Rainer Funk: Der entgrenzte Mensch
Rezensiert von Dr. Helmut Johach, 18.03.2011
Rainer Funk: Der entgrenzte Mensch. Warum ein Leben ohne Grenzen nicht frei, sondern abhängig macht. Gütersloher Verlagshaus Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH (Gütersloh) 2011. 240 Seiten. ISBN 978-3-579-06756-8. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 33,90 sFr.
Thema
Als Psychoanalytiker in der Tradition Erich Fromms befasst sich Rainer Funk im vorliegenden Buch, wie schon vor einigen Jahren in Ich und Wir - Psychoanalyse des postmodernen Menschen (München 2005), mit einer sozialpsychologischen Fragestellung: Wie wirken sich die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte auf die – größtenteils unbewussten – Wünsche und Strebungen, auf das Selbstbild, die Vorstellungen und Beziehungen des heutigen Menschen aus? Die Globalisierung der Wirtschaft, die Veränderungen in der Arbeitswelt und die neuen Medien mit ihren Möglichkeiten zur Erzeugung virtueller Realität werden in ihren Auswirkungen auf die Innenausstattung des Menschen untersucht und unter dem Aspekt der Entgrenzung gebündelt. Wie der Untertitel des Buches erkennen lässt, belässt es Funk nicht bei einer deskriptiven Nachzeichnung sozialpsychologischer Veränderungen; vielmehr weist er im letzten Teil seines Buches auf die Gefahren des Nichtwahrhabenwollens von Grenzen hin, wie sie sich z.B. im menschlichen Entwicklungsprozess ergeben. Dies mündet in eine Auseinandersetzung um Verlockungen und Risiken „entgrenzender“ Lebensgestaltung, für die der Autor aus einem Fundus therapeutischer Erfahrung schöpfen kann.
Aufbau und Inhalt
Einleitend zeigt der Autor am Beispiel Michael Jacksons, wie personifiziertes Entgrenzungsstreben zu einer künstlich kreierten Persönlichkeit führen kann, bei der die Grenzen von Herkunft, Alter und Geschlecht verschwimmen und schließlich auch noch die Realität des Todes verleugnet wird. Andererseits kann schon ein über mehrere Stunden oder Tage andauernder Stromausfall drastisch die Grenzen vor Augen führen , mit denen wir in solchen Situationen konfrontiert sind. Derartige Grenzen werden im Alltag schlicht verleugnet, weil wir uns in der Abhängigkeit von der Technik – Freud sprach seinerzeit von einem „Prothesengott“ – gut eingerichtet haben. Das derzeitige Entgrenzungstreben geht nach Funk jedoch darüber hinaus. Im Unterschied zu Grenzüberschreitung und Grenzverletzung, bei denen Grenzen bestehen bleiben, zielt Entgrenzung radikaler auf das Rückgängigmachen und Beseitigen von Grenzen, die physikalisch durch Zeit und Raum, biologisch durch die begrenzte Lebenszeit und sozial durch Tradition und verbindliche Moralvorstellungen gesetzt sind. Anders als die Moderne, deren Fortschrittsidee das Hinausschieben und Verändern bestehender Grenzen implizierte, ist die „Zweite Moderne“ (S. 40), in der wir leben, durch radikale Aufhebung von Grenzen und Freiheit im Sinne unbegrenzter Pluralität gekennzeichnet.
Nach dieser Begriffsklärung geht Funk genauer auf die Entgrenzung in Wirtschaft und Arbeitswelt ein. Die Globalisierung der Wirtschaft hat zu einer Entgrenzung von politischen Vorgaben, zu einer „Entbettung“ der Ökonomie gegenüber der Gesellschaft geführt. Der Markt bzw. eine Vielzahl von Märkten bestimmt das Wirtschaftsgeschehen, der Preis ist an die Stelle der realen Beziehung zwischen Produzent, Händler und Käufer getreten. Funk spricht in lockerem Anschluss an Marx von „Preis-“- anstelle von „Warenfetischismus“ (S. 44), womit die Feststellung getroffen wird, dass die Preise (z.B. Aktienkurse) wie selbständig handelnde Subjekte erscheinen. Sämtliche Lebensbereiche werden dem Wirtschaftlichkeitsdenken unterworfen. Alles muss quantifizier- und berechenbar gemacht werden, was vor allem im Bereich von Dienstleistungen „am Menschen“ zu inhumanen Auswüchsen führt.
Einen besonderen Entgrenzungsschub stellt die Liberalisierung der Finanzmärkte dar. Nachdem das System der festen Wechselkurse zusammengebrochen war, wurde auch die Zinspolitik liberalisiert und dem Markt überlassen. Es kam zu einer zunehmenden Abkoppelung der internationalen Finanzmärkte von der Realwirtschaft und zu einer immer gigantischere Ausmaße annehmenden Spekulation – einer Entgrenzung, die historisch ohne Beispiel ist. Nur eine einzige Regel scheint noch zu gelten: die der unbegrenzten Gewinnmaximierung, auch bei hohem Risiko.
Entgrenzung zeigt sich ebenfalls als Leittendenz des Arbeitswandels. Auf die zeitliche Entgrenzung – flexible Arbeitszeiten bei durchlaufender Produktion – folgte die räumliche Verlagerung zahlreicher Arbeitsvorgänge aus Fabrik und Büro auf PC und Laptop. Nacht-, Schicht- und Wochenendarbeit nehmen zu bei gleichzeitiger Ausdehnung von Teilzeitbeschäftigung, Befristung und Leiharbeit. Das alte Modell lebenslanger Arbeit im erlernten Beruf hat ausgedient, gefordert ist der flexible „Arbeitskraftunternehmer“ (S. 56).
Funk behandelt als eigenen Schwerpunkt die Entgrenzung durch digitale Technik, Vernetzung und Medien. Dabei hat er weniger die anwachsende und in immer kürzerer Zeit zu verarbeitende Informationsflut, sondern vielmehr die Inszenierung und Produktion von Wirklichkeit in den Medien im Blick. Zwischen beiden Arten von „Künstlichkeit“ wird nochmals unterschieden: Inszenierung von Wirklichkeit gab es zwar schon immer (im religiösen Ritus, im höfischen Zeremoniell, in Theater und Film etc.); Betrachter und Teilnehmer konnten jedoch jederzeit zwischen Inszenierung und Alltagswirklichkeit unterscheiden, während die „neuen“ Medien kraft perfekter technischer Simulation dazu tendieren, die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Scheinwelt, Wunschwelt, subjektiv erlebter und äußerer Realität außer Kraft zu setzen. Damit wird nicht mehr die Phantasie als menschliche Eigentätigkeit gefördert, sondern ein Ausweichen in Persönlichkeitsschablonen mit scheinbar unbegrenzten Fähigkeiten. Die Realitätskontrolle, zu der auch Gefühle des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht gehören, bleibt auf der Strecke. Funk weist auf das Suchtpotential mancher PC-Spiele (z.B. „World of Warcraft“) hin und ordnet auch das Komatrinken und extremes Risikoverhalten bei Jugendlichen einem aus dem Ruder gelaufenen Entgrenzungsstreben zu.
Im zentralen Teil des Buches werden unter der Überschrift Der entgrenzte Mensch die Veränderungen geschildert, die sich derzeit nicht nur bei Jugendlichen in postindustriellen Gesellschaften bemerkbar machen. „Leidenschaftlich gerne zu entgrenzen, um Wirklichkeit neu und anders zu konstruieren – das ist es, was den entgrenzten Menschen antreibt und motiviert.“ (S. 108) Primär geht es dabei um die Neukonstruktion der eigenen Wirklichkeit, um Selbstverwirklichung „ohne Rückgriff auf Eigenes“ (S. 113). Authentisch ist derjenige, der sein Selbst ohne Rücksicht auf Vorgegebenes und Gewachsenes „gekonnt“ inszenieren kann. In der aktiven Form ist dieser „ich-orientierte“ Mensch (den man nicht mit einem Egoisten verwechseln sollte) Macher und Produzent seiner eigenen Persönlichkeit, in der passiven Form Nutzer von ich-erweiternden Angeboten. In Partnerbeziehungen muss er sich für den Anderen attraktiv und zum „Erlebnis“ machen, ohne sich emotional zu binden. Im Freundeskreis besteht das Ideal darin, „unverbindlich mit anderen verbunden [zu] sein“ (S. 118) – m.a.W. Kontakt statt Beziehung, Freiheit ohne Bindung. Eigenes zu spüren wird vermieden, indem man Gefühle inszeniert bzw. an inszenierten Gefühlen teilhat. Enttäuschungen bleiben einem damit erspart, Tabus, an die man nicht rühren kann oder will, werden umgangen und belastende Selbstwahrnehmungen, wie z.B. Ohnmacht und Versagen, werden ausgeblendet.
In den letzten Kapiteln weist Rainer Funk auf Grenzen des entgrenzten Menschen hin. Er zeigt auf, wozu Grenzen gut sind und plädiert – im Sinne seiner eingangs getroffenen Unterscheidung – für ein situations- und entwicklungsbezogenes Grenzüberschreiten an Stelle von illusionärer Grenzbeseitigung. Psychische Entwicklung ist nicht denkbar ohne Grenzüberschreitung, wozu allererst das faktische Gebundensein an Grenzen wahrgenommen und anerkannt sein muss. Dies beginnt bei der völligen Abhängigkeit des Säuglings von seinen Bezugspersonen und endet mit dem Ende des Lebens. Menschliche Entwicklungsschritte hängen mit Trennungen und erneuten Bindungen zusammen, innere Strukturbildung beruht auf Introjektion oder Identifizierung aus Beziehungserfahrungen. Derartige Erfahrungen sind häufig schmerzlicher Natur; ohne sie ist jedoch ein Zuwachs an eigenen Fähigkeiten nicht zu erreichen. Die eigene, lebensgeschichtlich erworbene Identität hängt untrennbar davon ab. Wer dagegen meint, unabhängig von solchen Erfahrungen seine Persönlichkeit immer neu „erfinden“ zu müssen, jagt dem Trugbild grenzenloser Freiheit nach und ist gezwungen, mit Psycho- und Soziotechniken seine Begrenztheit zu überspielen. Vielfach sind auch moderne Formen von Süchtigkeit die Folge, wie Konsumismus, Eventsucht und der Griff zu „psychopharmakologischen Mitteln“ (S. 228).
Zwei Spotlights, die den therapeutischen Hintergrund von Funks Aussagen erkennen lassen, seien erwähnt. Die Zeiten, da Psychotherapie die Aufgabe gehabt habe, Menschen von einem „rigiden Über-Ich“ zu befreien, das überall Warnschilder aufbaut und Hemmungen verursacht, seien in unserem Kulturkreis längst vorbei. „Der These, dass es heute in mindestens drei Viertel aller Psychotherapien darum geht, Menschen in die Lage zu versetzen, die vom Leben selbst zugemuteten Grenzen akzeptieren zu können, wird von Insidern kaum widersprochen werden.“ (S. 224) Die zweite Bemerkung stammt vermutlich aus Therapien mit frustrierten Erwachsenen, die vergeblich versuchen, die Folgen exzessiven Medien- und Spielekonsums bei ihren Sprösslingen in den Griff zu bekommen. Die Erziehungsnot zeige sich am sprunghaften Anstieg der „Tyrannenbändigerliteratur“ (S. 186) und am vergeblichen Kampf gegen die gesellschaftlich forcierte Maxime: „Warum sollte man sich einen Wunsch versagen und eine Enttäuschung aushalten und ertragen, wenn es Dopingmittel in Gestalt von entgrenzenden Realitätskonstruktionen gibt, die einem keine Enttäuschungen und Versagungen zumuten?“ (Ebd.)
Diskussion
Die sozialen Berufe, die „mit“ oder „am“ Menschen arbeiten, darunter die Therapeuten, sind in besonderer Weise mit psychischen Veränderungen konfrontiert, die sich im Gefolge wirtschaftlicher, technischer und allgemein gesellschaftlicher Entwicklungen ergeben. In Fortschreibung des Frommschen Konzepts vom Gesellschafts- oder Sozialcharakter wird im vorliegenden Buch dieser Zusammenhang mit Blick auf die Gegenwart fokussiert.
Funk bündelt die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte mit ihrem sozio-psychischen Korrelat unter dem Aspekt der Entgrenzung. Was die Globalisierung der Wirtschaft und die Liberalisierung der Finanzmärkte betrifft, ist seine Beschreibung sicher zutreffend. Auch die Veränderungen in der Arbeitswelt kann man unter den Oberbegriff der „Entgrenzung“ fassen. Hinsichtlich der Auswirkungen im Psychischen ist allerdings anzunehmen, dass die Forderung nach dem „flexiblen Menschen“ (Richard Sennett) nur von einem Teil der Betroffenen per Identifizierung übernommen und zur Grundlage eigener Lebenspraxis gemacht wird, während andere eher darunter leiden, indem sie die Auswirkungen entgrenzender Marktmechanismen als zusätzliche, von außen kommende Begrenzung – z.B. für eine vernünftige Berufs- und Lebensplanung – erleben. Es ist kein Zufall, dass die meisten Beispiele für den „neuen“ Typus von Gesellschafts-Charakter, die der Autor anführt, im Bereich der Talkshows und aller Arten von Events zu finden sind. Als generell vorherrschend kann man diesen Typus deshalb wohl (noch) nicht bezeichnen, eher ist sein Auftauchen und Sichausbreiten im Sinne einer Trendaussage zu verstehen.
Funks Ausführungen konzentrieren sich auf die Auswirkungen des Medienkonsums, insbesondere die steil ansteigende Nutzung von Sozialforen und Kontaktbörsen im Internet und die elektronisch aufgerüstete Spiele-Industrie. Wenn es zutrifft, dass die Medien die herkömmlichen Sozialisationsinstanzen, wie Elternhaus und Schule, inzwischen überflügelt haben, dann muss auch von einem prägender Einfluss auf die Persönlichkeitsbildung ausgegangen werden. Dieser Einfluss ist nicht auf bestimmte soziale Schichten beschränkt. Es trifft zu, dass durchwegs ein das Ich überhöhendes, grenzenlose Möglichkeiten suggerierendes Persönlichkeitsbild, verbunden mit reduzierter sozialer Verbindlichkeit, vermittelt wird. Zwar kann man annehmen, dass die meisten jungen Medienkonsumenten zwischen inszenierter bzw. simulierter Wirklichkeit und der Realität zu unterscheiden wissen; mit wachsendem Medienkonsum zeigen sich jedoch auch die von Funk erwähnten Flucht- und Kompensationsmechanismen. Es gilt also, diese Wirkungen kritisch im Auge zu behalten.
Dem herrschenden Streben nach Entgrenzung setzt der Autor ein Persönlichkeitskonzept entgegen, das die Auseinandersetzung mit Grenzen und das Eingehen und Lösen zwischenmenschlicher Bindungen für unerlässlich hält. Dies kann keinesfalls als Plädoyer für ein heutzutage überholtes „Menschenbild“ abgetan werden. Vielmehr wird damit auf fundamentale Bedingungen gesunder psychischer Entwicklung hingewiesen, die auch unter sich ändernden gesellschaftlichen Verhältnissen in Geltung bleiben.
Fazit
In der sozialpsychologischen Tradition Erich Fromms geht Rainer Funk davon aus, dass es den Menschen, losgelöst von den gesellschaftlichen Bedingungen, nicht gibt. Thema seines Buches ist der Entgrenzungswahn in der globalisierten Wirtschaft, in der Finanz- und Arbeitswelt, insbesondere jedoch in der digitalen Scheinwelt der Medien, durch die eine Veränderung der psychischen Struktur und der zwischenmenschlichen Beziehungen im Sinne unbeschränkten Über-sich-verfügen-könnens und unverbindlichen Verbundenseins gefördert wird. Kehrseite der vermeintlich grenzenlosen Freiheit sind neue Abhängigkeiten. Ein Leben ohne Grenzen macht nicht glücklich, sondern süchtig. Rainer Funk hat ein auf therapeutischen Jargon verzichtendes, aufrüttelndes Buch geschrieben, dem große Verbreitung zu wünschen ist.
Rezension von
Dr. Helmut Johach
Gründungsmitglied der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft; ehemals Dozent an der Evgl. Stiftungsfachhochschule Nürnberg, Fachbereich Sozialwesen
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Zitiervorschlag
Helmut Johach. Rezension vom 18.03.2011 zu:
Rainer Funk: Der entgrenzte Mensch. Warum ein Leben ohne Grenzen nicht frei, sondern abhängig macht. Gütersloher Verlagshaus Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
(Gütersloh) 2011.
ISBN 978-3-579-06756-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10982.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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