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Hellmuth Kiowsky: Das Urteil. Wege zur moralischen Urteilsfindung

Rezensiert von Mag. Harald G. Kratochvila, 21.09.2011

Cover Hellmuth Kiowsky: Das Urteil. Wege zur moralischen Urteilsfindung ISBN 978-3-86226-029-4

Hellmuth Kiowsky: Das Urteil. Wege zur moralischen Urteilsfindung. Centaurus Verlag & Media KG (Freiburg) 2010. 194 Seiten. ISBN 978-3-86226-029-4. D: 18,90 EUR, A: 18,90 EUR, CH: 32,90 sFr.
Reihe: Philosophie - 35.

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Moralität und moralisches Urteil

Urteile spielen im Leben von uns Menschen eine ganz besondere Rolle - darin bringen wir unsere Werte, unseren Charakter und unser Wissen und Verständnis zum Ausdruck. „Urteilen ist wie Atmen, man darf diese Macht niemals aufgeben, wir haben sie von Gott, sie ist unsere ganze Menschlichkeit, man darf sie weder aus der Hand geben noch irgendeinem Wind überlassen, der irgendwie von irgendjemandem geweckt wurde. Zum Teufel mit der Toleranz, wenn sie Feigheit bedeutet!“ (Sansal 2007, 268) Es ist in diesem Zusammenhang völlig unerheblich, ob Gott tatsächlich die Quelle für unser Urteilsvermögen darstellt - wichtig ist: Urteile sind Behauptungen, die sich auf die Welt beziehen oder darauf, wie die Welt zu sein habe - Darin liegt auch ihr philosophisches Kernproblem begründet: „The central problem is that of understanding the capacity of the mind to form, entertain, and affirm judgements, which are not simply strings of words but items intrinsically representing some state of affairs, or way that the world is or may be.“ (Blackburn 1994, 203)

Prägnant formuliert - in Urteilen bringen wir das Besondere unter das Allgemeine - „Alle Urteile sind demnach Funktionen der Einheit unter unseren Vorstellungen, da nämlich statt einer unmittelbaren Vorstellung eine höhere, die diese und mehrere unter sich begreift, zur Erkenntnis des Gegenstandes gebraucht, und viele mögliche Erkenntnisse dadurch in einer zusammengezogen werden. Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so daß der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urteilen vorgestellt werden kann. Denn er ist nach dem obigen ein Vermögen zu denken. Denken ist das Erkenntnis durch Begriffe.“ (Kant 1998, 146; B 94) Sprache konstruiert - selbst ein mentales Konstrukt - daher unsere Wahrnehmung, unser Denken und unser Verhalten - Warum? Weil Sprache immer nur Statthalter für Ideen und Werte ist und sein kann, die unseren Urteilen darüber, was wir sein und tun wollen, und wie wir und die Welt beschaffen sind, zugrunde liegen. „Es ist die Sprache, die dem Denken die Chancen öffnet, und ihm die Grenzen zieht.“ (Schneider 2008, 98)

Philosophie ist nun eine ganz besondere Verwendungsweise von Sprache: „Eine der wichtigsten und auch schwersten Aufgaben der Philosophie ist es, eine bestimmte Unterscheidungslinie zu ziehen. Diese Linie teilt die Wirklichkeit in das Wirkliche, das vom Denken, Wollen und Fühlen des Menschen unabhängig ist, und das Wirkliche, das vom Menschen und seinem Zugriff auf die Welt abhängig ist. Für das Verständnis der Wirklichkeit und der Art und Weise, wie die Menschen sich auf sie beziehen, ist es zentral, diese Unterscheidung zu machen und zu erkennen, wo die Trennlinie verläuft.“ (Stemmer 2008, 1)

Diese Trennlinie, von der hier gesprochen wird ist für ein paradox anmutendes Ziel vonnöten: „Rein und in seiner Endabsicht betrachtet, ist sein Denken [des Menschen, HGK] immer nur ein Versuch seines Geistes, vor sich selbst verständlich, sein Handeln ein Versuch seines Willens, in sich frei und unabhängig zu werden, seine ganze äußere Geschäftigkeit überhaupt aber nur ein Streben, nicht in sich müßig zu bleiben. Bloß weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders, als nur vermöge eines dritten, nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, Nichtmensch, d.i. Welt zu sein, sucht er, soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.“ (Humboldt 2008, 849-850)

Urteile sind also der Versuch, soviel als möglich von der Welt zu ergreifen, um sich auf diese Weise mit ihr zu verbinden. Moralische Urteile sind dementsprechend der Versuch, sich mit der moralischen Welt zu verbinden: „A moral or ethical statement may assert that some particular action is right or wrong; or that actions of certain kinds are so; it may offer a distinction between good and bad characters or dispositions; or it may propound some broad principle from which many more detailed judgments of these sorts might be inferred.? (Mackie 1990, 9)

Die moralische Welt ist ein Konglomerat aus Überzeugungen und Wertvorstellungen - „Ähnlich wie das in einer Gesellschaft geltende Rechtssystem ist die Moral ein komplexes Ganzes aus teils kollektiv geteilten, teils individuellen und gruppenspezifisch ausdifferenzierten Überzeugungen über richtiges Handeln und ihnen entsprechenden Forderungen.“ (Birnbacher 2003, 8) Diese Moral ist gekennzeichnet durch vier Elemente: (1) „Im Mittelpunkt der Moral stehen Urteile, durch die ein menschliches Handeln positiv oder negativ bewertet, gebilligt oder missbilligt wird.“ (2) „Moralische Urteile sind kategorisch. Sie bewerten Handlungen unabhängig davon, wieweit diese den Zwecken und Interessen des Akteurs entsprechen.“ (3) „Moralische Urteile beanspruchen intersubjektive Verbindlichkeit.“ (4) „Moralische Urteile bewerten Handlungen ausschließlich aufgrund von Faktoren, die durch Ausdrücke von logisch allgemeiner Form ausgedrückt werden können.“ (Birnbacher 2003, 13)

Autor

„Hellmuth Kiowsky, Realschullehrer, Dr. phil., studierte Indologie, Pädagogik, Ur- und Frühgeschichte und promovierte 1986 an der Universität Basel (Schweiz) im Fachbereich Philosophie. Er ist Autor mehrerer philosophischer Werke und Aufsätze.“ (www.centaurus-verlag.de)

Aufbau und Inhalt

Das Buch widmet sich der Frage, anhand welcher Kriterien und Maßstäben moralisches Urteilen gemessen werden kann, wenn es solche Kriterien überhaupt geben sollte. Der Autor bettet diese Frage in den Kontext des selbstverantwortlichen und vernünftigen Handelns, das er als wesentliche Grundbedingung für moralisches Urteilen identifiziert (vgl. Kiowsky 2011, 7). Die Ausgangsprämisse des Buches ist die unvereinbare Gegenüberstellung von Vernunft und Gefühl als mögliche Basis für valide moralische Urteile.

In fünf Kapiteln wird nun der Versuch unternommen, Begründungen von Urteilen einer kritischen Sichtung zu unterziehen. Das erste Kapitel („Gefühl“ - S.13-48) greift einige ethische Positionen und Theorien auf, die im menschlichen Gefühl eine tragfähige Basis für valide moralische Urteile sehen. Eng mit dem Begriff Gefühl sind in diesem Zusammenhang auch die Begriffe „Intuition“ und „Wahrnehmung“ - Hellmuth Kiowsky versucht hier zu zeigen, welchen Schwierigkeiten diese Positionen ausgesetzt sind. Im zweiten Kapitel („Koalition von Gefühl und Verstand als Versuch der Urteilsfindung“ - S.49-82) werden dann auch Theorien vorgestellt, die zwischen dem Gefühl und der Vernunft einen Ausgleich schaffen wollen. Das dritte Kapitel („Vernunft“ - S. 83-123) stellt die ethischen Positionen dar, die der Vernunft eine Vorrangstellung in der Begründung moralischer Urteile zukommen lassen. In den letzten beiden Kapiteln („Das moralische Urteil“ - S.124-170) und („Begründung von Urteilen“ - S. 171-234) fügt der Autor die zuvor diskutierten Positionen zusammen und stellt seine eigene Position in dieser Frage dar - diese Position ist aber wenig überzeugend und darüber hinaus ohne Kontur: „Es kommt letzten Endes auf die Gesinnung, auf die Überzeugung, auf den Einfluss des Umfeldes des Betrachters an. Damit sei auch gemeint Erziehung, Jugenderlebnisse und Umgang.“ (Kiowsky 2011, 235) Moralische Urteile können anhand von vier Kriterien bewertet werden: Intuitionen, Erfahrungen, Gefühl und Vernunft (vgl. Kiowsky 2011, 236). Der Autor schließt sein Buch daher auch folgerichtig mit dem Satz: „Daher ist die Frage nach dem richtigen Weg zur moralischen Urteilsfindung der individuellen Ermessensfrage unterstellt, die je nach Erfahrung, Argument, Einsicht und Gewissen zu beantworten ist.“ (Kiowsky 2011, 238)

Diskussion

Dem Buch fehlt es an Systematik und an Seriosität. Hellmuth Kiowsky verabsäumt es leider sich überzeugend auf das Thema „Moralisches Urteil“ einzulassen - an vielen Stellen bekommt man den Eindruck, dass er die Diskussion um moralische Urteile als Diskussion um ethische Theorien führen möchte. Doch damit trifft er weder die Kernfragen zu Urteilen bzw. zu moralischen Urteilen (vgl. das Zitat von Simon Blackburn), noch das Wesen ethischer Theorien (vgl. das Handbuch von David Copp oder die in der Literaturliste angeführten Einführungsbücher in die Ethik). Ein Buch, das sich explizit mit Urteilen befasst (befassen möchte), aber an keiner Stelle eine Definition dafür liefert, was Urteile eigentlich sind, und wie sie sich von anderen Sprech- und Denkoperationen unterscheiden, ist nicht nur an den eigenen Ansprüchen gescheitert. Es genügt damit nicht einmal der Minimalforderung, Urteile in ihrer Art und Gestalt transparent zu machen - Hellmuth Kiowsky hätte sich dann ausführlich mit folgenden Fragen auseinandersetzen müssen: (1) „The normative question: How should we evaluate thinking, judgment, and decision making? By what standards?“ (2) „The descriptive question: How should we think? What prevents us from doing better than we do according to normative standards?“ (3) „The prescriptive question: What can we do to improve our thinking, judgment, and decision making, both as individuals and as a society.“ (Baron 2008, 4) Darüber hinaus hätte der Autor das Besondere an moralischen Urteilen kennzeichnen müssen. Für die Philosophie ist das eine der wichtigsten Fragen überhaupt: „Ethics, or moral philosophy, is the point at which philosophers come closest to practical issues in morals and politics. It thus provides a major part of the practical justification for doing philosophy.“ (Hare 1997, 1)

Fazit

„The world we live in contains an abundance of things, events, processes. There are trees, dogs, sunrises; there are clouds, thunderstorm, divorces; there is justice, beauty, love; there are the lives of peoples, gods, cities, of the entire universe. ... Not everybody lives in the same world. ... There are different events, not just different appearances of the same events. ? Speech is poetry... (Feyerabend 1999, 104-105) Der konstruktivistische Gedanke von den Grenzen der Welt als Grenzen der eigenen Sprache macht einen Teil der Faszination von Sprache und der Beschäftigung damit aus: Urteile sind faszinierend weil sie nicht einfach Wortketten sind, sondern „items intrinsically representing some state of affairs, or way that the world is or may be. (Blackburn 1994, 207). Mit Urteilen stecken wir unsere Welt ab.

Das Fazit fällt leider ungewöhnlich eindeutig aus: Das Buch ist schlecht. Weder schafft es der Autor die Frage nach legitimen moralischen Urteilen systematisch zu erfassen, noch sie korrekt in den Rahmen ethischer und moralischer Theorien zu stellen. Seine Darstellung ist unausgegoren und kommt über weite Strecken des Buches nicht über das (nicht immer nachvollziehbare) Aneinanderfügen von Zitaten aus der klassischen philosophischen Literatur hinaus. Es fehlt an einem stringenten Aufbau, einer schlüssigen Argumentation und einer seriösen Auseinandersetzung mit den Positionen in der Frage nach der Legitimation moralischer Urteile. Der Autor verabsäumt es sogar klar zu machen, was ein Urteil überhaupt ausmacht, und worin sich darüber hinaus moralische Urteile von anderen Urteilsformen unterscheiden. Sein eigenes Resümee läuft auf eine Position hinaus, die mit Moral und Moralität kaum in Einklang zu bringen ist - Sein „Jeder wie er meint“ ist nicht das Ergebnis einer Argumentation, sondern ein Fazit, das in dieser Form eine Veröffentlichung nicht verdient gehabt hätte. Leser, die sich gewinnbringend und seriös mit dem Thema beschäftigen wollen, sollten auf die Bücher von Dieter Birnbacher, Herlinde Pauer-Studer oder Christoph Fehige zurückgreifen. Doch mit dem Buch „Das Urteil“ hat Hellmuth Kiowsky weder sich noch den Lesern einen Dienst erwiesen - „Das Urteil“ stellt in der Tat ein Urteil dar - aber keines, über das sich der Autor freuen könnte.

Literatur

  • Baron, J. (2008 [1988]). Thinking and Deciding. New York, NY (USA), Cambridge University Press
  • Birnbacher, D. (2003). Analytische Einführung in die Ethik. Berlin (GER) & New York, NY (USA), Walter de Gruyter
  • Blackburn, S. (1994). The Oxford Dictionary of Philosophy. Oxford (UK) & New York, NY (USA), Oxford University Press
  • Copp, D., Ed. (2006). The Oxford Handbook of Ethical Theory. Oxford Handbooks in Philosophy. Oxford (UK), Oxford University Press
  • Hare, R. M. (1997). Sorting Out Ethics. Oxford (UK), Clarendon Press: Oxford University Press
  • Humboldt, W. v. (2008). Schriften zur Sprache. Frankfurt/Main (GER), Zweitausendeins
  • Fehige, C. (2004). Soll ich? Stuttgart (GER), Philipp Reclam jun.
  • Feyerabend, P. K. (1999 [1987]). Farewell to Reason. London (UK) & New York, NY (USA), Verso
  • Kant, I. (1998 [1781-1787]). Kritik der reinen Vernunft. Hamburg (GER), Felix Meiner Verlag
  • Mackie, J. L. (1990 [1977]). Ethics. Inventing Right and Wrong. Harmondsworth (UK), Penguin Books
  • Pauer-Studer, H. (2003). Einführung in die Ethik. Wien (AUT), WUV-Universitätsverlag
  • Sansal, B. (2007 [2005]). Harraga. Gifkendorf (GER), Merlin Verlag
  • Schneider, W. (2008). Speak German! Warum Deutsch manchmal besser ist. Reinbeck/Hamburg (GER), Rowohlt Verlag
  • Stemmer, P. (2008). Normativität. Eine ontologische Untersuchung. Berlin (GER) & New York, NY (USA), Walter de Gruyter

Rezension von
Mag. Harald G. Kratochvila
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Es gibt 57 Rezensionen von Harald G. Kratochvila.

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Zitiervorschlag
Harald G. Kratochvila. Rezension vom 21.09.2011 zu: Hellmuth Kiowsky: Das Urteil. Wege zur moralischen Urteilsfindung. Centaurus Verlag & Media KG (Freiburg) 2010. ISBN 978-3-86226-029-4. Reihe: Philosophie - 35. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10930.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.


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