Aspekte bis auf die (sehr umfangreiche) strukturelle inhaltliche Beschreibung des jeweiligen Interviews.
In der zusammenfassenden Diskussion (418ff) stellt die Autorin die aus der Analyse gewonnen Typen in einen Zusammenhang, den sie aus den zu identifizierenden Motiven für eine Beschäftigung mit der eigenen Biografie gewinnt, in dem sie sie nach minimalen bzw. maximalen Ausprägungen von Motiven ordnet: auf der einen Seite (Typ eins) der Wunsch sich mit dem Ziel einer Selbstklärung der eigenen Biografie zu vergewissern, auf der anderen Seite (Typ sechs) das Anliegen der Tradierung von biografischen Erfahrungen. Entsprechend der verwendeten Referenztheorie (F.Schütze) erklärt Justen diese Differenz mit mehr oder weniger gelungener Aufschichtung von Erinnerungen zu biografischer Erfahrung: beim ersten Typus sei dies eine noch zu leistende Aufgabe während sie beim sechsten Typus bereits erfolgreich bewältigt sei (die Typen zwei bis fünf befänden sich zwischen diesen beiden Polen).
Zielgruppen
Das Buch ist sowohl für Studierende der Erziehungswissenschaft (vor allem im Bereich Erwachsenenbildung und Geragogik) wie auch für Praktiker in diesem Bereich wegen der Einsichten in Biografien und Lernmotive interessant. Es eignet sich aber auch um einen Einblick in qualitative Forschung, insbesondere in die Methode des narrativen Interviews nach F. Schütze zu gewinnen.
Diskussion
Die Arbeit enthält sehr reichhaltiges und interessantes empirisches Material, das auch in großer Ausführlichkeit präsentiert wird. Kritisch ist anzumerken, dass die Autorin die oben beschriebenen Typisierungen auf einer sehr schmalen Datenbasis vornimmt, von einer Sättigung kann da wohl nicht die Rede sein. Allerdings hätte man aus dem Material Hinweise in eine andere Richtung erhalten können: Ein Bezug auf bildungstheoretische Konzepte, wie sie im Kontext erziehungswissenschaftlicher Biografieforschung entwickelt wurden, hätte es ermöglicht, aus dem sehr reichhaltigen empirischen Material durch eine tiefer gehende Analyse weitere für die Erziehungswissenschaft und die praktische Erwachsenenbildung wichtige Hinweise zu gewinnen. So erscheint ein m.E. für die Bildung im Alter wichtiges Thema in den Interviews und wird in den Analysen nur angedeutet und nicht in seiner Bedeutung expliziert: die Aneignung der eigenen Biografie als Lern- bzw. Bildungsaufgabe. Hierunter ließe sich z.B. das immer wieder angesprochene Motiv der Reflexion von biografischen Unbestimmtheiten, aber auch die Bearbeitung biografischer Verlaufskurven fassen.
Fazit
Hoch interessant war für mich die Lektüre der Interviewparaphrasen, sie gewähren einen sehr detaillierten und differenzierten Einblick in die Lebensgeschichten von Frauen der Altersjahrgänge 1923 bis 1946. Damit gewinnt man auf einer etwas abstrakteren Ebene durchaus Erkenntnisse über Bildungsmotive von Frauen dieser Altersgruppen. Das erscheint mir bedeutungsvoll sowohl für die erwachsenenpädagogische und geragogische Praxis wie für Forschung und Theoriebildung.
Rezension von
Prof. Dr. Jochen Schmerfeld
Professor für Pädagogik an der Katholischen Hochschule Freiburg
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