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Detlef Staude (Hrsg.): Methoden philosophischer Praxis

Rezensiert von Mag. Harald G. Kratochvila, 17.03.2011

Cover Detlef Staude (Hrsg.): Methoden philosophischer Praxis ISBN 978-3-8376-1453-4

Detlef Staude (Hrsg.): Methoden philosophischer Praxis. Ein Handbuch. transcript (Bielefeld) 2010. 277 Seiten. ISBN 978-3-8376-1453-4. 28,80 EUR.
Reihe: Edition moderne Postmoderne.

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Was ist das Praktische an der Philosophie?

Der Mensch setzt sich gerne in den Mittelpunkt des Universums, und von der Unfähigkeit, sich der eigenen Wichtigkeit klar zu sein, wird ohnedies nur in fiktionaler Literatur geschrieben - „ … an inability to contemplate your own importance.“ (McEwan 2005, 17)

Die Philosophie als akademische Disziplin bekommt selten die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit – allzu gerne bedienen die Philosophen das Klischee vom Bewohner des Elfenbeinturms. Darüber hinaus wird Philosophie vor allem als Traditionspflege wahrgenommen – die Namen bekannter Philosophen sind ohnehin eher mit dem 18. und 19. Jahrhundert verbunden als mit der Gegenwart. Im deutschsprachigen Raum machen vor allem jene Philosophen von sich reden, die die Öffentlichkeit und damit die Popularisierung von Ideen nicht scheuen, oder die Eitelkeiten als Alleinstellungsmerkmal pflegen. Die Frage nach der Wirksamkeit, bzw. der Wirkmächtigkeit der Gegenwartsphilosophie führt sehr rasch zu der Frage: Was machen Philosophen eigentlich?

Philosophie als Therapie als Selbst-Hilfe und daher auch als Fremd-Hilfe? Was sollte man darunter verstehen können? Der Blick auf die Geschichte der Philosophie zeigt, dass diese Idee nicht neu ist -„But self-help was once philosophy‘s prime goal, and it remains a worthy one, whose attraction and utility go far beyond the narrow circle who hope to earn their living in an academy.” (Shusterman 1997, 3) Worin kann diese Selbst- und Fremdhilfe bestehen? Eine erste Annäherung an die Beantwortung dieser Frage führt über das Thema Anthropologie und Menschenbild - „An dieser Stelle verschafft sich mit Macht die Frage nach einem entsprechenden Menschenbild Geltung. Hält man sachlich irreführende Assoziationen mit anschaulicher Bildlichkeit fern, so bezieht sich dieser Begriff auf zentrale Vorstellungen davon, worum es im Leben von Menschen geht.“ (Liebsch 2010, 139) Das Ausrichten des praktischen Lebensvollzugs kann nur in Übereinstimmung mit einem moralischen Leben gelingen – die praktische Identität ist eine moralische Identität, und in dieser Frage ist auch der Bezug auf die Kategorie „Wahrheit“ nicht obsolet, wie auch David Wiggins betont: „In what follows, I try to explore the possibility that the question of truth and the question of life‘s meaning are among the most fundamental questions of moral philosophy. The outcome of the attempt may perhaps indicate that, unless we want to continue to think of moral philosophy as the casuistry of emergencies, these questions and the other questions that they bring to our attention are a better focus for ethics and meta-ethics that the textbook problem “What [under this or that or the other circumstance] shall I do?”. My finding will be that the question of life‘s meaning does …lead into the question of truth – and conversely.” (Wiggins 1987, 88)

Immanuel Kant hat mit seiner Frage „Was ist der Mensch?“ einen wichtigen Ansatzpunkt festgelegt, von dem ausgehend, Philosophie praktisch werden kann – Anthropologie kann demnach verstanden werden als das Bemühen, „das Innere sowohl als das Äußere des Menschen zu erkennen.“ (Kant 19825, 405). Dieses Bemühen ist notwendig ein normatives Unterfangen – der Zusammenhang zwischen der praktischen Lebensführung und der Berücksichtigung normativer Überlegungen, dem moralischen Leben ist evident: „Die moralische Identität bildet einerseits einen Standard für unsere praktische Identitäten (nicht alle möglichen sind auch moralisch zulässig), andererseits ist sie deren Voraussetzung, indem sie das normative Gewicht von Gründen schlechthin definiert: Wenn wir unsere Menschlichkeit nicht als normativ und somit als Ursprung von Verpflichtung verstehen, können wir auch unsere praktischen Identitäten nicht als normativ sehen.“ (Pauer-Studer 2000, 37)

Philosophie als Praxis wird sich demnach mit Identitätsbildung auseinandersetzen und dabei auf die Selbstreflexion des Individuums zurück greifen. Diese Selbsterkenntnis wird im Rahmen einer Philosophischen Praxis unter Anleitung geschehen – diese Anleitung ist sinnvoll, da es eine bekannte Beobachtung ist, dass in einem selbst viele Überraschungen stecken können - „Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes. Man will sehen, was nach einem greift, man will es erkennen oder zumindest einreihen können. Überall weicht der Mensch der Berührung durch Fremdes aus.“ (Canetti 1994, 13). Selbsterkenntnis als Welterkenntnis? Menschen möchte für gewöhnlich nicht nur sich besser verstehen, sondern auch die Menschen und Dinge, die sie umgeben – doch es gilt noch immer, was Goethe dazu geschrieben hat:
“Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten;
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:
Denn was innen, das ist außen.“
(Epirrhema von J. W. v. Goethe zitiert nach Gabriel 2009, 291)

Diese philosophische Selbst- und Fremderkenntnis wird aber zugleich zur Quelle von Problemen, für deren Lösung selbst wieder auf die philosophische Reflexion verwiesen wird: „An exercise in therapeutic philosophy has as its paramount goal the solution of emotional or behavioural problems that arise in the course or as a result of philosophical reflection.“ (Fischer 2011, 57)

Herausgeber und Autoren

Detlef Staude, schweizer Philosoph, betreibt eine Philosophische Praxis in Bern und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Frage, was das Besondere an dieser Form der philosophischen Lebensform ist. Über seinen Internetauftritt bekommt man auch schnell einen Überblick über die Angebotspalette, die in diesem Bereich möglich ist (www.philocom.ch). In dem vorliegenden Handbuch sind Philosophen vertreten, die selbst in Philosophischen Praxen tätig sind – dementsprechend praktisch sind die einzelnen Beiträge ausgelegt.

Das Handbuch vermittelt nicht nur einen Überblick über die gängigen Theorien, die hinter der Philosophischen Praxis stehen, sondern liefern vor allem einen Einblick in das weite Feld dieser Tätigkeit.

Die Beiträge stammen von Florian Huber, Eva Schiffer, Anders Lindseth, Martina Bernasconi, Anette Suzanne Fintz, Imre Hofmann, Manfred Jaud, Eva Zoller Morf, Markus Waldvogel und auch vom Herausgeber des Buches Detlef Staude.

Perspektiven und Aspekte der Philosophischen Praxis

In dreizehn Kapiteln wird das Spektrum der Philosophie als Lebenspraxis eröffnet – dreizehn Beiträge, die auf sehr unterschiedliche Art und Weise dokumentieren, dass Philosophie einen sehr wesentlichen Beitrag zum Leben bzw. Lebensvollzug von Menschen haben kann.

Die einzelnen Aufsätze behandeln methodische Fragen, Möglichkeiten als Philosoph eine Philosophische Praxis zu führen und einige Erfahrungen von Praktikern aus diesem Bereich. Es werden einige Arbeitsfelder näher vorgestellt und die Möglichkeiten ausgelotet, die der genuin philosophische Zugang zur Klärung und Orientierung beitragen kann. Insgesamt bietet das Buch einen sehr kompetenten Überblick über die Philosophische Praxis – die einzelnen Autoren schildern wichtige Erfahrungen aus ihrer eigenen Praxis, und liefern damit Einblicke in ein attraktives Berufsfeld. An manchen Stellen des Buches wird die Philosophische Praxis auch weitverbreiteten Coaching-Ansätzen oder Psychotherapieschulen gegenüber gestellt – Anette Suzanne Fintz setzt sich ganz konkret mit der Frage auseinander, wie im Rahmen der Philosophischen Praxis die Unterstützung von Menschen mit Führungsaufgaben aussehen kann und was die Besonderheiten dieses Zugangs im Hinblick auf sonstige Angebote in dieser Branche sind.

Fazit – Uneingelöste Ansprüche

Ein Handbuch zur Philosophischen Praxis sollte das Thema systematisch und umfassend behandeln und damit dem Leser nicht nur einige Aspekte der Philosophischen Praxis vorstellen, sondern zugleich eine fundierte Darstellung liefern, welche theoretischen Voraussetzungen an diese Tätigkeit geknüpft sind. Klar: die Philosophische Praxis ist ein weites Feld - „Wollte man dennoch ein allgemeines „Produkt“ der unterschiedlichen Felder Philosophischer Praxis nennen, müsste man es in etwa so umschreiben: Klärung und Orientierung mittels eigenständigen, kritischen Denkens. Eigenständiges, kritisches, klärendes und Orientierung ermöglichendes Denken bedarf in bestimmten Situationen des Gegenübers, in anderen erfreut es sich dessen.“ (Staude 2010, 7). Kritisches Denken, Orientierung im Leben, im Denken und im Handeln – das bieten auch andere Fachrichtungen an. Das Besondere der Philosophie liegt aber in deren Methodenreflexion – was auch der Untertitel des Handbuchs suggeriert.

Diese Besonderheit kommt aber in dem Handbuch zu kurz – viele Beiträge referieren praktische Erfahrungen und tragen den Charakter des „Werkstattberichts“ – und gehen dabei zu wenig auf wichtige Abgrenzungsfragen ein, die sich aufdrängen. Für ein Handbuch fehlt es leider auch an der Auseinandersetzung mit wesentlichen Fragen, die der Tätigkeit des Philosophen im Rahmen der Philosophischen Praxis zugrunde liegen – der Philosoph muss eine fundierte Antwort auf Fragen zur menschlichen Identität, menschlichem Denken und Handeln geben können – z.B. muss er Antworten auf die Frage geben können, weshalb sich viele Menschen quasi zersplittert fühlen - „Das eigentliche Problem liegt aber noch vermutlich tiefer. Es besteht u.a. darin, dass der „Geist der Waren produzierenden Gesellschaft“ noch den letzten Winkel akademischer Bildung ergreift, um ihr seinen Stempel aufzudrücken. Gebildet sein heißt dann: Ein Rationalitätskalkül verinnerlichen, das auf die Quantifizierung, Verdinglichung und Verwertung von Wissen setzt. Es trägt dazu bei, immer subtiler und umfangreicher Wissen zu produzieren, doch verläuft diese Produktion von „know how“ gleichsam blind. Zwar steht immer noch hoch spezialisiertes Wissen auf Abruf bereit, doch erscheint der innere Zusammenhang dieser Wissensproduktion in tausend Teile zersplittert.“(Pongratz 2010, 108) Der innere Zusammenhang ist den Menschen verloren gegangen – und Philosophie kann als Orientierungshilfe dienen: „Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“ (Wittgenstein 2005, 168)

Das vorliegende Handbuch ist sicherlich ein brauchbarer Ausgangspunkt auf dem Weg aus dem Fliegenglas – mehr leider nicht.

Literatur

  • Canetti, E. (1994 [1960]). Masse und Macht. München (GER) & Wien (AUT), Carl Hanser Verlag
  • Fischer, E. (2011). "How to Practise Philosophy as Therapy: Philosophical Therapy and Therapeutic Philosophy." Metaphilosophy 42(1-2): 49-82
  • Gabriel, M. (2009). Skeptizismus und Idealismus in der Antike. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag
  • Kant, I. (1982 [1798]). Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Immanuel Kant - Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. W. Weischedel. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag: 395-690
  • Kratochvila, H. G. (2011). "Kopfarbeit - Den emotionalen Krisen auf der Spur." Socialnet - Rezensionen: 1-6 (www.socialnet.de/rezensionen/10884.php)
  • Kratochvila, H. G. (2011). "Wie kommt der Selbstwert in die Welt …?" Socialnet - Rezensionen: 1-7 (www.socialnet.de/rezensionen/10927.php)
  • Liebsch, B. (2010). Renaissance des Menschen? Zum polemologisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart. Weilerswist (GER), Velbrück Wissenschaft
  • McEwan, I. (2005). Saturday. London (UK), Jonathan Cape
  • Pauer-Studer, H., Hrsg. (2000). Konstruktionen praktischer Vernunft. Philosophie im Gespräch. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag
  • Pongratz, L. A. (2010). Kritische Erwachsenenbildung - Analysen und Anstöße. Wiesbaden (GER), VS Verlag für Sozialwissenschaften
  • Shusterman, R. (1997). Practicing Philosophy - Pragmatism and the Philosophical Life. New York, NY & London (UK), Routledge
  • Stavemann, H. H. (2010 [2001]). Im Gefühlsdschungel. Emotionale Krisen verstehen und bewältigen. Weinheim (GER) & Basel (SUI), Beltz Verlag
  • Stavemann, H. H. (2011). … und ständig tickt die Selbstwertbombe. Selbstwertprobleme erkennen und lösen. Weinheim (GER), Beltz Verlag
  • Wiggins, D. (1987 [1976]). Truth, Invention, and the Meaning of Life. Needs, Values, Truth. Essays in the Philosophy of Value. D. Wiggins. Oxford (UK), Basil Blackwell: 87-137
  • Wittgenstein, L. (2003 [1953]). Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag

Rezension von
Mag. Harald G. Kratochvila
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Es gibt 57 Rezensionen von Harald G. Kratochvila.

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Zitiervorschlag
Harald G. Kratochvila. Rezension vom 17.03.2011 zu: Detlef Staude (Hrsg.): Methoden philosophischer Praxis. Ein Handbuch. transcript (Bielefeld) 2010. ISBN 978-3-8376-1453-4. Reihe: Edition moderne Postmoderne. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10926.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.


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