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Robert Castel: Die Krise der Arbeit

Rezensiert von Prof. Dr. Hans-Peter Michels, 12.10.2011

Cover Robert Castel: Die Krise der Arbeit ISBN 978-3-86854-228-8

Robert Castel: Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums. Hamburger Edition (Hamburg) 2011. 383 Seiten. ISBN 978-3-86854-228-8. 32,00 EUR.

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Thema

Seit Mitte der 1970er Jahren hat sich der Kapitalismus erheblich verändert. Robert Castel spricht gar von einer „großen Transformation“. Doch nicht nur Produktions- und Arbeitsbedingungen wurden umgewälzt, sondern auch gesellschaftliche und staatliche Regulationsweisen haben sich gewandelt. Dies geschah häufig nicht zum Vorteil der Beschäftigten, obwohl gerade sie dazu betragen Reichtum zu produzieren.

Autor

Robert Castel ist ein französischer Soziologe, der vor allem durch sein Buch die „Metamorphose der sozialen Frage“ die sozialpolitische Debatte der letzten Jahre mitbestimmt hat.

Entstehungshintergrund

Für diesen Band wurden Texte von Robert Castel aus den Jahren von 1995 bis 2008 (mit Ausnahme des Beitrags „Der Roman der Entkoppelung. Über „Tristan und Isolde„“ aus dem Jahre 1990) zusammengestellt und zum Teil überarbeitet.

Aufbau

Mit der Einleitung „Eine große Transformation“ versucht Castel einen Zusammenhang für seine verschiedenen Beiträge herzustellen. Er hebt die qualitativen Veränderungen im Kapitalismus hervor, die sich ab ca. den 1970er Jahren vollzogen haben. Die einzelnen Artikel und Essays behandeln

  1. die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse (Teil I),
  2. den Umbau der Sozialsysteme (Teil II) sowie
  3. die dadurch bedingte Veränderung der Lebensverhältnisse für abhängig Beschäftigte und Arbeitslose. Diese könne man mit den Begriffen Reindividualisierung und Entkollektivierung am ehesten charakterisieren (Teil III).

Inhalt

In der Einleitung bestimmt Robert Castel die Veränderungen im Kapitalismus. Der Industriekapitalismus der Nachkriegsjahre bis etwa Mitte der 1970er Jahre unterscheide sich stark von dem heutigen entfesselten „neoliberalen“ Kapitalismus. Eine „große Transformation“ habe in den westlichen Gesellschaften stattgefunden, die nicht nur die Produktionsweise betrifft, sondern auch die Regulationsweise.

Nach Einschätzung von Castel hatte sich die Lage der Arbeiter oder der Arbeitnehmer im Industriekapitalismus für die 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich verbessert. Sie sei nicht mehr vergleichbar mit der zu Marxens Zeiten, der noch vom „doppelt freien Lohnarbeiter“ sprach. Im „Westen“ hätten sich die Lebensverhältnisse der Arbeitnehmer durch Reformen verbessert, eine Revolution sei dazu nicht erforderlich gewesen. Arbeiter hätten Rechte erlangt, beispielsweise das Recht auf Absicherung im Krankheitsfall, bei Arbeitslosigkeit oder das Recht auf Ruhestand. Diese Rechte könne man als Sozialeigentum bezeichnen, weil sie in gewisser Weise existenzsichernd gewesen seien. Dadurch wären Arbeitnehmer in eine vergleichbare Lage wie der kleine Rentier gekommen, der auch keine großen Sprünge machen konnte. Dieses Sozialeigentum sei konstitutives Element der westlichen Demokratien gewesen, hätte es doch den Arbeitnehmern erlaubt am politischen und gesellschaftlichen Leben zu partizipieren – eine Teilhabe, die analog der Teilhabe des Bürgers zu werten sei, die sich auf Eigentum gründet.

Diese rechtlichen Absicherungen seien durch Gewerkschaften, große Belegschaften bzw. Kollektive mit weitgehend gleichgerichteten Interessen erkämpft worden und insofern auch in ihrer Ausrichtung kollektiv. Für die Mehrheit der abhängig Beschäftigten hätte dies einen entscheidenden Fortschritt bedeutet, sie seien gewissermaßen erst dadurch zu Staatsbürgern geworden.

Das sei eine positive und fortschrittliche Entwicklung gewesen, auch wenn in den neoliberal geprägten Gesellschaften diese kollektiven Rechte als zu unspezifisch kritisiert werden. Aus der Sicht der Sozialen Arbeit beispielsweise würden Rechte, die für Kollektive ausgestaltet sind, oft als Manko gesehen, da heute solche Gesetze nicht mehr für die Ausgestaltung individueller Hilfen dienlich seien.

In der großen Transformation des Kapitalismus seien die Kollektive aufgesplittet worden. Neue Formen der Produktion und Arbeitsorganisation, z.B. „just in time„-Produktion, „lean management“, Projektarbeit oder flexiblere Arbeitszeiten, hätten eine Entkollektivierung und Reindividualisierung zur Folge. Diese Entwicklungen würden die Position der Arbeitnehmer im Verhältnis zu den Kapitalisten bzw. Unternehmern erheblich schwächen.

Zur Regulation dieser Transformationsfolgen im Sinne von Arbeitnehmerinteressen wäre ein entsprechend starker Sozialstaat zweckdienlich, da eine solidarische Stützung bei prekär gewordenen Arbeits- und Lebensverhältnissen dringlicher denn je sei. Statt dessen sei der Sozialstaat abgebaut worden, Hilfen reduziert worden, so z.B. das Recht auf Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Den „Schwachen“ würde man gerade in den Zeiten Hilfen kürzen, wo sie dieser besonders bedurft hätten.

Gewinner würde es zwar auch in diesen Transformationsprozessen geben, das seien aber diejenigen, die über ausreichende Ressourcen verfügen würden (etwa über solche, die Bourdieu mit „ökonomischem“ oder „kulturellem Kapital“ bezeichnete). Die Verlierer, die Schwachen würden als „bloße Individuen“ auf der Strecke bleiben. Individuen, die über keine oder kaum Ressourcen verfügen, da auch Gemeingüter zunehmend privatisiert würden und ihre Nutzung eben nicht mehr frei sei. Sie seien auf sich zurückgeworfen, weil man ihnen das Sozialeigentum genommen habe.

Damit würde ein Prozess der Entdemokratisierung in den westlichen Gesellschaften einhergehen, da solchen „bloßen Individuen“ die Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Geschehen immens erschwert worden sei.

Diskussion

Robert Castel verzichtet in seinen Beiträgen weitgehend auf eine Analyse der ökonomischen Bedingungen der großen Transformation des Kapitalismus. Das schlägt sich besonders bei seiner Analyse der Arbeitsgesellschaft nieder: Seiner Ansicht nach würden Klassengegensätze heute nicht mehr bestimmend sein, sondern Konkurrenz und Konflikte würden zwischen den Arbeitnehmern bestehen, da sie unterschiedlichen Berufsgruppen angehörten und sich die Arbeitsverhältnisse zunehmend ausdifferenziert hätten. Zwar merkt er an anderer Stelle an, dass ein In-Konkurrenz-setzen stattfindet, doch verbindet er diese Einsicht nicht mit seiner Analyse der Arbeitsgesellschaft. Sonst hätte er erkennen können, dass die Konflikte zwischen den abhängig Beschäftigen einer Lateralisierung der Klassengegensätze geschuldet sind, indem aktiv eine Entkollektivierung und Reindividualisierung seitens derjenigen, die über die Produktionsmittel verfügen, betrieben wird. Wie der Milliardär Warren Buffett schon sagte: „There's class warfare, all right, …, but it's my class, the rich class, that's making war, and we're winning“ (The New York Times, 26.11.2006).

Da Castel diese Gegensätze nicht aufgreift und einer reformistischen Perspektive verhaftet bleibt, kann er seine politischen Forderungen nur voluntaristisch formulieren: So appelliert er an die Vernunft der Gewinner, dass es nicht in ihrem Interesse sein könne die sozialen Zusammenhänge der Auflösung durch den Markt zu überlassen. Oder: Die Marktanarchie könne nicht mehr in den Bahnen nationalstaatlicher Politik, sondern nur durch Bildung internationaler Institutionen gebändigt werden. Allein – er kann keine politischen Subjekte benennen, die diese Forderungen in reale Politik umsetzen.

Castels Ausführungen zum Abbau des Sozialeigentums, die zu unterschiedlichen Formen der Prekarität bei abhängig Beschäftigten, Arbeitslosen und Armen führten und deren gesellschaftliche Position immens schwächten, sind nichtsdestotrotz lesenswert. Seine Argumentation übersteigt immerhin das Niveau linker, sozialdemokratischer oder grüner Parteidebatten in Deutschland.

Fazit

Robert Castel hat mit seinen Beiträgen aufgezeigt, dass Alternativen zum neoliberalen Reformismus dringend notwendig sind, um die Entdemokratisierung westlicher Gesellschaften aufzuhalten.

Rezension von
Prof. Dr. Hans-Peter Michels
Dipl.-Psychol.

Es gibt 40 Rezensionen von Hans-Peter Michels.

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Zitiervorschlag
Hans-Peter Michels. Rezension vom 12.10.2011 zu: Robert Castel: Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums. Hamburger Edition (Hamburg) 2011. ISBN 978-3-86854-228-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10975.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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