Christoph Zimmermann, Reinhard Muhler (Hrsg.): Ressourcen der systemischen Organisationsentwicklung
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Klug, 07.06.2011

Christoph Zimmermann, Reinhard Muhler (Hrsg.): Ressourcen der systemischen Organisationsentwicklung. Lösungsorientierte Ansätze in der Praxis. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2010. 253 Seiten. ISBN 978-3-89670-927-1. 24,95 EUR.
Thema
„Der Umgang mit und die Anpassung an Veränderungen entwickeln sich zu einem Wettbewerbsfaktor für Unternehmen im 21. Jahrhundert. Mit dem kontinuierlichen Wandel müssen Organisationen zunehmend Fähigkeiten ausbilden, um mit diesen schnellen Veränderungen umzugehen. Die Systemtheorie bietet Erklärungsmodelle und Vorgehensweisen an, die ein Handeln in einer komplexen und dynamischen Welt ermöglichen. Das Buch skizziert die Erfahrungen von Beratern, Trainern, Managern und Coachs in der praktischen Anwendung systemisch-konstruktivistischer Ansätze und Methoden.“ (Klappentext)
Herausgeber
Christoph Zimmermann, Dipl.-Ing., absolvierte 2009 seinen MBA in systemischer Organisationsentwicklung und Beratung an der Universität Augsburg. Nach seiner Ausbildung als Zimmerer studierte er zunächst Projektmanagement/Bau an der Fachhochschule Biberach und arbeitete seit 1998 in verschiedenen Branchen als Projektmanager. Seit 2003 berät er Manager zu Prozess- und Organisationsentwicklung. Seine Aufgaben bestehen aus Team- und Einzelcoaching, Moderation von Teamentwicklungs- und Strategieworkshops und Entwicklung von Changearchitekturen. Nebenbei referiert er an der Technischen Universität München an der Carl-von-Linde-Akademie zum Thema „Ethik in der Unternehmenspraxis“. (Verlagsangaben)
Bernhard Muhler, Diplom-Betriebswirt, MBA-Studium in systemischer Organisationsentwicklung und Beratung an der Universität Augsburg und Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule Frankfurt am Main mit den Schwerpunkten Marketing, Betriebsorganisation und Finanzen. Seit 2003 selbstständiger Unternehmensberater mit den Schwerpunkten Organisationsentwicklung, Veränderungsmanagement, Unternehmens-/ Prozessanalysen, Kunden-/ Mitarbeiterbefragungen und Moderation von Workshops sowie Großgruppenveranstaltungen. Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Frankfurt am Main sowie Referent auf zahlreichen Kongressen. (Verlagsangaben)
Inhalt
Der Herausgeberband versammelt Artikel von Martin Alkin, Peter Bauer, Marie-Luisa Capozzi, Sabine Doerfler, Katrin Geßler, Thomas Keppler, Bernhard Muhler, Idzumi Neumärker, Jörg Niemeyer, Kristina Pilz, Stefan Schwarz, Nino Tomaschek, Alexander Wagner, Gabriele Wenning, Gabriele Weyand, Silke Wittkemper, Christoph Zimmermann. Viele der Autoren haben einen MBA-Abschluss in systemischer Organisationsentwicklung an der Universität Augsburg. Allerdings beziehen die Herausgeber eine deutliche Position bezüglich der Wissenschaft: Da die „Organisationen durchweg praktisch ausgelegt“ seien, der wissenschaftlichen Herangehensweise der Praxisbezug fehle und zudem der „blinde Fleck“ der Wissenschaft die „Erfahrung“ sei, beschreiben die Herausgeber das grundlegende Auswahlkriterium der Artikel klar und eindeutig: „In diesem Buch stellen ausschließlich Praktiker ihre Konzepte und Erfahrungen vor und geben dem interessierten Leser Impulse und Anregungen für neue Sichtweisen auf Fragestellungen aus dem organisatorischen Alltag.“ (S. 9)
Im einleitenden Artikel (S. 3 – 17) setzen sich die Herausgeber mit den systemischen Paradigmen auseinander. Es werden Begriffe wie „Komplexität“, „deterministisches Chaos“, „radikaler Konstruktivismus“, „holistische bzw. ganzheitliche Sichtweise komplexer Systeme“ und die „Interdependenz“ deren Elemente geklärt, z. T. in Fußnoten erläutert. Das Gemeinsame aller im Buch vertretener Artikel beschreiben die Autoren wie folgt: „Die in diesem Buch vertretene systemische Organisationstheorie lässt sich durch ein ganzheitliches und systemisches Verständnis von Organisationen charakterisieren.“ (S. 6)
Nach dieser Einführung gliedert sich der Band in drei große Teile:
- Ressourcen der Reflexion: Darüber nachgedacht
- Ressourcen der Praxis: Selbst erfahren
- Ressourcen der Zukunft: Voraus geschaut
Ein Artikel in Teil A ist der Artikel von Jörg Niemeyer, der überschrieben ist: „Reflexionen zur systemischen Praxis“ (S. 21 – 35). Sein Thema stellt er in einem Zitat vor: „Die differenziertesten Theorien, die ausgeklügeltsten Techniken haben keine Wirkung, wenn die Haltung der Berater nicht stimmt.“ (Königswieser und Hillebrand 2007). Die „systemische Haltung“ kontrastiert er mit einer „klassischen“ Beraterhaltung, die er als eine charakterisiert, die das Klientenproblem „quasi schon gelöst“ hat (S. 26). Dagegen sei die systemische Haltung geprägt von Aufmerksamkeit, Nicht-Wissen und der eines „Ambivalenzen-Surfers“. Besonders die „funktionierende Balance zwischen Nähe und Distanz zu finden“, ist ihm sehr wichtig. Ausführlich beschäftigt sich der Artikel mit dem Thema „Neutralität“, einem zentralen systemischen Paradigma. Damit ist „soziale Neutralität“, Konstruktneutralität und Veränderungsneutralität gemeint: „Teil des eingangs genannten Nukleus systemischer Haltung ist die Erkenntnis, dass es keine Objektivität gibt und dass der systemische Berater sich den Kontext genau ansehen (…) und die Bewertungen (‚Das ist ein Problem‘), Erklärungen, Glaubenssätze, Lebensentwürfe, Sichtweisen, Inhalte, Weltbilder etc. der Klienten (…) als Konstrukte von Beobachtern begreifen muss, diese aber keinesfalls als objektive Wahrheiten verstehen darf.“ (S. 30 f)
Eine interessante Frage stellt sich (S. 37 – 47) der Artikel „Anschlussfähigkeit der Systemtheorie im Beratungskontext“. Autor ist Martin Alkin:Warum steht „die Wirtschaft“ der systemischen Beratung so skeptisch gegenüber? Hypothese 1: „Die systemische Beratung hat immer noch bei manchen das Stigma von emotionalen Familiensitzungen oder von irgendwelchen Psychospielen.“ (S. 40) Hypothese 2: Der Unterschied zwischen klassischer Organisationsberatung und systemischer ist, „dass es einem systemischen Berater nicht möglich ist zu beweisen, ob sein Vorgehen sinnvoll ist“ (S. 41). Fazit: „Systemische Berater verkaufen Unsicherheit, finden keine Schuldigen und sorgen beim Wandel noch dazu für höhere Fehlerquoten.“ (S. 44)
Thomas Keppler titelt seinen Artikel mit: „Führung & Management: Notwendiger Wandel für eine wirtschaftliche erfolgreiche Zukunft“ (S. 49 – 61). Er stellt darin das „klassische“ Konzept der Führung („mechanistische Sichtweise“, „Hierarchie“) dem systemischen gegenüber und begründet, weshalb Letzteres in der „schnellen dynamischen Welt“ notwendig ist.
Das Kapitel B (Ressourcen der Praxis: Selbst erfahren) gliedert sich wiederum in zwei Unterkapitel:
- B.1. Selbst erfahren als Berater, Organisationsentwickler, Trainer oder Coach
- B.2. Selbst erfahren als Manager und Führungskraft
Kristina Pilz beschäftigt sich mit dem „Implementierungskonzept zum Coaching von Meistern in einem Produktionsunternehmen“ (S. 65 – 71).Sie versucht, die Notwendigkeit von Supervision für Meister mit der Anforderung an deren Führungs- und Organisationskompetenzen, aber auch mit der zu entwickelnden Teamfähigkeit zu belegen. Eine zentrale Aussage: „Meister, die heute auch den Namen Shop-Floor-Manager tragen, sind immer weniger nur für technische Fragen zuständig, sondern es werden vielmehr ihre Führungsqualitäten gefordert.“ (S. 68) Dafür könne z. B. Teamcoaching verbindlich bei den „Meistertagungen“ eingeführt werden.
In einem sehr langen Artikel setzt sichGabriele Weyand mit „Systems Thinking goes to the Movies. Vom Nutzen der Strukturaufstellung in der Drehbuchentwicklung“ (S. 73 – 97) auseinander. Eine „Strukturaufstellung“ (entwickelt von Insa Sparrer und Matthias Varga), so wird der Systemtheoretiker Dirk Baecker zitiert, nutzt „die Aufstellung von Personen-, aber auch Sachkonstellationen zur Veranschaulichung und Erfahrung von Spannungen, Konflikten und Orientierungen, die sprachlich nur mit einem ungleich höheren Aufwand und mit erheblichen Ansprüchen an die Wahl angemessener Worte und Begriffe zu bewältigen wäre“ (S. 83). Aufgestellte Personen verfügen über „repräsentierende Wahrnehmung“: Sie können über ihre Empfindungen berichten, die sie an der von ihnen repräsentierten Stelle haben. Mit diesem Mittel, so Weyand, kann ein Drehbuchautor seine fiktiven Figuren kennenlernen, er kann Handlungsstränge überprüfen, Stimmigkeit testen etc.
Idzumi Neumärker nennt ihren Artikel (S. 99 – 108) „Möglichkeiten Systemischer Strukturaufstellungen im Diversity Training“. Mit „Diversity Management“ meint man die „gezielte Wahrnehmung, Akzeptanz und Nutzbarmachung individueller Unterschiede“, z. B. zwischen unterschiedlichen Kulturen zum Zwecke höherer Flexibilität und Kreativität, Motivation und Produktivität. Auch hier wird auf dem Hintergrund der Strukturaufstellung von Sparrer und Varga behauptet, diese Technik lasse sich nutzbar machen, um beispielsweise zu höherer Ambiguitätstoleranz zu befähigen.
Der Beitrag von Bernhard Muhler heißt „Unternehmensentwicklung: Der Berater als Architekt“ (S. 109 – 118). Dabei vertritt er die These, dass im Unterschied zum „klassischen Projektmanagement“ das WAS (z. B. die Diagnosen, Befragungen …) „transparent in den Gesamtprozess eingebaut und ersichtlich“ seien. Zum anderen sei das WIE noch nicht festgelegt, sondern werde erst im Laufe des Prozesses konkretisiert (S. 112) An einem Beispiel erklärt der Autor, wie er per Befragung zu Diagnose, Hypothesen und „Ablauf- und Organisationsoptimierung“ (S. 115) gekommen ist.
„Lebendige Organisationen: Über die Lebendigkeit in Unternehmen“ beschreibt Christoph Zimmermann (S. 119 - 133). Danach ist Lebendigkeit in einem Unternehmen, wenn Mitarbeiter sich gegenseitig zuhören, aufeinander achten, wertschätzend zueinander sind, tatkräftig sind, mutig sind etc. (S. 126). Diese Lebendigkeit will der Autor u. a. durch erlebnispädagogische Übungen (z. B. Manager klettern durch den Tagungsraum mit nur einem Seil und zwei Klettergurten) fördern.
Die folgenden Artikel gehören zum Teil „B.2. Selbst erfahren als Manager und Führungskraft“.
Gabriele Wenninglegt die „Möglichkeit eines Einsatzes von szenischen Verfahren“ (S. 137 – 152) anhand von „Systemaufstellungen“ und ihren eigenen Erfahrungen vor einem Jobwechsel dar. Sie schildert ausführlich Aufstellen und Aussuchen der Holzklötzchen nach Größe, Farbe und Form, die den neuen Chef etc. repräsentieren sollten. Sie referiert über ihre Gefühle, ihre Erfahrungen und ihre Schlüsse aus ihrer persönlichen Betroffenheit. Damit will sie demonstrieren, wie unbewusstes Wissen bewusst gemacht werden kann. Ihre Schlussfolgerung: Nicht alle Prozesse lassen sich mit betriebswissenschaftlichen Informationssystemen adäquat darstellen (S. 143)
„Systemtheorie in der Konfliktlösung: Theorie und Praxis“ überschreibt Katrin Geßler den Versuch, einen persönlichen Konflikt zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter systemtheoretisch zu analysieren (S. 145 – 52). Ausgangspunkt ist das Zitat eines Augsburger Psychologieprofessors: „Es muss keinen Einklang der Seelen geben“, was die Autorin auch als Quintessenz ihres Artikels sieht.
Von Alexander Wagner stammt der Artikel „Systemisches Management und Führen in schwierigen Zeiten. Management-Beobachtungen und Interpretationen eines Veränderungs- und Kultur-Projektes“ (S. 153 – 69). Es werden zwei „Change“-Projekte gegenübergestellt: Eines ist gelungen, weil es systemisch denkt, gemeinsame Wirklichkeitskonstruktionen herstellt, „Wir-Bewusstsein“ verkörpert, gemeinschaftliche Strukturen bildet, ein anderes ist gescheitert, weil es „klassisch“ vorgeht, über das Budget steuert, harte Schnitte macht, quantitativ und Top-down operiert. Daraus werden „Leitgedanken“ als Reflexionshilfe entwickelt (z. B. Schaffung einer offenen und wertschätzenden Konfliktkultur, Aufbau der Wir-Intentionalität mittels Supervision).
Der Text von Marie-Luisa Capozzi („Eine Großgruppenveranstaltung im Rahmen eines Kulturentwicklungsprozesses“) beschäftigt sich mit dem Einsatz von Großgruppeninterventionen im Rahmen eines Kulturentwicklungsprozesses und schildert den Ablauf der Veranstaltung mit dem Ziel der Bewusstseinsschaffung und der Partizipation. (S. 171 – 84)
Silke Wittkemper schließlich stellt anhand eines Praxisbeispieles dar, wie sich „Interventionsarchitekturen aufbauen“ lassen (S. 185 – 198). Sie beschreibt die Ausgangssituation, zieht zur Hypothesenbildung alle Informationen, die ihr zur Verfügung stehen, heran, plant Interventionen, setzt die Interventionen um und reflektiert die Gesamtmaßnahme. „Die klassische Strukturierung einer Organisationsentwicklungsmaßnahme in Strategie, Struktur und Kultur war für den Kunden sehr hilfreich“ (S. 189), schreibt sie zu ihrer Vorgehensweise. Dass Architekturen Sicherheit geben, ist der Autorin offenbar so wichtig, dass sowohl Gliederungspunkt 3.4 als auch 3.5 „Architekturen geben Sicherheit“ heißen.
Die folgenden drei Artikel bilden das abschließende Kapitel „C. Ressourcen der Zukunft: Voraus geschaut“.
Nino Tomaschek und Stefan Schwarz schreiben über „Das neue Unternehmen: Open Business. Innovation als conditio sine qua non erfolgreicher Unternehmen der Zukunft“ (S. 201 – 210). Die Autoren beschreiben das, was sie im Rahmen der „Augsburger Schule“ als „Grundprinzipien einer ganzheitlichen Organisation“ erforscht haben. Ziel ist die „Innovationskompetenz“ als eine Voraussetzung für erfolgreiche Unternehmen. Solche Grundprinzipien sind beispielsweise: „Alle Mitarbeiter erzeugen jeden Tag aufs Neue gemeinsam das Unternehmen“ oder: „Alle Beteiligten, egal an welcher Stelle, leisten einen wesentlichen Beitrag zur Gesamtfunktion.“ Auch das Prinzip, dass „Mitarbeiteridentifikation maßgeblicher Erfolgsfaktor für Innovation“ ist, gehört dazu (S. 203).
Sabine Doerfler („Quanten-Supervision“) verbindet Erkenntnisse der Quantentheorie mit der Wirkungsweise von Supervision (S. 211 – 221). Sie will die „Supervision mit dem Blick durch die Brille der Quantenphysik“ betrachten, konkret mit dem „Doppelspaltexperiment“ (das an dieser Stelle nicht erklärt werden soll, denn das, was die Autorin zitiert, bezieht sie für jeden nachlesbar aus http://de.wikipedia.org/wiki/Kopenhagener_Deutung). Das Fazit: „Mithilfe von Supervision kann diese Fähigkeit [uns unserer konditionierten Muster bewusst zu werden und neue Möglichkeiten zu wählen] trainiert und konstant ausgeweitet zu werden.“ (S. 217).
Der letzte Artikel stammt von Peter Bauer und lautet „Die Komplexität und Vielfältigkeit der Nachhaltigkeit“ (S. 223 – 243). Da der Rezensent die Kapitel 2 bis 5 nicht finden kann, bleibt ihm nur, die Zusammenfassung der Herausgeber zu zitieren: „Die Goldgräberstimmung vergangener Jahrhunderte zwingt uns zum Um-denken. Quer- und vordenkende Generalisten sind mehr denn je gefragt. Weshalb und wozu eigentlich? Diese und weitere Fragen thematisiert Peter Bauer in seinem Beitrag.“ (S. 13)
Diskussion
Der Rezensent bekennt sich zu seinem „Nichtwissen“ und ist insofern – zumindest nach Alkin – ein Systemiker: Er weiß nämlich auch nach dem Studium aller Beiträge nicht so recht, was „systemisch“ eigentlich bedeuten soll und hat bislang „Organisationsentwicklung“ naiverweise als etwas gesehen, was mit Gestaltung von „Organisation“ und ihren Strukturen zu tun haben sollte. Fakt ist: Nur ein Teil der Beiträge beschäftigt sich überhaupt mit Organisationen, selbst bei breitester Dehnung dieses Begriffes hat weder die Entstehungsgeschichte eines Drehbuches noch die Selbsterfahrung einer Managerin mittels Holzklötzchenaufstellung am Beginn ihrer neuen Tätigkeit und vermutlich auch nicht die (wenig informative) Schilderung einer Konfliktbewältigung zweier Mitarbeiter etwas mit „Organisationsentwicklung“ zu tun. Was hingegen das „Systemische“ betrifft, ist der Leser hin- und hergerissen: Einerseits wird ihm in mehreren Artikeln vermittelt, dass die Praxis „systemischer Organisationsentwicklung“ das Gegenteil von der einer „klassisch“ angelegten Organisationsentwicklung ist, andererseits wird ihm dann in einem durchaus lesenswerten Artikel (dem von Silke Wittkemper und ähnlich auch von Bernhard Muhler, der immerhin einer der Herausgeber ist) ein nahezu klassisches Beispiel einer Organisationsentwicklung geboten, so wie es in jedem „klassischen“ Lehrbuch stehen könnte. Daneben werden Methoden präsentiert, die man an anderer Stelle als Erlebnispädagogik, Großgruppenveranstaltung oder Supervision kennengelernt hat, die nun aber unter dem Label „systemisch“ firmieren. Man kann nur vermuten, dass diese Methoden nur durch das Label „systemisch“ zu „systemischen“ Methoden werden, und darf hoffen, dass man sie ungestraft auch ohne das Label „systemisch“ weiterverwenden darf.
Letztes Beispiel: Tomaschek (oft zitiert in dem Buch) und Schwarz, die Ergebnisse einer „Augsburger Schule“ referieren (die man wahrscheinlich kennen muss), verwenden nicht den Begriff der „systemischen“ Entwicklung, sondern der „ganzheitlichen“ Organisation, alternativ sprechen sie von „Open-Innovations-Ansätzen“ hin zu einer „Organisation 2.0“. Meinen diese verschiedenen Begriffe alle das Gleiche? Und was hat das alles mit der „Systemtheorie“ (so ja immerhin das Klappentext-Versprechen) zu tun?
Was also ist „systemisch“ an der Organisationsentwicklung? Der „Verkauf“ von Unsicherheit (Alkin) oder doch die relativ klare und durchaus wertende Hypothesenbildung aufgrund der durch die Beraterin allein interpretierten Daten (Wittkemper)?
Mag sein, dass hier der gekränkte Wissenschaftler im Rezensenten spricht, dem man zu Beginn des Buches wegen dessen „blinder Flecken“ den Katzentisch zuweist. Mag aber auch sein, dass es ohne Wissenschaft einfach nicht geht, und es eben nicht genügt, immer die gleichen drei oder vier Quellen (natürlich aus dem Carl-Auer Verlag) heranzuziehen oder – wie ausgerechnet in einem physikalisch angehauchten Artikel – seine Informationen hauptsächlich aus Wikipedia zu beziehen. Mag sein, dass ohne Wissenschaft die Begriffe nicht sauber definiert und die Methoden nicht kritisch reflektiert werden. Mag zudem sein, dass ohne Wissenschaft die viel gepriesenen „Erfahrungen“ in ihrem singulären Erlebnischarakter verhaftet bleiben, weil keine Instanz sie auf ihre allgemeine Verwertbarkeit überprüft. Einiges spricht jedenfalls dafür, dass diesem Buch genau das fehlt, was es um alles in der Welt aus dem Spiel lassen wollte.
Fazit
Dem Buch mangelt es an Systematik und Genauigkeit, die es bräuchte, um für einen Leserkreis außerhalb einer systemischen Fangemeinde interessant zu sein. Die Erlebnisberichte aus der Welt der systemischen Unternehmensberater sind z. T. durchaus flüssig zu lesen, allerdings nur für denjenigen mit Gewinn zu nutzen, der sich von der Vielzahl der geschilderten Praxisbeispiele nicht allzu viel evidenzbasiertes Wissen erhofft.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Klug
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät Soziale Arbeit
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