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Harlich H. Stavemann: ... und ständig tickt die Selbstwertbombe

Rezensiert von Mag. Harald G. Kratochvila, 08.02.2011

Cover Harlich H. Stavemann: ... und ständig tickt die Selbstwertbombe ISBN 978-3-621-27805-8

Harlich H. Stavemann: ... und ständig tickt die Selbstwertbombe. Selbstwertprobleme erkennen und lösen. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2011. 174 Seiten. ISBN 978-3-621-27805-8. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 33,50 sFr.

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Selbstwert, Selbstwertkonzept, Selbstwertbestimmung … Selbstbild

„ER: War das notwendig?
SIE: Nein, aber möglich.“ (Schwab 2010, 21)

Überspitzt formuliert könnte man sagen: Das menschliche Handeln und Streben wird einzig und allein davon geprägt, welchen Selbstwert sich die einzelnen Akteure geben und was sie dafür zu tun bereit sind, diesen Selbstwert kontinuierlich zu erhöhen. Es ist, mit Werner Schwab gesprochen, nicht notwendig, aber möglich, es auf diesen Nennen zu bringen. Fragen nach dem menschlichen Selbstwert werden primär als psychologische Fragestellung verstanden und als solche in der Fachliteratur diskutiert – der Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit liegt dabei auf dem Versuch, diejenigen Komponenten ausfindig zu machen, die den individuellen Selbstwert bestimmen, und andererseits Möglichkeiten bereitzustellen, durch die Veränderung einzelner dieser Komponenten den Selbstwert positiv zu verändern.

Die begrifflichen und konzeptionellen Grenzen dieser Versuche und dieses Verständnisses werden einem bewusst, wenn der Blick auf Menschen gerichtet wird, die über einen wiederholt bewiesenen hohen Selbstwert verfügen – nehmen wir als erstes Beispiel den SS-Obersturmbandführer Adolf Eichmann: „Was die niedrigen Motive betraf, so war er sich ganz sicher, daß er nicht „seinem inneren Schweinehund gefolgt“ war; und er besann sich ganz genau darauf, daß ihm nur eins ein schlechtes Gewissen bereitet hätte: wenn er den Befehlen nicht nachgekommen wäre und Millionen von Männern und Frauen und Kindern nicht mit unermüdlichem Eifer und peinlicher Sorgfalt in den Tod transportiert hätte. … Immerhin war ein halbes Dutzend Psychiater zu dem Ergebnis gekommen, er sei „normal“ – „normaler jedenfalls, als ich es bin, nachdem ich ihn untersucht habe“ soll einer von ihnen gesagt habe; ein anderer fand, dass Eichmanns ganzer psychologischer Habitus, seine Einstellung zu Frau und Kindern, Mutter und Vater, zu Geschwistern und Freunde, „nicht nur normal, sondern höchst vorbildlich“ sei.“ (Arendt 2009, 98-99) Adolf Eichmann – der Familienmensch, korrekt am Arbeitsplatz, gern gesehener Freund: Kriegsverbrecher.

Selbstwert alleine, scheint kein besonders aussagekräftiger Maßstab dafür zu sein, welche Art von leben ein Mensch führt – die Beliebigkeit moralischer Ansprüche, moralischer Verbindlichkeiten und Normen führt uns in die Schwierigkeit, Menschen wie Adolf Eichmann als gute Familienmenschen, gute Freunde, gute Arbeitskollegen usw. bezeichnen zu müssen … und eben auch als Kriegsverbrecher. Hannah Arendt hat sich sehr ausführlich mit der Frage beschäftigt, auf welche Weise man sich der Frage stellen kann, nach welchen Maßstäben das Leben, die Lebensführung von Adolf Eichmann beurteilt werden kann und sie hat sich auch der Frage gestellt, welche Bedeutung dabei moralische Überzeugungen haben können, haben müssen: Was passierte denn in Deutschland der 30er und 40erJahre des 20. Jahrhunderts? - „Die Moral zerbrach und wurde zu einem bloßen Kanon von „mores“ – van Manieren, Sitten, Konventionen, die man beliebig ändern kann – nicht bei den Kriminellen, sondern bei den gewöhnlichen Leuten, die sich, solange moralische Normen gesellschaftlich anerkannt waren, niemals hätten träumen lassen, daß sie an dem, was sie zu glauben gelehrt worden waren, hätten zweifeln können.“ (Arendt 2006, 16-17) Kriegsverbrecher sind weder äußerlich noch psychologisch von „normalen“ Menschen zu unterscheiden – und dennoch: irgendetwas unterscheidet sie dann doch von anderen: „Nach der Einnahme der UN-Schutzzone Srebrenica durch die bosnisch-serbische Armee im Juli 1995 verloren die Sieger jede Menschlichkeit und begingen Greultaten, wie wir sie in ihrer Art und in ihrem Ausmaß seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben. Innerhalb von fünf Tagen wurden Tausende bosnisch-muslimischer Zivilisten und Tausende bosnisch-muslimischer Soldaten, die ihre Waffen niedergelegt hatten, von Angehörigen der bosnisch-serbischen Armee systematisch ermordet. Es geht hier um einen Triumpf des Bösen … Die Anklage wird in diesem Prozeß die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer dieser Personen nachweisen, die von Radislav Krstic.“ (Bogoeva et al. 2002, 39-40) Der verurteilte Kriegsverbrecher Radislav Krstic hat sich „dem Bösen“ verschrieben … doch wie brauchbar ist das Hantieren mit moralischen Kategorien, wenn es um die Einschätzung von Menschen geht? Eine Antwort darauf finden wir bei Ansätzen, die einen Zusammenhang herstellen zwischen der praktischen Lebensführung und der Berücksichtigung normativer Überlegungen, dem moralischen Leben: „Die moralische Identität bildet einerseits einen Standard für unsere praktische Identitäten (nicht alle möglichen sind auch moralisch zulässig), andererseits ist sie deren Voraussetzung, indem sie das normative Gewicht von Gründen schlechthin definiert: Wenn wir unsere Menschlichkeit nicht als normativ und somit als Ursprung von Verpflichtung verstehen, können wir auch unsere praktischen Identitäten nicht als normativ sehen.“ (Pauer-Studer 2000, 37)

Der Bogen wurde weit gespannt – Selbstwert und Kriegsverbrechen. Inwieweit wurde damit der Bogen überspannt?

Autor

Dr. Harlich H. Stavemann ist Diplom-Psychologe und seit vielen Jahren im Bereich der Kognitiven Verhaltenstherapie tätig – als Buchautor, Vortragender, Therapeut und Lehrtherapeut. Seit 1979 arbeitet er am Institut für Integrative Verhaltenstherapie, das er auch selbst gegründet hat (www.i-v-t.de). Auf dieser homepage finden sich etliche Hinweise auf die Publikationstätigkeit und die Tätigkeiten, mit denen sich Harlich H. Stavemann in den vergangenen Jahren als überaus produktiver Verhaltenstherapeut etablieren konnte. Das Buch „… und ständig tickt die Selbstwertbombe“ liegt nun als Ergänzung bzw. als Einstieg zu dem umfassenderen Buch „Im Gefühlsdschungel. Emotionale Krisen verstehen und bewältigen“ vor und beinhaltet einige Online-Materialien, die über die Verlagsseite (www.beltz.de) abrufbar sind (Arbeitsblätter zum Buch).

Perspektiven und Aspekte des menschlichen Selbstwerts

Harlich H. Stavemann beginnt sein neuestes Buch über den menschlichen Selbstwert und den Möglichkeiten der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) natürlich nicht mit Überlegungen zur Lebensführung und Lebensgestaltung verurteilter Kriegsverbrecher wie Adolf Eichmann oder Radislav Krstic. Er beginnt es mit einer ganz banal klingenden Frage: „Haben Sie auch schon einmal darüber nachgedacht, ob sie ein „guter“ oder ein „wertvoller“ Mensch sind? Oder …: Haben Sie sich auch schon öfter schlecht gefühlt, weil Sie glaubten, nicht „gut genug“ oder „nicht wertvoll“ zu sein?“ (Stavemann 2011, 10) Dieses dumpfe Gefühl des Nicht-Ausreichens, des Nicht-Genügens kann mittels verschiedener Fragen in unserem Denken stecken: Wie sehr trifft es mich, dass meine Freunde mich ausgelacht haben, als ich über den Gartenschlauch gestolpert bin? Wie gehe ich mit dem Gefühl der Überforderung um, um ja „ausreichende Leistung“ im Büro zu erbringen? Warum reagiere ich immer wieder gekränkt und beleidigt, wenn Kollegen und Freunde mich auf bestimmte Dinge aufmerksam machen? Wie sehr belastet es mich, seit einigen Monaten ohne Arbeitsplatz da zu stehen?

Zunächst einmal ist es wichtig, den Begriff „Selbstwert“ von anderen ähnlich klingenden und inhaltlich verwandten Begriffen zu unterscheiden: „Selbstwert … ist der Wert, den sich jemand (nach bestimmten Regeln oder willkürlich) selbst zuschreibt.“ (Stavemann 2011, 15). Harlich H. Stavemann grenzt diesen Begriff ab vom Selbstwertkonzept, den „bewussten und unbewussten Regeln, Eigenschaften und Merkmale“ (Stavemann 2011, 15), die von den Individuen zur Bestimmung des eigenen Selbstwerts herangezogen werden; daneben gibt es noch das Selbstbild, also die Beschreibung der eigenen Person hinsichtlich bestimmter Eigenschaften, Fähigkeiten und Merkmale. Die Selbstwirksamkeit beschreibt die individuelle Erfahrung, mit Problemen in der Vergangenheit erfolgreich umgegangen zu sein – Was ich mir vorgenommen hatte, konnte ich auch umsetzen. Wie gut es gelingt, diese Selbstwirksamkeit auch in neuen Situationen anwenden zu können, wird vom Selbstvertrauen abhängig sein – „Menschen mit Selbstvertrauen glauben, aufgrund ihrer bisher erfahrenen Selbstwirksamkeit auch eine neue, unbekannte Situation meistern zu können, und sind zuversichtlich (Stavemann 2011, 15).

Was es mit dem Selbstwert und dem Selbstwertkonzept auf sich hat, erläutert Harlich H. Stavemann anhand des vom amerikanischen Psychotherapeuten Albert Ellis vorgestellten ABC-Modells der Gefühle. Zwischen der Ausgangssituation A und der Bewertung dieser Situation B und der Gefühls- und Verhaltenskonsequenz auf B besteht ein enger Zusammenhang. Selbstbeurteilungen sind zwar in den meisten Fällen und bei den meisten Menschen förderlich, oder zumindest nicht schädlich – werden aber dann problematisch bzw. schädlich, wenn sie nicht realitätsgerecht sind oder pauschalisieren, „indem sie den gesamten Selbstwert von einem einzelnen Kriterium abhängig machen.“ (Stavemann 2011, 21) Kein guter Tennisspieler zu sein, macht uns nicht zu einem schlechten oder weniger wertvollen Menschen, würde Harlich H. Stavemann an dieser Stelle erläutern.

An dieser Stelle erscheint es hilfreich, die Grundidee der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) etwas genauer vorzustellen (vgl. auch Stavemann 2010): Das menschliche Wohl und Wehe hängt nicht zu sehr von der Situation ab, in der sich das Individuum befindet, sondern davon, mit welcher Einstellung es sich dieser Situation nähert, mit welcher Einstellung es auf diese Situation reagiert. Der Bewertung kommt daher eine ganz besondere Rolle zu, wenn es darum geht, auf welche Art und Weise wir mit bestimmten Situationen umgehen können. „Schädliche Selbstwertkonzepte führen zu Selbstwertproblemen und zu emotionalen Turbulenzen.“ (Stavemann 2011, 22) – Emotionale Krisen werden durch kognitive Zuschreibungen bedingt (vgl. auch Stavemann 2010)

Diese schädlichen Selbstwertkonzepte zu erkennen (nach H. H. Stavemann sind das die sogenannten „Selbstwertbomben“) ist der erste Schritt in Richtung Veränderung – „Ein wesentlicher Schritt besteht darin, sich zunächst die eigenen unbewussten Konzepte, nach denen man lebt und reagiert, (wieder) bewusst zu machen. Nur dann kann man sie gezielt verändern.“ (Stavemann 2011, 57). Dieses Erkennen-Können gelingt über die Reflexion seiner eigenen Gefühle – den die Gefühle sind untrennbar mit dem Bewertungssystem verbunden („logisch verknüpft“). Das ABC-Modell liefert dafür einen sehr einfachen Rahmen, um Gefühle und Bewertungen explizit zu machen: Die Ausgangssituation wird als objektive, sachliche Beschreibung der Situation verstanden, wie sie auch Außenstehende wahrnehmen könnten (im folgenden: Stavemann 2011, 66 ff.). Das Bewertungssystem besteht selbst aus drei Elementen: Zum einen der subjektiven Sichtweise von A (das beinhaltet das persönliche Vorwissen, eigene Normen, Ziele und Schemata), die Interpretation dieser subjektiven Sichtweise und die Konsequenzen daraus und schließlich die Bewertungen hinsichtlich der (Lebens-) Zielrelevanz. Die Konsequenzen im ABC-Modell bestehen zum einen aus der Gefühlskonsequenz mit ihren physiologischen Begleiterscheinungen und der Verhaltenskonsequenz. Das ABC-Modell kann nun durch zwei grundsätzliche Wege Aufschluss über das eigene Bewertungssystem liefern:

  1. Als Top-Down Ansatz: A -> B1 (Subjektive Sichtweise von A) -> B2 (Interpretation + Konsequenzen) -> B3 (Bewertungen) -> C1 (Gefühlskonsequenz)
  2. Oder als Bottom Up Ansatz: A, C1 -> B3 -> B2 -> B1

Hat man sich nun das eigene Bewertungssystem bewusst machen können, so geht es im nächsten Schritt darum, die „eigenen Selbstwertbomben“ zu entschärfen (Stavemann 2011, 101 ff.) – das gelingt mittels einer Checkliste zum Prüfen der eigenen Denkmuster: Insgesamt sechs Prüfkriterien stellt H.H. Stavemann vor: Der Realitätscheck, der mit der Frage umschrieben werden kann: “ Wie wahrscheinlich ist es, dass es tatsächlich so ist, wie ich es mir denke?“ Damit sollen negative Prognosen relativiert werden oder unsinnige Kriterien der Selbstwertbestimmung erkannt werden; der Logik-Check werden die persönlichen Schlussfolgerungen auf ihren logischen Wahrheitsgehalt überprüft. Damit können fälschlich behauptete Kausalitäten erkannt oder unangemessene Schuldzuschreibungen widerlegt werden; der Moral-Check hilft uns bei der Klärung von Normkonflikten Schuld- und Schuldkonzepten oder eigenen Moralvorstellungen; der Ziel-Check fokussiert uns darauf, ob wir mit unseren Denkweisen auch tatsächlich den eigenen Zielsetzungen gerecht werden können; der Lebenszufriedenheits-Check soll uns dabei helfen, unser Denken an unseren langfristigen Zielen wie Zufriedenheit und inneres Wohlbefinden zu orientieren; und schließlich der Interne-Logik-Check stimmt die vorangegangenen fünf Checks mit der Bewertung-Gefühl-Logik ab.

Das Erkennen und Analysieren der eigenen Denkmuster ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sich diese Muster auch tatsächlich ändern lassen – die Änderung selbst läuft über die Implementierung und Anwendung eines neues persönlichen ABCZ-Modells: zum bereits angewendeten ABC-Modell kommen nun noch zwei Komponenten hinzu: das sogenannte Zielgefühl, das heißt, welches Gefühl möchte ich in einer konkreten Situation haben (und daraus erkenne ich auch, welches Bewertungssystem ich mir dafür aneignen muss) und das sogenannte Zielverhalten, das heißt, wie möchte ich in dieser konkreten Situation reagieren (auch das hängt stark von meinem Bewertungssystem ab, von meinen Denkmustern). Dieses Instrument nennt H.H. Stavemann die Selbstanalyse von Emotionen (SAE-Modell) (Stavemann 2011, 135 ff. und auch ausführlich in Stavemann 2010, 254 ff.). Damit lässt sich eine Verhaltensänderung (die eigentlich eine Denkänderung darstellt) herbeiführen.

Merk- und Denkwürdigkeiten

Bei dem Philosophen Peter Schaber findet sich in seinem Buch über Instrumentalisierung und Würde der Gedanke: „Selbstachtung sollte meines Erachtens nicht als ein Zustand des Sich-Würdigens, sondern als eine Art und Weise verstanden werden, wie man mit sich und mit anderen umgeht.“ (Schaber 2010, 52) Für H.H. Stavemann gibt es Selbstachtung in dieser Form nicht – Verhaltensänderungen sollen herbeigeführt werden können, weil wir mit unseren Gefühlen oder Reaktionen nicht zufrieden sind – der einzig zählende Maßstab dafür ist die eigene Selbstschätzung (auch ein Begriff, der sich bei H.H. Stavemann nicht findet). Warum eigentlich nicht? Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage führt auch zur großen Schwäche des Ansatzes der Kognitiven Verhaltenstherapie -der fehlenden Auseinandersetzung mit den Ansprüchen und Gründen von Normativität. Normative Aussagen sind nach H.H. Stavemann willkürliche und subjektive Aussagen, die „vom persönlichen Geschmack und Weltbild des Betrachters bestimmt“ werden (Stavemann 2011, 27). In moralischen (normativen) Angelegenheiten gäbe es keine Wahrheiten, nur Geschmacksurteile und willkürliche Setzungen: „Fast alle, die ihren Selbstwert von Fehlern abhängig machen, neigen dazu, auch dort noch um Wahrheiten zu kämpfen, wo es sich tatsächlich nur um Geschmack, Meinungen und Vorlieben handelt.“ (Stavemann 2011, 48). Menschen, die ihr Leben an solchen moralischen Normen ausrichten, bekommen das Etikett „Moralapostel“ angeheftet (Stavemann 2011, 38) – und auch im zuletzt angesprochenen „Moral-Check“ geht es darum „zu erkennen, dass „Wahrheit“, „Recht“ und „Moral“ persönliche Inhalte wiedergeben, die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit besitzen.“ (Stavemann 2011, 103-104).

„An dieser Stelle verschafft sich mit Macht die Frage nach einem entsprechenden Menschenbild Geltung. Hält man sachlich irreführende Assoziationen mit anschaulicher Bildlichkeit fern, so bezieht sich dieser Begriff auf zentrale Vorstellungen davon, worum es im Leben von Menschen geht.“ (Liebsch 2010, 139) Die zu Beginn angeführten Überlegungen von Hannah Arendt oder Herlinde Pauer-Studer zeigen aber in eine ganz bestimmte Richtung: das Ausrichten des praktischen Lebensvollzugs kann nur in Übereinstimmung mit einem moralischen Leben gelingen – die praktische Identität ist eine moralische Identität, und in dieser Frage ist auch der Bezug auf die Kategorie „Wahrheit“ nicht obsolet, wie auch David Wiggins betont: „In what follows, I try to explore the possibility that the question of truth and the question of life‘s meaning are among the most fundamental questions of moral philosophy. The outcome of the attempt may perhaps indicate that, unless we want to continue to think of moral philosophy as the casuistry of emergencies, these questions and the other questions that they bring to our attention are a better focus for ethics and meta-ethics that the textbook problem „What [under this or that or the other circumstance] shall I do?”. My finding will be that the question of life‘s meaning does …lead into the question of truth – and conversely.” (Wiggins 1987, 88)

Das Aussparen normativer Überlegungen im Rahmen der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) ist ein interessantes Phänomen, das es genauer zu untersuchen gilt. Vielleicht hängt es auch mit dem eher mechanistischen Verständnis menschlicher Handlungen und Überlegungen (im Gegensatz dazu vgl. Horn et al. 2010) zusammen, das diesen Ansatz ausmacht: Wir sind bestimmten Situationen ausgesetzt und wie wir darauf reagieren hängt sehr stark damit zusammen, mit welchen Denkmustern wird durchs Leben gehen. Emotionen und Verhaltensweisen hängen „logisch“ mit den kognitiven Bewertungsmustern zusammen, die wir uns zurechtgelegt haben (oder das uns tradiert wurde). Jedenfalls steht im Fokus des Interesses dieses Bewertungssystem: an ihm kann mit Hilfe bestimmter Werkzeuge gearbeitet werden (SAE-Modell), damit wir schließlich (wieder) funktionieren. In diesem Verständnis ist für „Sinn“, „Moralität“, „Ansprüche“ oder „Moralität“ kein Platz – sie alle werden ins Beliebigkeits- und Subjektivitätsreich verbannt, wo alles auch beliebig änderbar scheint. Kritisches Denken, Kategorien wie „Vernunft“ und „Moral“, „Gerechtigkeit“ und „Persönlichkeit“ finden darin keinen Platz. Wie sehr sich die Herangehensweise ändert, werden diese wichtigen Komponenten menschlichen Denkens und Handelns nicht ausgespart, wird augenscheinlich, orientiert man sich an der Philosophischen Lebenspraxis: „Wollte man dennoch ein allgemeines „Produkt“ der unterschiedlichen Felder Philosophischer Praxis nennen, müsste man es in etwa so umschreiben: Klärung und Orientierung mittels eigenständigen, kritischen Denkens. Eigenständiges, kritisches, klärendes und Orientierung ermöglichendes Denken bedarf in bestimmten Situationen des Gegenübers, in anderen erfreut es sich dessen.“ (Staude 2010, 7)

Fazit – Die fehlende Frage der Normativität

Harlich H. Stavemann stellt in seinem Buch ein sehr einfaches Modell menschlichen Verhaltens und Lebens dar – ein mechanisches Modell, wo es nur darum zu gehen scheint, die richtigen Rädchen und Schrauben zu bedienen, um (wieder) zu funktionieren – die eigene Selbstwertschätzung als Maßstab bedarf keiner Orientierung am „moralischen Leben“, an Gründen und Überlegungen zur Normativität praktischer Identität (vgl. Korsgaard 2004). Das Modell selbst wird klar und ausführlich dargestellt – aber eben nur dargestellt, nicht kritisch diskutiert – dementsprechend finden sich auch nur zwei zitierte Autoren in dem Buch: Harlich H. Stavemann selbst und Epiktet (über die Philosophie der Stoa informiert Guckes 2004), der vor allem als Literaturbeleg dafür gilt, dass es nicht die Dinge selbst sind, die Menschen beunruhigen, sondern die Ansichten, die sich Menschen darüber zurecht gelegt haben. Das ABC-Modell bzw. das ABCZ-Modell sind plausibel und werden auch sehr plausibel präsentiert – ein schaler Nachgeschmack bleibt dennoch: In der Philosophie heißt es sehr oft: Plausibilität ist noch kein Argument.

Das Buch über die vermeintlichen Selbstwertbomben ist eine Art „Sequel“ zum Buch „Im Gefühlsdschungel“ – wer das zuletzt genannte Buch bereits gelesen hat und kennt, wird im neuen Buch von H.H. Stavemann nichts Neues finden. Wer sich (erstmals) näher mit der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) beschäftigen möchte, den verweise ich ohnehin auf das Buch „Im Gefühlsdschungel“ – es liefert dasselbe Konzept, nur ausführlicher. H.H. Stavemann hat ein routiniert geschriebenes Buch vorgelegt, das vermutlich nicht viele Freunde finden wird – die seine Arbeit bereits kennen, bekommen nichts Neues geboten, diejenigen, die mit diesem Buch zum ersten Mal etwas von H.H. Stavemann gelesen haben werden, bekommen den schalen Nachgeschmack nicht weg –„Was, das soll alles gewesen sein?“.

Literatur

  • Arendt, H. (2006 [2003]). Über das Böse - Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München (GER) & Zürich (SUI), Piper Verlag
  • Arendt, H. (2009 [1963]). Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München (GER) & Zürich (SUI), Piper Verlag
  • Bogoeva, J. und C. Fetscher (2002). Srebrenica - Ein Prozeß. Dokumente aus dem Verfahren gegen General Radislav Krstic vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag
  • Guckes, B., Hrsg. (2004). Zur Ethik der älteren Stoa. Göttingen (GER), Vandenhoeck & Ruprecht
  • Horn, C. und G. Löhrer, Hrsg. (2010). „Gründe und Zwecke - Texte zur aktuellen Handlungstheorie.“ Berlin (GER), Suhrkamp Verlag
  • Korsgaard, C. M. (2004). Self-Constitution in the Ethics of Plato and Kant. Setting the Moral Compass - Essays by Women Philosophers. C. Calhoun. New York, NY (USA), Oxford University Press: 309-332
  • Kratochvila, H. G. (2011). „Kopfarbeit - Den emotionalen Krisen auf der Spur.“ Socialnet - Rezensionen: 1-6 (www.socialnet.de/rezensionen/10884.php)
  • Kratochvila, H. G. (2010). „Die Selbstachtung und Instrumentalisierung von Menschen.“ Socialnet - Rezensionen: 1-4 (www.socialnet.de/rezensionen/9973.php)
  • Liebsch, B. (2010). Renaissance des Menschen? Zum polemologisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart. Weilerswist (GER), Velbrück Wissenschaft
  • Pauer-Studer, H., Hrsg. (2000). Konstruktionen praktischer Vernunft. Philosophie im Gespräch. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag
  • Schaber, P. (2010). Instrumentalisierung und Würde. Paderborn (GER), mentis Verlag
  • Schwab, W. (2010 [1992]). OFFENE GRUBEN OFFENE FENSTER EIN FALL von Ersprechen. „Königskomödien.“ W. Schwab. Graz (AUT) & Wien (AUT), Literaturverlag Droschl: 5-64
  • Staude, D., Ed. (2010). Methoden Philosophischer Praxis - Ein Handbuch. Edition Moderne Postmoderne. Bielefeld (GER), transcript Verlag
  • Stavemann, H. H. (2010 [2001]). Im Gefühlsdschungel. Emotionale Krisen verstehen und bewältigen. Weinheim (GER) & Basel (SUI), Beltz Verlag
  • Wiggins, D. (1987 [1976]). Truth, Invention, and the Meaning of Life. Needs, Values, Truth. Essays in the Philosophy of Value. D. Wiggins. Oxford (UK), Basil Blackwell: 87-137

Rezension von
Mag. Harald G. Kratochvila
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Zitiervorschlag
Harald G. Kratochvila. Rezension vom 08.02.2011 zu: Harlich H. Stavemann: ... und ständig tickt die Selbstwertbombe. Selbstwertprobleme erkennen und lösen. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2011. ISBN 978-3-621-27805-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10927.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.


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